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MEDIEN/142: "Unbewältigte Vergangenheit?" (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2008, Januar - März 2008

"Unbewältigte Vergangenheit?"
Der Umgang mit Erinnerung in Literatur und Film der 1960er Jahre in Ost und West

Von Ulrike Schneider


Der Workshop "'Unbewältigte Vergangenheit'? Faschismus und Krieg in Literatur und Film 1960" des Instituts für Germanistik fragte im November 2007 nach der Dominanz von Erinnerungstexten um 1960 in beiden deutschen Staaten sowie in Polen und Norwegen.


Für die Bundesrepublik bildete das Jahr 1960 in mehrerer Hinsicht einen Wendepunkt im Umgang mit der jüngsten deutschen Geschichte. Nicht nur historische Ereignisse, wie die Einrichtung der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen 1958, die Kölner Synagogenschändung 1959 oder der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 warfen neue Fragen an Vergangenheit und Gegenwart auf. Mit der Veröffentlichung von Heinrich Bölls "Billard um halb zehn" und Günter Grass' "Blechtrommel" (1959) war der Zeitraum in literarischer Hinsicht ebenfalls "aufarbeitend" geprägt. Im Zentrum der einzelnen Diskussionen des Workshops stand dabei vor allem die Frage, inwiefern die deutsche Nachkriegsgeschichte nicht in Form von Kriterien der Trennung, sondern verknüpfenden Bezugspunkten dargestellt werden könne.

Ein Ansatz für eine vergleichende Betrachtung bildete das Kompositionswerk "Die jüdische Chronik", die 1960/61 auf Initiative des Komponisten Paul Dessau entstanden ist. Das heute fast vergessene Werk verwob nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, Geschichte und ihre Deutung miteinander, sondern vereinte auch ost- und westdeutsche Komponisten in der künstlerischen Gestaltung. Die Aufführung des Stückes fand infolge des Mauerbaus 1961 nicht mehr statt. Ebenso überraschend war der Blick auf den ostdeutschen Bestseller "Nackt unter Wölfen" über den antifaschistischen Widerstandskampf am Beispiel der westdeutschen Rezeption. Das Gutachten des damaligen Lektors vom Rowohlt Verlag, Peter Rühmkorf, beschrieb den Roman als "klischeehaft", der in einer "Schwarz-Weiß-Färbung" der Häftlinge und des SS-Personals stecken bliebe. Trotz dieser negativen Kritik wurde der Roman nicht nur in einer Auflage von 35.000 Exemplaren gedruckt, sondern von Marcel Reich-Ranicki positiv besprochen. Während in der DDR-Rezeption der Roman zum Instrument gegen den "faschistischen Nachfolgestaat BRD" avancierte, stand in der westdeutschen Rezeption die innere Konfliktdarstellung zwischen den Häftlingen im Vordergrund, die als Kritik am eigenen Staat gelesen wurde.

Eine Zusammenfassung der besonderen Art und gleichzeitig die anschaulichste Wirkung bot der Filmabend. Am Beispiel des Filmhelden Macke Prinz zeigte der nach dem Drehbuch von Wolfgang Neuss entstandene Film "Wir Kellerkinder" (1960) in wunderbar satirischer Weise den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Demgegenüber steht die Aufdeckung einer nur rein äußerlich stattgefundenen Erneuerung des "anderen" Deutschland. Auch hier wurden, zwar nicht im gleichen Umfang wie auf der westdeutschen Seite, Mitläufer integriert. Der Verweis auf die geschichtliche Wirklichkeit führt den Filmhelden in eine psychiatrische Anstalt. Der Versuch, aus dieser wieder entlassen zu werden, ist an die "richtige" Auslegung der gesellschaftlichen Wirklichkeit gebunden. Dieser kann Macke sich nicht beugen und verbleibt hinter geschlossenen Türen. Allein hier lässt sich von staatlicher Seite die Wahrheit bändigen.

Der Workshop machte sichtbar, dass sich der Ansatz, die osmotischen Prozesse - einen Begriff, den die Literaturwissenschaftlerin Simone Barck prägte - zwischen beiden deutschen Staaten in den Vordergrund zu stellen, als fruchtbar erwies. Damit wurde der Blick nicht nur auf bisher marginal behandelte Texte gelenkt, sondern auch neue Fragen zum Umgang mit der deutsch-deutschen Vergangenheit gestellt. Die Beziehung zum europäischen Umgang mit Erinnerungen ist dabei stets einzubeziehen, da erst in diesem Vergleich herausgestellt werden kann, was "typisch" ost- und westdeutsch beziehungsweise deutsch-deutsch ist. Das Beispiel des polnischen Films "Die Passagierin" (1961-1963) von Andrzej Munck zeigte, dass die Darstellung von Vergangenheit und Erinnerung ein wichtiger Bestandteil der eigenen nationalen Aufarbeitung war und nicht nur neue, filmische Elemente hervorbrachte, sondern den Blick kritisch auf vergangene und gegenwärtige Opfer- und Täterdiskurse richtete.

Der Workshop war Teil einer dreiteiligen Veranstaltungsreihe, die im Herbst dieses Jahres mit der Frage nach Erinnerung um 1970 fortgesetzt wird. Gewidmet war die jetzige Tagung der im Juli verstorbenen Simone Barck. Sie hatte mit ihrem 2003 erschienenen Buch "Antifa-Geschichte(n)" die inhaltliche Planung entscheidend geprägt.


Ulrike Schneider, Stipendiatin Graduiertenkolleg "Makom: Ort und Orte im Judentum"


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2008,
Januar - März 2008, S. 38
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2008