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MEDIEN/155: Mit der Medienschelte sollte man vorsichtig sein (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 01/2010

Auf dem Weg zur Verblödung?
Mit der Medienschelte sollte man vorsichtig sein

Von Elisabeth Hurth


In jüngster Zeit haben Bücher Furore gemacht, die Deutschland auf dem Weg in die vor allem vom Fernsehen betriebene Verblödung sehen und vor weiterem kulturellen Verfall warnen. Es empfiehlt sich allerdings, genauer hinzuschauen: Die fragwürdigen medialen Angebote verweisen auf reale Bedürfnisse und gesellschaftliche Problemlagen. Menschen sind nicht einfach hilflose Mediennutzer.


Jeder kennt sie: den Hauptschüler, der für einfachste Rechenaufgaben den Taschenrechner bemühen muss, den Abiturienten, der Hamburg in der ehemaligen DDR vermutet, und den Studenten, der Friedrich Schiller zu einem Mitglied der SAT1-Comedy "Schillerstraße" erklärt. Folgt man den zurzeit marktgängigen kulturpessimistischen Diagnosen von prominenten Autoren wie Michael Jürgs und Alexander Kissler, dann sind diese "Fälle" symptomatisch für die fortschreitende Verblödung des Volkes. Wer sich entspannt zurücklehnt nach der Devise "Die Blöden sind immer die anderen", und wer aus "überlegener" Distanz auf die Abgründe der Dummheit hinabschaut, sei gewarnt.

Jeder läuft dieser Tage Gefahr, zu verblöden oder gar gezielt verblödet zu werden, so behauptet zumindest Thomas Wieczorek in seinem Pamphlet "Die verblödete Republik" (Knaur, München 2009). Man zeigt heute kein Interesse mehr an wichtigen Fragen aus Politik und Wirtschaft, ist aber fasziniert von den Möglichkeiten der Schönheitsindustrie. Man beschäftigt sich nicht mehr mit aktuellen Problemen einer nach wie vor maroden Finanzwelt, verfolgt aber gebannt jedes neue Gerücht um den Tod von Michael Jackson.


Alles scheint den Bach hinunterzugehen

Auch die "gebildeten" und zivilisierten Mitglieder der Oberschicht, so beobachtet Michael Jürgs ganz ähnlich in seiner polemischen Streitschrift "Seichtgebiete. Warum wir hemmungslos verblöden" (C. Bertelsmann, München 2009), sind nicht gegen den Absturz in die Verflachung gefeit. Das "Bedürfnis nach der Seichtigkeit des Seins" ist für Jürgs ein schichtenübergreifendes "gesamtdeutsches" Phänomen. Seichtgebiete dominieren überall - auch dort, wo man sie nicht vermutet. Selbst die mit einem Kultur- und Bildungsauftrag ausgestatteten öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten begeben sich mit schlüpfrigen Talkshows und abgekupferten "Superstar"-Formaten ins Seichte, so der Vorwurf von Alexander Kissler in seiner medienkritischen Studie "Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet" (Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2009).

Dass öffentlich-rechtliche Fernsehsender wie das ZDF (auch nach dem Abgang von Johannes B. Kerner) mittlerweile komplett "kernerisiert" auf der seichten Unterhaltungswelle mitschwimmen, kommt nicht überraschend, meint Thomas Wieczorek, denn auch die Vertreter der Medienzunft erliegen zunehmend der um sich greifenden Verblödung. So berichtet Wieczorek - nicht ohne Häme - von einer Journalistin, die jüngst Willy Brandts Kampfgefährten Egon Bahr um einen Termin mit Herbert Wehner bat. "Der spricht gerade mit Franz Josef Strauß", vertröstete Bahr die Garantin der Pressefreiheit, die sich höflich mit einem "Dann versuche ich es später noch mal" verabschiedete.


Dass solche Auswüchse von Geschichtslosigkeit und fehlendem Allgemeinwissen keine Einzelfälle darstellen, sondern vielmehr untrügliche Anzeichen für die Verblödung einer ganzen Generation sind, unterstellen Anne Weiss und Stefan Bonner in ihrem Bestseller "Generation Doof" (Bastei Lübbe, Bergisch Gladbach 2009, 2. Auflage). Diagnose: "Die Dummheit geht um in Deutschland." Vor allem in der jungen Multimedia-Generation, die ihre Bildungsstandards von Bohlen, Britney und Big Brother bezieht, stoßen Weiß und Bonner immer wieder auf "BILDungsbürger", die Polen gleich neben Borkum beginnen lassen und überzeugt sind, dass die UNO ein Kartenspiel ist.

Im Land der Dichter und Denker scheint also alles den Bach runterzugehen. Bleibt die Frage nach den Ursachen, sprich "Schuldigen", und die sind schnell ausgemacht. Alexander Kissler klagt das Fernsehen als größten und zugleich wirkungsvollsten "Blödmacher" unserer Tage an. Kisslers Reisen in die Welt dieses Mediums haben ihm geradezu erschütternde Einsichten und Erfahrungen beschert: Das Fernsehen setzt mit Tränendrüseneffekten den Verstand außer Kraft, erhebt Krawall- und Pöbel-Shows zum "Kulturgut" und ordnet Inhalte samt und sonders dem Sensationalismus und der Gefühlsduselei unter. Fazit: Das Fernsehen senkt unser geistiges Niveau konsequent auf Null.


Dass mittlerweile selbst das öffentlich-rechtliche Fernsehen zum geistigen Sinkflug beiträgt, ist auch in Michael Jürgs Streitschrift Anlass für eine Tirade gegen das "Verblödungsinstrument" Fernsehen. Wie Kissler lässt Jürgs kein gutes Haar an einem Medium, das mit "talentlosen Trotteln und tapsenden Vollidioten, mit kultigen Knallchargen und furchtlosen Zotenlümmeln" Quote mache. Im Gegensatz zu Kisslers medienkritischem Rundumschlag holt Jürgs Streitschrift jedoch noch weiter aus. Jürgs prangert nicht nur die wachsende Verflachung und Verblödung an. Er beklagt vor allem, dass die "Seichtheit" heute ganz neue Dimensionen angenommen habe.


Was die Blödmacher bewirkt haben

Die Medien sind für Jürgs nicht nur unmittelbarer Verursacher des intellektuellen Niedergangs. Was sich im öffentlichen Raum immer deutlicher zeigt, ist vor allem auch eine hemmungslose Verrohung und Verwahrlosung, die laut Jürgs von Medien wie dem Fernsehen bedient, wenn nicht gar gefördert wird. Wehmütig-fatalistisch trauert Jürgs vergangenen Zeiten nach. Früher interessierte man sich für "hohe" Kultur, heute befriedigt das, was "geil" und "cool" ist. Früher erbaute man sich am Schönen, heute macht das "Obszöne" an. Tausende, so beobachtet Jürgs angeekelt, versammeln sich dieser Tage in Stadien, um sich von dem geistigen Tiefflieger Mario Barth unterhalten zu lassen, der mit Belustigung auf Fäkal-Niveau aufwartet.

Der Siegeszug der rasant wachsenden "geistigen Unterschicht" scheint unaufhaltsam. Jürgs erzählt drastisch und in allen Einzelheiten von Menschen, die, ihren medialen Vorbildern folgend, Sexgelüste vor laufender Kamera ausleben, Klowitze zu gängigen Gesprächsthemen machen und in aller Öffentlichkeit grölen, rülpsen und pupsen.

Jürgs warnt eindringlich vor den noch gar nicht absehbaren Folgen dieser beklagenswerten Entwicklungen und beschwört ein Bedrohungsszenario herauf: Die Grundlagen der Demokratie seien durch die alles durchdringenden "Seichtgebiete" gefährdet. Mehr noch, die rasante Ausbreitung der "Seichtgebiete" habe bereits unumkehrbare Fakten geschaffen: "Die Blödmacher", so Jürgs, haben unsere Gesellschaft "grundlegend verändert, indem sie diese tieferlegten so wie einen Opel Manta". Kurzum: Jürgs will uns glauben machen, dass die Medien und ihre verblödenden Handlanger den Untergang des geistigen Abendlandes endgültig besiegelt haben.

Stefan Bonner und Anne Weiss, die in "Generation Doof" massive "geistige Totalschäden" diagnostizieren, warnen ganz ähnlich vor den desaströsen Folgen der "großen Intelligenzschmelze". Sie zeigen wie Jürgs, dass die "Generation Doof" nicht mehr weiß, was sich gehört. Mit ihrer "Scheißegal-Haltung" verletzt sie geltende Benimmregeln, sei es bei einer Bewerbung oder am Arbeitsplatz selbst. "Lässig-naiv" lebt sie in einer medialen "Traumwelt", die alles dem "Turbo-Spaß" unterordnet und mit den Anforderungen der realen Welt nichts zu tun hat. Orientierungslos und zu "Medienjunkies" verkommen ist die "Generation Doof" erziehungs- und beziehungsunfähig und weicht dem "Ernst des Lebens" aus.


Digitale Verdummung?

Die Journalistin Susanne Gaschke stimmt in dieses Klagelied ein. Ihr fassungsloser Blick auf das, was die Medien angerichtet haben und noch anrichten werden, gilt vor allem den gefährlichen Nebenwirkungen der Digitalisierung. Wie ihre Mitstreiter gegen die wachsende Verblödung unserer Nation geht auch Gaschke in ihrer Studie "Klick. Strategien gegen die digitale Verdummung" (Herder, Freiburg 2009) von der These aus, dass Dummheit sich nicht nur in Unwissenheit und fehlender Allgemeinbildung zeige, sondern alle Lebensbereiche erfasse und durchsetze. Ursächliches Verdummungsinstrument ist für Gaschke das Internet. Gaschke sieht sich hier von Warnungen bestätigt, die in Amerika immer lauter werden, dem Land, in dem die Digitalisierung am weitesten vorangeschritten ist.

Die mit Google aufgewachsene Generation, so diagnostiziert der Bestseller-Autor Mark Bauerlein, ist die tatsächlich dümmste, die Amerika je hervorgebracht hat. Bauerlein beschreibt in seiner apokalyptisch aufgeladenen Studie "The Dumbest Generation" (Tarcher, New York 2008) eine vollkommen digitalisierte Welt, die geschichts- und sprachlose Nutzer generiert. Die amerikanische "Generation Doof" kennt die eigene Politik und Geschichte nicht mehr, sie kann weder Zusammenhänge herstellen noch über Hintergründe gesellschaftlicher Ereignisse Auskunft geben, sie ist unfähig zur Arbeitsorganisation und lässt auch ansonsten jeglichen Ernst und jegliche Anstrengung vermissen. Das Lesen von Büchern hält diese websozialisierte Generation für Geld- und Zeitverschwendung und vertraut stattdessen auf die schnellen, bequemen Lösungen und Angebote des Internets.


Susanne Gaschke setzt in ihrer Studie genau an diesem Punkt an. Sie beklagt, dass hierzulande immer weniger gelesen und vorgelesen werde und die Lesefähigkeit entsprechend stetig abnehme - mit fatalen Folgen. Das Lesen von Büchern, so Gaschke, steigert nicht nur die Konzentrationsfähigkeit, es fördert auch das Einfühlungsvermögen, die Analysefähigkeit sowie Kreativität. Vor allem aber: Lesen lehrt uns, dass man Zeit, Zuwendung und Mühe investieren muss, um etwas zu verstehen und zu erreichen.

Die Anhänger des Netzes, die von Gaschke geschmähten "Netzpropheten", verstecken kommerzielle Absichten hinter vermeintlich uneigennützigen "Beglückungsangeboten". In der "vollendeten Netzgesellschaft", so die digitale Heilsbotschaft, sind "alle gleich, alle gut, alle hilfsbereit und zugewandt" und profitieren entsprechend gleichermaßen vom Internet als dem Weg zu "Wissen und Wohlstand für alle". Tatsächlich aber verschärft die Netzgesellschaft soziale Unterschiede und Herkunftsnachteile. Die Segnungen der digitalisierten Welt entpuppen sich zudem als "hochwirksame Abrichtung von Konsumenten", die mit einer kalkulierten Ausrechenbarkeit des Nutzers für kommerzielle Zwecke und Ideologien einhergeht.


Jürgen Holtkamp blickt in seiner Studie "Verblöden unsere Kinder?" (Butzon & Bercker, Kevelaer 2009) hinter die Kulissen der "schönen Internetwelt" und deckt die "hässlichen Seiten" dieses Mediums auf - vom Cybermobbing über Pornographie und Datenklau bis zur Gewaltverherrlichung. Für Holtkamp, der sich bewusst von den pauschalen kulturpessimistischen Verblödungstheorien abgrenzen will, ist es geradezu verantwortungslos, Kinder ohne Anleitung und Orientierungsmaßstäbe in virtuelle Medienwelten zu "entlassen".

Holtkamp nimmt an dieser Stelle vor allem Eltern und Pädagogen in die Pflicht und fordert eine "werteorientierte Medienerziehung" ein. Kinder, die keine Unterstützung und Zuwendung durch Eltern erfahren, sind nach Holtkamp besonders gefährdet, den Heilsversprechen des Internets zu erliegen oder von verführerischen Botschaften des Fernsehens abhängig zu werden - jenem Medium, das, so Holtkamp, die kindlichen "Fantasiekräfte" und die "Gedächtnisleistung" negativ beeinflusst.


Die Risiken und Nebenwirkungen der digitalen (Un)Kultur vermag nach Gaschke und Holtkamp nur der zu erkennen, der Fähigkeiten und Kenntnisse mitbringt, die er im wirklichen Leben erworben hat: Lesekompetenz, Urteils- und Konzentrationsvermögen. Die Auffassung der "Netzapologeten", dass diese Fähigkeiten in der Technik selbst angelegt seien, entlarvt vor allem Gaschke als Auswuchs eines blinden Glaubens an die "himmlischen Zustände" der digitalisierten Welt.

Das Menschenbild, das Gaschkes Studie zugrunde liegt, ist repräsentativ für die kulturpessimistisch ausgerichteten "Blödheitsbücher". Vorgestellt wird jeweils ein bedauernswerter Nutzer, der den Medien verfallen ist - unfähig, Sein und medialen Schein auseinanderzuhalten, hilflos kommerziellen Machenschaften von TV-Sendern oder Konzernen wie Microsoft ausgeliefert und zu einem Medienkonsumenten sozialisiert, der sich gegen die "bösen" Blödmacher nicht behaupten kann und entsprechend beschädigt zurückbleibt: Seine Gespräche sind zum Netzwerk-Geplapper verkommen, sein Leben ist "zerzappt", seine Sehnsucht nach Sinn, Bindung und Freundschaft "erfüllt" sich von einem Klick zum nächsten - und wenn es wirklich ernst wird im Leben, wenn Mühe und Anstrengung gefragt sind, flüchtet er in die infantilisierende Welt von Fernsehen und Internet.

So wie der Einzelne hier nicht als mündiger Mediennutzer, sondern vielmehr als hilfloses Opfer der Medien präsentiert wird, so wehrlos scheint er auch gegenüber den Drahtziehern der Verblödung zu sein. Er durchschaut weder die Machtverhältnisse in den Medien noch das unsägliche Lobbywesen und PR-System. Er nimmt getürkte, von bestechlichen Experten mitinszenierte Sendungen so genannter "Qualitätsmedien" für bare Münze und erkennt daher auch nicht, dass dabei einem Neoliberalismus gehuldigt wird, der, so Thomas Wieczoreks Vorwurf, den Interessen der "Reichen und Mächtigen" zuarbeitet - einer wachsenden "elitären" Schicht, die bewusst "nach unten dicht macht". Nach diesem wie eine Verschwörungstheorie anmutenden Ansatz werden weite Teile des Volkes sprichwörtlich "für dumm verkauft" - mit dem Ziel, ein gemeinsames Aufbegehren zu verhindern.

So weit gehen Jürgs und Co. bei ihrer Ursachenforschung für die Massenverblödung nicht. Aber ein zentraler, nicht zuletzt gesellschaftskritisch begründeter Vorwurf ist auch hier, dass zur Aufrechterhaltung des Status quo das "gemeine Volk" in eine "Brot und Spiele"-Publikumsrolle hineingedrängt wird, in der es nur um Zerstreuung, Ablenkung und seichte Unterhaltung geht. Damit erweist sich die Medienkritik der kulturpessimistischen Blödheitsbücher letztlich als Wiederauflage von Neil Postmans Medienunheilsprophetie. Das Volk "amüsiert sich zu Tode" und wird - medial dauerberieselt - ruhiggestellt.


Sündenbock Fernsehen?

Im Gefolge Postmans stilisieren vor allem Kissler und Jürgs das Fernsehen zu einem Supermonster mit geradezu dämonischer Macht. Fernsehen gibt nach Jürgs vor, wie wir über uns selbst und die Welt zu denken haben. Das Medium Fernsehen, so Jürgs, erhebt Geschmacklosigkeiten zum Programm, "schunkelt und zotet", und wer solche "gnadenlos" "substanzlose" Unterhaltung immer wieder sieht, glaubt am Ende wirklich, so sei die Welt. In diesem Pauschalangriff auf das Medium sind Diagnose und Lösung aufeinander bezogen und folgen einem gleichbleibenden Verfahren. Man steigt in die Niederungen medialer Verflachung hinab, präsentiert, wie Kissler, ausführliche Nacherzählungen seichter TV-Sendungen und suggeriert dabei, dass den "dämlichen" Inhalten ein gleichermaßen "dämliches" Publikum entspricht. Von hier aus ergibt sich eine effiziente Methode zur Blödheitsbekämpfung, die als moralischer Appell verpackt ist: Beseitigt die Trash-Formate zugunsten von Qualitätsfernsehen und Qualitätsjournalismus, und der Untergang des Abendlandes wird (noch einmal) abgewendet werden können.


Die hier vorausgesetzte Annahme, dass man von Medieninhalten unmittelbar auf "prompt" erfolgende Wirkungen schließen kann, ist ebenso unhaltbar wie populär. Sie prägt seit Jahren eine medienpolitische Diskussion, in der insbesondere das Fernsehen zum Sündenbock für gesellschaftliche Fehlentwicklungen gemacht wird. Dabei wird zumeist ignoriert, dass Mediennutzer keine passiven Opfer vermeintlich "verblödender" Medien sind, sondern aktiv Handelnde, die Medienangebote nach ihren Wünschen und Bedürfnissen abrufen.

Neuere Medienwirkungstheorien berücksichtigen, dass bei diesem "Abrufen", dem Prozess der "Medienaneignung" (vgl. Claudia Wegener, "Medien, Aneignung und Identität", VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008), eine Vielzahl von Faktoren eine Rolle spielt. Dazu gehören unter anderem die Familien- und Lebenswelten der Nutzer, die jeweils ganz unterschiedlichen Voraussetzungen und Motivationen zur Mediennutzung und nicht zuletzt psychosoziale Aspekte. Wer - wie Stefan Bonner und Anne Weiss - hämisch nur auf die Schäden schaut, die das "Medienjunkie"-Unwesen der "Generation Doof" anrichtet, übersieht, dass eben diese Medienabhängigkeit ein Schaden ist, den vor allem das gesellschaftliche und psychosoziale Umfeld anrichtet.


Wenn die Gesellschaft an Bindungslosigkeit und fehlender Integrationskraft krankt, wenn die Familie nicht mehr trägt und das elterliche Vorbild ausfällt, stoßen Medien wie das Fernsehen in diese Lücke. Medien kommen immer erst danach. Das heißt: Auch wenn man zum Beispiel den so genannten "Vielsehern" das "Verblödungsinstrument" Fernsehen entziehen würde, würden sich diese - in der Regel dem "Prekariat" zugeordneten - Vielseher nicht automatisch in "intellektuelle", Bücher lesende "Bildungsmenschen" verwandeln.

Die pauschale Verurteilung des Fernsehens als "Blödmacher" der Nation ist marktgängig, aber in vielerlei Hinsicht auch destruktiv. Statt konkret die Lebensbedingungen von bildungsfernen, gesellschaftlich benachteiligten Menschen zu verbessern, weicht man auf einen Nebenschauplatz aus, auf dem man mit dem Finger stets auf andere, sprich die Medien zeigt, die für die Misere der Verblödung und Verrohung verantwortlich sein sollen. Dass eben diese Medien auch prosoziale Einstellungen und Werthaltungen transportieren können - siehe TV-Serien wie "Eine himmlische Familie" (Das Vierte) -, dass es auch im Privatfernsehen Qualitätssendungen gibt - siehe Serien wie "Six Feet Under" (Vox) - und dass gut entwickelte Lernsoftware sehr wohl zum Einsatz in Schulen taugt, all das wird in den polemischen Streitschriften à la Jürgs nicht angemessen berücksichtigt.


Fernsehen mag verflachen, aber es begibt sich dabei nicht einfach in substanzlose Seichtgebiete, sondern es besetzt Themen, die gesellschaftsrelevant sind. Sei es Verschuldung, Arbeitslosigkeit oder Familiennotstand - das Fernsehen greift jeweils mit Formaten wie "Die Super Nanny" (RTL) oder "Raus aus den Schulden" (RTL) Probleme auf, die aus Sicht der Zuschauer gesellschaftliche Institutionen offensichtlich nicht mehr zu lösen vermögen, wohl aber die Medien. Gerade diese Lebenshilfefunktion der Medien weist darauf hin, dass dem angeblich von den Medien vorangetriebenen "Kulturverfall" nicht zuletzt auch gesellschaftliche und religiöse Wandlungsprozesse zugrunde liegen. Von hier aus ergibt sich ein ganz anderer Blick auf die "Niederungen der Seichtigkeit": Man mag sich, wie Jürgs, über "Deppen aus lokalen TV-Seichtgebieten" lustig machen, die sich "zum Superstar berufen fühlen", aber das RTL-Erfolgsformat "Deutschland sucht den Superstar" ("DSDS") verheißt gerade sozial ausgegrenzten, gesellschaftlich unbeachteten Menschen etwas, das heute ganz hoch im Kurs steht: massenmedial vermittelte öffentliche Anerkennung und Aufmerksamkeit.

Man mag, wie Stefan Bonner und Anne Weiss, mediale Vorbilder ins Lächerliche ziehen, aber derjenige, der zum "Supertalent" (RTL) gekürt wird oder aus dem "Dschungelcamp" (RTL) als Sieger hervorgeht, lebt Werte vor, die heute in einer Mediengesellschaft verstärkt nachgefragt werden: erfolgreiche "Performance" und Selbstdarstellung. Man mag, wie Kissler, das fragwürdige Menschenbild beklagen, das in Doku-Soaps wie "We are Family" (Pro 7) transportiert wird, aber solche Soaps bedienen letztlich nur den heute vorherrschenden Trend, dass Menschen ihre Identität und ihr "Wertsein" zunehmend über die Medien "aushandeln".


Den Medien sind religiöse Funktionen zugewachsen

Dass die fortschreitende Mediatisierung unserer Lebenswelten eine - so Jürgs - fatale "Werteverflachung" nach sich zieht, ist nur die halbe Wahrheit. Hinter dem unaufhaltsamen Vormarsch medialer Seichtigkeit und Unterhaltung verbirgt sich mehr. Er ist letztlich auch ein Beleg dafür, wie weitreichend den Medien religiöse Funktionen zugewachsen sind. In Zeiten der Unübersichtlichkeit, der förmlichen "Explosion" von Informationen und Wissen, der grenzenlosen Pluralisierung von Wahrheiten und Positionen entspricht die medial beförderte "Seichtigkeit des Seins" unmittelbar der Sehnsucht nach Orientierung und Eindeutigkeit, vor allem aber auch nach Vereinfachung und "Entproblematisierung".

Von der Warte der "hohen" Kultur aus kann man sich gerade über letzteres echauffieren. Aber dabei wird übersehen, dass in der massenmedialen Popularkultur (und eben nicht in der "Hochkultur") das Bedürfnis nach Seichtigkeit und Vereinfachung mit einem neuen Lebensgefühl und einer veränderten Deutung der Lebenszeit einhergeht. Wenn das Leben wirklich die letzte Gelegenheit ist (vgl. Marianne Gronemeyer, Das Leben als letzte Gelegenheit, Primus Verlag, Darmstadt 1996), wenn die christliche Hoffnung auf eine endgültig "erfüllte" Zeit (Gal 4, 4) als Vertröstung abgetan wird, gilt es, dieses Leben jetzt, in der reinen Gegenwart auszuleben, sich von einem problembeladenen, komplexen Alltag zu befreien und eben diesen Alltag zugleich mit der "Transzendenz" des Besonderen, Einmaligen aufzuwerten.

Genau das aber leisten die von Kissler und Jürgs kritisierten Medienformate wie "DSDS" und die von Gaschke verurteilten Internet-"Beglückungsangebote". Sie verheißen dem Einzelnen Entlastung von einer immer undurchschaubarer und anstrengender werdenden Wirklichkeit, Erlösung von der Langeweile und Durchschnittlichkeit des Lebens, Anerkennung und "unvergänglichen" Ruhm im Diesseits sowie einfache, jederzeit verfügbare Problemlösungen.

Das alles kann man, wie Jürgs, als seichte Scheinlösungen für "Heere von Verblödeten" abtun, aber man konfrontiert damit nicht die Ursachen für das Angewiesensein auf solche Lösungen und ignoriert zudem, dass man auch von Blöden einiges lernen kann, ja dass die Methoden der "Blödmacher" durchaus intelligent sind. Konkret heißt das: Man muss heute hinnehmen, dass sich das Wissen (und zwar auch das religiöse Wissen) inhaltlich wandelt. Der mediensozialisierte Schüler, der Goethes "Faust" für einen amerikanischen Boxerfilm hält, kann alle Sieger der letzten "DSDS"-Staffeln aufzählen und kennt jedes Detail aus dem Leben und Werk der Superstars. Der Google-Anhänger der "Generation Doof", der Trinität für eine Rockband hält, ruft religiöse Botschaften von Filmen wie "Titanic" ab und offenbart in "Chats", welche Bedeutung die medial inszenierte Liebesreligion für seine eigene Sinn- und Wertorientierung hat.


Das, was die "Generation Doof" weiß, entstammt zu großen Teilen dem Wissensschatz der Popularkultur. In dieser Kultur wird Wissen nach medialen Gesetzen aufbereitet, es wird vor allem personalisiert, emotionalisiert und trivialisiert. Das kann man erneut als Auswuchs substanzloser Boulevardisierung verurteilen, die von "Blödmachern" vorangetrieben wird. Aber in Zeiten, in denen insbesondere das schulisch vermittelte Wissen an "Lernstoff-Bulimie" krankt ("Reinwürgen - Rauskotzen - Vergessen"), bleibt festzuhalten, dass das medial vermittelte popularkulturelle "Wissen" behalten und vor allem auch angewendet wird, eben weil es emotional anspricht und lebensrelevant erscheint. So mancher schulische Lehrplan könnte hier durchaus von den "geheimen" medialen Miterziehern profitieren.

Jürgs Strategie gegen die sich ausbreitenden Seichtgebiete lautet: Wer Blödmacher und Blöde "besiegen will, muss sie lächerlich machen". Doch diese Strategie wird nur zu einem kurzfristigen Triumph führen, weil sie die Bedürfnisse von Menschen nicht ernst nimmt, für die gerade die von Jürgs und Co. als unerträglich empfundene "Seichtigkeit des Seins" das Leben erst erträglich macht.


Elisabeth Hurth (geb. 1961) hat Amerikanistik, Germanistik und katholische Theologie in Mainz und Boston studiert. PH.D. 1988 in American Studies in Boston, Promotion 1992 in Mainz in Germanistik. Sie ist Dozentin, Lerntherapeutin und Publizistin in Wiesbaden. Neueste Veröffentlichung: Religion im Trend oder Inszenierung für die Quote?, Patmos Verlag, Düsseldorf 2008.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 01, Januar 2010, S. 43-48
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2010