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SAMMLER/030: Wenn der Comic-Kauf an den Nerven zerrt (Szene WHatcher)


Wenn der Comic-Kauf an den Nerven zerrt




Chuck Rozanski, der geschäftstüchtige Comic-Händler aus Denver, Colorado, und Chef von Mile High Comics, hat weltweit den Ruf, ein Kind des Glücks zu sein, denn vieler Orts ist offenbar der Eindruck entstanden, es gäbe in den USA keine bedeutende Sammlung, die nicht irgendwann einmal durch seine Hände gelaufen wäre. Um dieser Mär vom Hans im Glück und dem Leben im ewigen Luxus den Wind aus den Segeln und dem Comic-Alltag etwas von seiner glorifizierten, verklärten Romantik zu nehmen, berichtete Chuck in seinem Newsletter vom 24. Januar 2006 über einen Ankauf, der in seiner Art gewiss einmalig, im Laufe eines Händler-Lebens allerdings nichts Ungewöhnliches an sich hatte.

Eines Tages erhielt Chuck einen Anruf von einem Verkäufer aus Ohio, der ihm "die Dachboden-Sammlung eines alten Herrn" anbot, bestehend aus rund 150.000 Comics, davon mindestens 50 % aus der Zeit vor 1980. Ein Anruf also wie einer von vielen, die täglich bei Mile High eingehen, nur dass hinter diesem ein Deal zu stehen schien, der eine Bereicherung für das Online-Angebot bedeuten konnte. Also machte sich Chuck mit dem Auto auf den Weg, da sich in der Gegend des Anbieters kein Flughafen befand. Nach 700 Meilen (ca. 1130 km), 50 davon in Dunkelheit über komplett vereiste Strassen, erreichte er den Ort und erlebte eine sehr böse Überraschung. Entweder war der Verkäufer hilflos optimistisch oder aber wahnhaft besessen, denn die 150.000 Comics stammten fast alle aus der Zeit nach 1985, die meisten davon aus den 90ern und einige aus 2000 und 2001, lediglich ca. 1 % stammte aus der Zeit nach 1980. Es zeigte sich deutlich, dass der Posten keineswegs "vom Dachboden" stammte, sondern aus einer der vielen Geschäftsauflösungen, die offensichtlich auf Grund von Fehlspekulationen mit Neuware zustande gekommen war.

Chuck schwoll der Kamm, denn immerhin hatte man ihn unter Vortäuschung falscher Tatsachen quer durch das Land gelockt, was in früheren Zeiten bei ihm zu einem Wutausbruch mit hohem Erinnerungswert geführt hätte. Nur Chucks über die Jahre gereifter Gelassenheit und seinem Leitspruch, aus jeder Lage das Beste zu machen, verdankte es der Anbieter, dass die Situation nicht eskalierte und er zähneknirschend mit einem sogenannten "cherry picking", einer Einzelauswahl, davonkam. Die Comics befanden sich in einer zugerümpelten Garage, unsortiert, meist Cover gegen Cover, teils in Boxen, teils einzeln in alten Regalen, die in Schrumpffolie verpackt gegeneinander standen, und es dauerte fast eine Stunde, bis Chuck sich in diesem Raum halbwegs bewegen und die Ware genauer sichten konnte. Aber es kam noch schlimmer, denn da die Garage unbeheizt war und die Aussentemperatur mollige -5° C betrug, waren die Comics eiskalt, ebenso wie die Hände, die sie berührten. Auf Chucks Bitte hin hatte sich der Verkäufer für den nächsten Tag bei seinem Nachbarn ein mit Propangas betreibbares Heizgerät geliehen, was einerseits höhere Temperaturen erhoffen liess, andererseits aber die Chance von einer Kohlenmonoxyd-Vergiftung ereilt zu werden deutlich erhöhte. Immerhin stieg die Temperatur in der Garage bei offener Tür durch 10-minütiges Heizen pro Stunde auf ca. 5° C, allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, da der Brennstoff verbraucht war.

Die 12 (!) Stunden, die Chuck in jener Garage mit dem Heraussuchen von brauchbaren Comics zubrachte, gehören zu den schlimmsten, die er in seinem Händler-Dasein erlebt hat. Als am Samstag, dem 21. Januar 2006 gegen 21 h die letzte der 80 Longboxen mit insgesamt ca. 25.000 einzeln verlesener Comics verladen war, fühlte sich Chuck endlos müde und erschlagen. Nach einer Mütze voll Schlaf machte er sich am nächsten Tag um 5:30 h auf den 700 Meilen langen Heimweg.

Trotz Schinderei, Strapazen und miserabler Arbeitsbedingungen war es Chuck auf Grund seines unendlichen Optimismus gelungen, aus dem wenig attraktiven Posten eine beträchtliche Anzahl von Marvel und DC Ausgaben herauszufiltern, zwar nicht annähernd dem ursprünglichen Angebot und den dadurch geweckten Erwartungen entsprechend, aber immerhin gemäss seinem Leitspruch aus allem das Beste zu machen. Händler werden über diese Schilderung bestimmt zustimmend mit dem Kopf nicken, wohlwissend, dass hinter jedem Angebot ein Reinfall und somit ein Risiko stecken kann, und vielleicht wird dem einen oder anderen Sammler klar, dass der soeben mit einem Klick im Internet bestellte Comic schon vorher einen langen Weg gegangen ist.


Quelle:
Szene WHatcher - Flyer-Zine der trivialen Szene
und Anzeiger für triviales Entertainment seit 1995
No. 237 vom 14. Februar 2006
Herausgeber:
Joachim Heinkow
Luisenstrasse 32, 12209 Berlin-Lichterfelde
Tel.: 030-768 051 24, 0171-681 74 11
E-Mail: heinkow@gmx.de und mailschon@planet-interkom.de
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