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SPRACHE/1030: Gesten, die erzählen - Über die Vielfalt von Gebärdensprachen und ihre Marginalisierung (Frauen*solidarität)


frauen*solidarität - Nr. 161/162, 3/4 2022

Gesten, die erzählen
Über die Vielfalt von Gebärdensprachen und ihre Marginalisierung

von Janne Wanner


Es existieren weit über 200 verschiedene Gebärdensprachen, zusätzlich dazu zahlreiche Dialekte. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme gibt es keine universelle Gebärdensprache, die international verstanden wird. Bereits die Grammatik und Syntax der österreichischen unterscheidet sich von derjenigen der deutschen Gebärdensprache.

Auch Gebärden wurden kolonialisiert

Sprache ist Ausdruck von Kultur und Identität. Somit kann sie als Instrument der Unterdrückung und des Widerstands, der Exklusion oder Inklusion dienen. In dieser Hinsicht unterscheiden sich Gebärdensprachen nicht von Lautsprachen. Bereits seit vielen Jahrhunderten haben sich Gebärdensprachen in verschiedenen Gemeinschaften und Teilen der Welt entwickelt. Einige afrikanische Gebärdensprachen können bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgt werden.

Ein Großteil dieser indigenen Gebärdensprachen ist heute jedoch marginalisiert und unterdrückt. Kolonialismus und hegemoniale Machtverhältnisse haben auch hiervor nicht Halt gemacht. Sie bedrohen nach wie vor den Erhalt indigener Gebärdensprachen und somit kulturspezifischer Formen der Kommunikation.

Auf dem gesamten afrikanischen Kontinent sind lediglich vier Gebärdensprachen konstitutionell anerkannt: die kenianische, südafrikanische, ugandische und simbabwische Gebärdensprache. Dieser Umstand drückt nicht nur die fehlende Anerkennung generell von Gebärdensprachen aus, die sich global widerspiegelt. Bei näherer Betrachtung der anerkannten Gebärdensprachen wird deutlich, dass diese stark von westlichen Gebärdensprachen - primär der amerikanischen und britischen - beeinflusst wurden. Und sie werden häufig als bloße Dialekte dieser Sprachen abgetan.

Darüber hinaus haben sich jedoch auch zahlreiche inoffizielle nationale Gebärdensprachen entwickelt. In vielen afrikanischen Regionen, so wie auch in anderen Teilen der Welt, gibt es vielfältige indigene Gebärdensysteme. Diese können sich von Dorf zu Dorf unterscheiden und werden häufig nicht ausschließlich von Gehörlosen und deren Angehörigen verwendet. Indigene Gebärdensprachen tragen somit als bedeutendes Medium zu Kulturerhalt und indigener Geschichtsschreibung bei.

Gender und Gebärden

Sprachen sind wandelbar und passen sich stets an neue Umstände an. Neue Begriffe werden etabliert, andere geraten in Vergessenheit oder werden aufgrund ihres diskriminierenden Ursprungs bewusst verändert. Auch Gebärden können Klischees bedienen und abwertend oder diskriminierend wirken. Ein Beispiel hierfür ist die Gebärde für "homosexuell" in der österreichischen und der deutschen Gebärdensprache. Diese war zunächst lediglich auf die Darstellung von Geschlechtsverkehr reduziert, bevor sie klischeehaft einen einzelnen Ohrring darstellte. Schließlich wurde eine neutralere Gebärde verlangt und durchgesetzt.

Ebenso wird die Entwicklung und Verwendung von gendersensibler Sprache in Gebärdensprachen diskutiert, obwohl das Geschlecht, anders als in der deutschen Lautsprache, nur marginal präsent ist. Gesten sind somit nur selten geschlechtsbezogen. Die Debatte des Gendersternchens ist in der Gebärdensprache zunächst überflüssig. Sobald jedoch gendersensible deutsche Lautsprache gedolmetscht wird, finden Gendersternchen ihren Weg in die Gebärdensprache. Ein Mittel, Genderdiskriminierung sprachlich zu überwinden, bahnt sich somit in eine Sprache, welche diese Form der linguistischen Diskriminierung kaum kennt.

Zur Autorin: Janne Wanner ist Praktikantin bei der Frauen*solidarität. Sie studierte Global Studies und Ethnologie. In ihrer Arbeit befasst sie sich primär mit den Themen feministische Protestformen, Migration, Intersektionalität, Queer-Feminismus und Menschenrechte.

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Quelle:
Frauen*solidarität Nr. 161/162, 3/4 2022, S. 33
Text: © 2022 by Frauensolidarität / Janne Wanner
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veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 31. März 2023

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