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MEDIEN/144: Moderne Wissensgesellschaften und die Versprechen des Internets (UNESCO heute)


UNESCO heute 1/2008 - Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission

Moderne Wissensgesellschaften und die Versprechen des Internets

Von Abdul Waheed Khan


Die rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien während der letzten Jahrzehnte hat die Voraussetzungen für den Aufbau moderner Wissensgesellschaften grundlegend verändert. Das Internet scheint sich als Medium par excellence zur globalen Informationsverbreitung und Kommunikation herauszubilden - aber trägt es tatsächlich dazu bei, Wissensgesellschaften aufzubauen und zu fördern? Welchen Chancen und Herausforderungen sehen wir uns gegenübergestellt, und wie kann die UNESCO an der Gestaltung moderner Wissensgesellschaften mitwirken?


Das letzte Jahrhundert war vom Siegeszug verschiedenster Technologien zur Informations- und Wissensverbreitung geprägt, wie dem Telegraph, dem Telefon, dem Radio, dem Computer. Doch erst im letzten Jahrzehnt kam ein gänzlich neuartiges Medium auf, das die gesamte menschliche Kommunikation in noch nie dagewesener Art und Weise revolutionierte: das Internet. Am 30 April 1993 wurde das World Wide Web offiziell freigegeben. Damit hatte sich das Internet als Massenmedium durchgesetzt. Es ermöglichte eine beispiellose Integration verschiedenster Dienstleistung in ein und dieselbe Technik und markierte den Beginn einer neuen Ära der Kommunikation und Wissenvermittlung. Schon damals bezeichnete Tim Berners-Lee, der Erfinder des World Wide Web, das neue Netzwerk als "Medium für die menschlich Kommunikation: Kommunikation durch Austausch von Wissen" (www.w3.org/1998/02/Potiential.html) Der Aufstieg des Internets rief enthusiastische Reaktionen von Computerspezialisten, Theoretikern und Politikern hervor. Aber es waren vor allem die normalen Nutzer, die mit Begeisterung die neue Technologie des WWWs mit seinem immer größeren Netz aus untereinander verlinkten Dokumenten, Bildern und anderen Quellen und die weiteren Dienste des Internets, wie E-Mail, gemeinsamer Datenzugriff und Instant-Messaging, aufnahmen. Die Zahl der Internetnutzer stieg von ein paar Vereinzelten zu Beginn der 1990er Jahre auf bereits 16 Millionen im Jahr 1995 und über 300 Millionen zum Jahrtausendwechsel. Laut Internet World Statistics beträgt die Anzahl der Internetnutzer inzwischen über 1,3 Milliarden, das entspricht einem Fünftel der Weltbevölkerung.


Das Mandat der UNESCO

Die UNESCO erkannte frühzeitig das enorme Potenzial des neuen Mediums. Aufgrund der vereinfachten Möglichkeit, neue Informationen zu produzieren, zu bewahren und zu verbreiten, erschien das Internet als das ideale Mittel zur Umsetzung des UNESCO-Mandats, "den freien Austausch von Ideen durch Wort und Bild zu erleichtern" und durch "freien Meinungs- und Wissensaustausch die Beziehungen zwischen den Völkern zu entwickeln und zu vertiefen" (Verfassung der UNESCO, Präambel und Artikel I.2). Die hohe Interaktivität des neuen Mediums erlaubte nicht nur deutlich mehr Nutzern, auf Inhalte zuzugreifen und an deren Gestaltung mitzuwirken, als das bei traditionellen Medien der Fall war. Es bot vor allem die Möglichkeit, die ganze Welt miteinander zu vernetzen. Dies ließ die Vision eines universellen Ideen- und Wissensaustauschs zwischen Menschen aller Völker der Welt, ungeachtet ihrer Sprache und Kultur, ihres Alters und sozialen Status', in greifbare Nähe rücken.

Formale Anerkennung erhielten diese Versprechen während des UN-Weltgipfels zur Informationsgesellschaft (World Summit on the Information Society), der 2003 in Genf und 2005 in Tunis abgehalten wurde. Aus der Überzeugung heraus, dass jeder, und ganz besonders Minderheiten und Randgruppen, von den Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologien und speziell des Internets profitieren können, bestand allgemeiner Konsens über den dringenden Bedarf, den Zugang zu Informationsinfrastrukturen und -technologien zu verbessern. Neben der Zugangsfrage sahen die Vertreter der am Weltgipfel teilnehmenden Staaten die größte Herausforderung jedoch darin, die Kompetenzen auszubilden, die zur Nutzung dieser Technologien nötig sind. Zudem sollten sowohl die Sicherheit und das Vertrauen in diese Technologien verstärkt werden, als auch der Respekt vor der kulturellen Vielfalt im Netz gewährleistet und die ethischen Dimensionen der Informationsgesellschaft stärker berücksichtigt werden.


Die Informations- und Wissenskluft

Genau fünfzehn Jahre nach der offiziellen Einführung des World Wide Web und einige Jahre nach dem Weltgipfel liegt noch ein weiter Weg bis zum gleichen Zugang zu Information und Wissen in allen Ländern vor uns. Das Potenzial des Internets als weltweites Kommunikations- und Informationsmedium, das die Verbreitung von Wissen vereinfacht, ist noch lange nicht überall verwirklicht.

Dabei konnten wir in den letzten Jahren immer häufiger feststellen, wie stark die globale Entwicklung von der Fähigkeit abhängt, Information und Wissen effektiv zu produzieren, zu verbreiten und zu nutzen. Jenseits der unbestreitbar wichtigen Rolle der Technologien sind Informationsmanagement und Wissenserwerb von wachsender Bedeutung für die globale Wettbewerbsfähigkeit jedes Landes.

Viele Entwicklungsländer im asiatischen Raum und einige afrikanische Länder holen jetzt erst auf. Sie sind auf dem Weg, ihren Bürgern einen besseren Zugang zu neuen und alten Medien und damit den Empfang und die Weitergabe von Informationen zu ermöglichen. Andere Länder allerdings geraten aufgrund des mangelnden Zugangs zu Information, Wissen und technischem Know-how immer stärker ins wirtschaftliche Abseits.

Die Kluft zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern besteht weiterhin und geht weit über den schlichten Zugang zu Informationstechnologien und zum Internet hinaus. Sie betrifft vielmehr alle vier Elemente, die für die UNESCO Bausteine von Wissensgesellschaften darstellen: Wissensaufbau, Wissenserhaltung, Wissenserwerb und Wissensaustausch. Das UNESCO-Konzept der Wissensgesellschaften ist noch lange nicht Wirklichkeit geworden, zumindest in den meisten Teilen der Welt.

Dieses Konzept beruht auf einer solidarischen, pluralistischen und ganzheitlichen Sichtweise. Es beinhaltet eine klar entwicklungsorientierte Perspektive und berücksichtigt die Komplexität und Dynamik der aktuellen Globalisierungsprozesse. Es beruht auf unserer Überzeugung, dass das Tempo globaler Entwicklungsprozesse davon abhängt, inwieweit wir Wissensklüfte vermindern können. Die rasanten Veränderungen in der Welt der Informations- und Kommunikationstechnologie, besonders neu aufkommende Technologien wie Handy oder Breitband, können uns dabei helfen.

Weltweit zählen wir heutzutage über drei Milliarden Besitzer von Mobiltelefonen und über eine Milliarde Internetnutzer. Beflügelt von den Kombinationsmöglichkeiten digitaler Technik haben sich alle gängigen Netzwerk- und Servicetechnologien drastisch fortentwickelt, indem sie verschiedene Dienste für Video-, Audio- und Datenübertragung mit der Möglichkeit zur Sprechverbindung kombinierten. Damit ist der Weg frei für die erste Welle von wirklich allumfassenden Kommunikationssystemen, die uns weit über die klassischen, auf Mensch-Maschine-Interaktion beruhenden Netzwerksysteme hinausbefördert.

Parallel dazu gewinnen Netzwerkgemeinschaften immer mehr an Bedeutung. So erlebt die zweite Generation der Web-Technologie, das Web 2.0, einen raschen Aufstieg. Mit Hilfe von Plattformen wie Wikipedia interagieren Internetnutzer miteinander und unterstützen sich gegenseitig im Aufbau von neuem Wissen, indem sie beständig Informationen austauschen, sammeln und korrigieren. In virtuellen sozialen Netzwerken entstehen neue Formen des Datenaustauschs und der kreativen Zusammenarbeit.


Neue Herausforderungen

Neben den großen Vorteilen bringt der technische Fortschritt jedoch neue Herausforderungen mit sich, denen sich auch die UNESCO stellen muss. Aufgrund der immer höheren Komplexität des Internets und auch der anderen Informations- und Kommunikationsmedien wächst der Bedarf an Kompetenzen, die wir brauchen, um von diesen Technologien profitieren zu können. Während meist die Frage des Zugangs zu digitalen Medien im Fokus steht, konzentriert sich die UNESCO eher auf den Inhalt der Informationsmedien und die Fähigkeiten der Menschen, Information und Wissen effizient zu nutzen.

Benachteiligte Völker und Gemeinschaften müssen einerseits dazu befähigt werden, Information zu schaffen und langfristig zu bewahren. Andererseits benötigen sie das nötige Know-how für die Nutzung von Technologien, die ihnen erlauben, ihre eigenen und die von anderen bereitgestellten Informationen abzurufen. Erst die effektive Verwendung von Informationen führt zum Aufbau von neuem Wissen und damit zu gesellschaftlichem Fortschritt. Aus diesem Grund wirkt die UNESCO an Aktivitäten mit, die den Nutzen des Internets erhöhen sollen. So unterstützt sie beispielsweise im Rahmen des "Internet Governance Forum" (www.intgovforum.org) den politischen Dialog über die ethischen Dimensionen des Internets, die Verwirklichung der Vielsprachigkeit im Internet und die Verbesserung von Nutzungsbedingungen und -kompetenzen.


Die "Kronberger Erklärung"

Im Sommer 2007 diskutierte eine Expertengruppe auf einem von der UNESCO und der Deutschen UNESCO-Kommission organisierten Treffen in Kronberg über die Zukunft von Wisenserwerb und Wissensvermittlung in den nächsten fünfundzwanzig Jahren. Die Teilnehmer hielten fest, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien enorme soziale Veränderungen mit sich bringen. Deshalb betont die "Kronberger Erklärung" (www.unesco.de/kronberg_declaration.html) die Chancen der Bildung durch das Internet. Es geht darum, die Informations- und Kommunikationstechnologien in den Dienst der modernen Wissensgesellschaften zu stellen, in denen das Ziel einer Bildung für alle Menschen im Mittelpunkt steht.

Es ist zu vermuten, dass Wissenserwerb und -weitergabe in Zukunft immer stärker von technischen Entwicklungen geprägt sein werden und Informations- und Kommunikationsprozesse daher weiterhin enormen Veränderungen unterworfen sein werden. In den kommenden Jahrzehnten wird die Bedeutung von Faktenwissen abnehmen, während es immer wesentlicher wird, sich in einem komplexen System aus Daten zurechtzufinden, relevante Informationen sowohl finden als auch bewerten und kreativ nutzen zu können. Tim Berners-Lee sah schon vor über zehn Jahren voraus: "Das Netz wird erhebliche Auswirkungen auf die Märkte und Kulturen der ganzen Welt haben: Intelligente Auftraggeber werden die Märkte entweder stabilisieren oder destabilisieren; die Distanzverkürzungen werden Kulturen entweder homogenisieren oder polarisieren; der Zugang zum Internet wird uns entweder auseinander treiben oder einander näher bringen; der Pfad wird uns entweder zu Neid und Hass führen oder zu Frieden und Einvernehmen."

Ich habe großes Vertrauen, dass wir fähig sind, den zweiten Pfad zu wählen und alle Möglichkeiten des Internets zu nutzen, um die "Wissenskluft " zwischen den Ländern zu schließen und die Grundlagen für moderne Wissensgesellschaften überall in der Welt zu schaffen.


Abdul Waheed Khan ist Beigeordneter Generaldirektor der UNESCO für Kommunikation und Information.


Die "Informationskluft" zwischen Industriestaaten und Entwicklungsländern:

• Nur sechs Prozent der afrikanischen Bevölkerung besitzen ein Fernsehgerät, nur jeder fünfte Afrikaner besitzt ein Radio.

• 80 Prozent der Bevölkerung in Europa haben Zugang zu nationalen Zeitungen, während es in Afrika, Lateinamerika und vielen Teilen Asiens weniger als 25 Prozent sind, in manchen Ländern nicht einmal zwei Prozent.

• In vielen Entwicklungsländern liegt der Anteil der Bevölkerung, der Zugang zum Internet hat, bei weniger als einem Prozent.


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Quelle:
UNESCO heute, Zeitschrift der Deutschen UNESCO-Kommission
Ausgabe 1/2008, S. 5-9
Herausgeber: Deutsche UNESCO-Kommission e.V.
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UNESCO heute erscheint halbjährlich.
Bezug frei.


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Juli 2008