Universität Witten/Herdecke - 14.04.2015
Wie der Kapitalismus unser Verhältnis zu den Dingen verändert hat
In seinem neuen Buch "Das verzehrende Leben der Dinge" blickt Wolfgang Schivelbusch neu auf Gebrauch, Verbrauch und industrielle Fertigung
Der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch betrachtet in seinem neuen Buch "Das verzehrende Leben der Dinge" unser Verhältnis zu den uns umgebenden Waren und Gütern: Wir benutzen Schuhe, Jeans oder Möbel, klar. Aber was tun die Dinge mit uns? Sein Beispiel sind die Schuhe: Wir tragen sie bis der Absatz schief ist, sie verschaffen uns anfangs Blasen oder Druckstellen und später vielleicht das wohlige Gefühl von fußschmeichelnden Schluffen. Schivelbusch stärkt die Rolle der uns umgebenden Dinge, sie sind nicht mehr nur zu unserer Verfügung, sie werden kostbarer, weil sie uns etwas zurückgeben - emotional und rein physisch.
Außerdem es geht ihm um unseren unüberlegten, unempfundenen Verbrauch.
Schivelbusch lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass die Waren und Güter
neben einem Gebrauchswert und einem Tauschwert auch einen emotionalen Wert
für uns besitzen, der sich aus dem Umgang, dem Gebrauch des Produktes
ergibt. Und genau da, sagt er, liegt das Problem, weil uns die
industrielle Massenproduktion mit Waren für kleines Geld zuschüttet und
diese Auseinandersetzung mit dem Gebrauchsgegenstand schlicht entfällt
oder uns überfordert. Auf die Spitze getrieben sieht er seinen Ansatz in
Jeans, die schon bei der Fertigung künstlich gealtert werden oder gar
Risse bekommen. "Die Gebrauchsspuren, die zu hinterlassen in früheren
Zeiten dem individuellen Konsumenten vorbehalten war, werden heute in die
serielle Fertigung z.B. künstlich ausgeblichener und abgetragener Jeans
einbezogen."
In dieser Massenfertigung sieht er die Ursache für unsere mangelnde Sensibilität gegenüber den Dingen. "Der von einer Person hergestellte Gegenstand war so individuell wie sein Produzent und sein Konsument. Diese Symmetrie ging mit der Industrialisierung gleich doppelt verloren: qualitativ, indem die dem Ding eingeprägte persönlich-individuelle Spur ("Handschrift") des Produzenten durch die Uniformität der Werkzeugmaschine ersetzt wurde. Quantitativ durch die Vervielfachung des Einzeldings in der Serie", schreibt Schivelbusch. Schon die Fülle an Produkten verhindere, dass der Konsument zu jedem Einzelprodukt eine Beziehung aufbauen kann. Eine Reizüberflutung ist die Folge und Schivelbusch zitiert Forscher der vorvergangenen Jahrhundertwende wie Max Nordau mit seinem Konzept der Neurasthenie. Demzufolge sei dem Menschen eine gewisse Menge Nervenenergie von Geburt an mitgegeben, der durch Reizüberflutung und Beschleunigung der Moderne immer schneller aufgebraucht werde. Das Leben werde so buchstäblich ein "nervenaufreibender" Prozess. Nordau prophezeit denn auch für das Ende des 20. Jahrhunderts ein "Geschlecht, dem es nicht schaden wird, täglich ein Dutzend Geviertmeter Zeitungen zu lesen, beständig an den Fernsprecher gerufen zu werden, an alle fünf Weltteile zugleich zu denken, halb im Bahnwagen oder Flugnachen zu wohnen. ... Es wird inmitten der Millionenstadt Behagen zu finden wissen und mit seinen riesenstarken Nerven den kaum zu zählenden Anforderungen des Lebens ohne Hast und Aufregung entsprechen können."
Wolfgang Schivelbusch hat das Buch im Rahmen eines DFG-Forschungsprojekts an der Universität Witten/Herdecke, am Lehrstuhl von Prof. Dr. Birger P. Priddat geschrieben. "Wir verstehen unsere Wirtschaftsgesellschaft nicht, wenn wir uns nur auf die Behauptungen der Ökonomie verlassen. Wir brauchen, für eine Neubeschreibung der Ökonomie die Betrachtungen aus anderen Wissenschaften, um die eigenen blinden Flecke zu füllen. Denn die Ökonomie ist nicht nur wohlstandsfördernd, sondern auch kulturell eingreifend. Die Ökonomie selber ist sich dieser kulturellen Tiefenstrukturen kaum bewusst. Es bedarf solcher historischen und kulturellen Analysen, um zu verstehen, wie die Ökonomie in unser Leben eingreift", ordnet Priddat die Analyse in die Wirtschaftstheorie ein.
Wolfgang Schivelbusch:
"Das verzehrende Leben der Dinge",
Hanser 2015,
ISBN 978-3-446-24781-9, 19,90 €
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Witten/Herdecke, Kay Gropp, 14.04.2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2015
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