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SPRACHE/661: Wie entstanden slawische Schriften? (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 15 vom 29. September 2009

Wie entstanden slawische Schriften?

Von Prof. Dr. Holger Kuße
(Institut für Slavistik)


Der Sommer ist vorüber. Mancher besuchte im Urlaub Ost- oder auch Südosteuropa. Was es mit dort an verschiedenen Orten befindlichen Denkmalen slawischer Schriften auf sich hat, erläutert Professor Holger Kuße.


Die slawischen Sprachen werden nach Himmelsrichtungen eingeteilt. Unterschieden werden ostslawische (Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch), westslawische (Polnisch, Tschechisch, Slowakisch, Ober- und Niedersorbisch) und südslawische Sprachen (Slowenisch, Kroatisch, Bosnisch, Serbisch, Bulgarisch, Makedonisch). Zu den sichtbaren Unterscheidungsmerkmalen gehören die zwei Schriftsysteme, an denen slawische Sprachen auch für Menschen, die keine slawische Sprache beherrschen, sofort erkennbar sind. Im Westen wird im lateinischen Alphabet geschrieben - mit zahlreichen Zeichen, den "Diakritika", oberhalb und unterhalb der Grundbuchstaben. Für ostslawische Sprachen wird in der Regel das nach dem "Slawenapostel" aus dem 9. Jh., Konstantin-Kyrill, benannte kyrillische Alphabet verwendet (nur für das Weißrussische gibt es auch die Latinica, die aber nur marginal Anwendung findet). Die Alphabetgrenze verläuft zwischen West und Ost durch die südslawischen Sprachen: Slowenisch, Kroatisch, Bosnisch werden lateinisch, Bulgarisch und Makedonisch kyrillisch geschrieben. Im Serbischen sind beide Alphabete möglich.

Die slawische Alphabetgrenze ist nicht zufällig. Sie markiert die Grenze zwischen zwei Kulturräumen, die schon in der Teilung des Römischen Reiches in West- und Ostrom angelegt war und sich mit der konfessionellen Trennung in die katholische Westkirche und die griechisch-orthodoxe Ostkirche verfestigte, die in der Kirchenspaltung im Jahr 1054 gewissermaßen "amtlich" wurde. Kulturen, die seit der Christianisierung von der römisch-katholischen Kirche geprägt wurden, übernahmen das lateinische Alphabet, dessen diakritische Zeichen allerdings erst an der Schwelle zum 15. Jahrhundert entstanden. Die Annahme des griechisch-orthodoxen Christentums in Bulgarien im 9. Jh. brachte die Entwicklung des griechischen zum kyrillischen Alphabet mit sich, das die slawische Lautgestalt (besonders die verschiedenen Zischlaute) besser abbilden kann als die griechische Schrift.

Die Beschäftigung mit slawischen Schriften bietet also auch einen Blick in verschiedene slawische und damit verschiedene europäische Kulturräume. Eine Reihe von Schriftdenkmälern der Vergangenheit, d.h. Urkunden, Evangeliare und vor allem Inschriften, liegen auch auf möglichen Reiserouten im Sommerurlaub und sind einen Abstecher wert. Aber auch der Schriftgebrauch in der Gegenwart, allem voran in der Werbung, ist nicht uninteressant. Etwas davon soll hier gezeigt werden.

Das kyrillische Alphabet ist nach Konstantin-Kyrill benannt, der zusammen mit seinem Bruder Method 863 im Auftrag des byzantinischen Kaisers zur Mission ins "Großmährische Reich" aufbrach, einem unklaren politischen Gebilde, das sich ungefähr vom Gebiet um den Plattensee bis ins heutige Böhmen und Mähren erstreckte. Für seine Mission erfand Kyrill aber nicht die Kyrillica, sondern das nach dem kirchenslawischen Wort "glagolati", d. h. "sprechen" benannte glagolitische Alphabet, das weder der lateinischen noch der kyrillischen Schrift ähnlich sieht und eine vermutlich speziell für missionarische Zwecke gedachte Symbolschrift ist, die sich aus den Elementarzeichen "Kreuz", "Kreis", "Linie" und "Dreieck" zusammensetzt. Das Kreuz ist das Zeichen für den ersten Buchstaben "A", der den kirchenslawischen Namen "Az", d. h. "Ich" trägt und deshalb als Symbol des sich Bekreuzigens gelesen werden kann. Bei "B", dem Anfangsbuchstaben von "Bog", d. h. "Gott", verbindet eine Senkrechte einen einfachen Basisstrich mit einer parallelen Linie, auf der drei kleine Senkrechten enden - so ist der dreieine Gott mit der Erde verbunden. "I", der Anfangsbuchstabe von Jesus ("Iisus"), stellt ein Dreieck dar, das mit der Spitze nach unten in einen Kreis, den Erdkreis, zeigt usw.

Kyrills raffinierte und schöne Schrift hat sich allerdings nicht durchsetzen können, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil die ganze Mission im westslawischen Gebiet unter keinem günstigen Stern stand. Von katholischer Seite wurde sie als Konkurrenzunternehmen zur eigenen Mission betrachtet, Kyrill starb, bevor seine Mission richtig in Gang kam, sein Bruder Method war zeitweilig gefangen gesetzt, und schon in den neunziger Jahren des 9. Jahrhunderts wurden alle byzantinischen Missionare vertrieben. Diese gründeten dafür in Veliki Preslav im heutigen Bulgarien und in Ohrid am Ohrider See im heutigen Mazedonien zwei kulturelle Zentren, denen das damalige Bulgarische Reich eine kulturelle Blüte verdankte, die bis heute sowohl in Mazedonien wie in Bulgarien symbolkräftig ist. Am Ohridsee, einem der traumhaftesten Orte, die Südosteuropa zu bieten hat, stellt das Denkmal Kyrill und Methods die beiden "Slawenapostel" als Bringer der Schrift dar. Und in Bulgarien trägt die Universität von Sofia den Namen ihres wohl bedeutendsten Nachfolgers, Kliment von Ohrid.

Die Glagolica verschwand im ersten Bulgarischen Reich schnell zugunsten des aus dem Griechischen entstandenen kyrillischen Alphabets. Zu besichtigen sind heute noch Aufschriften aus dem frühen 10. Jahrhundert, in denen sich die Alphabete mischen. Berühmt ist ein "Graffiti" aus der Rundkirche in Preslav.

Länger (zum Teil bis ins zwanzigste Jahrhundert) gehalten hat sich das glagolitische Alphabet bei den westlichen Südslawen, besonders im heutigen Slowenien und Kroatien. Beeindruckend ist die Tafel von Baska (Ba[...]anska plo[...]a)[*] aus dem 11. Jh. - heute ein "kroatisches Nationalheiligtum", das in der Kroatischen Akademie der Wissenschaft und Künste in Zagreb aufbewahrt wird. Sie diente ursprünglich als Altarschranke in der Kapelle Sv. Lucija in Jurandvor bei Baska (Insel Krk). In Istrien, im Nordwesten Kroatiens, wurde 1976 die "Glagolitische Allee" errichtet, ein 6 km langer Skulpturenpfad zwischen Roc und Hum als Denkmal für die älteste slawische Schrift (zu besichtigen unter http://www. hum.hr/vidikovac6DE.htm).

Hundert Jahre nach den Missionsversuchen Kyrills und Methods im Westen setzte sich das Christentum byzantinischer Prägung im ostslawischen Raum, im erstarkenden Kiever Reich durch. 988 entschloss sich der Großfürst Vladimir zur "Taufe der Kiever Rus'". Missionare aus Bulgarien brachten die kyrillische Schrift mit, und es entwickelte sich schnell eine hochstehende kyrillische Schriftkultur, deren eindrucksvollstes Zeugnis das in Novgorod entstandene "Ostromir-Evangeliar" ist.

Die heutige kyrillische Schrift geht jedoch auf die Reformen Peters des Großen zurück, der Anfang des 18. Jahrhunderts für alle nichtkirchlichen Zwecke die sogenannte "bürgerliche" oder auch "Zivilschrift" einführte, die besser lesbar und dem "westlichen" lateinischen Alphabet angenähert sein sollte. Der Entwurf dieser Schrift, die von allen kyrillisch schreibenden Slawen übernommen wurde, stammt tatsächlich aus seiner Hand.

Peters I. Schrift ist die Grundlage aller heutigen kyrillischen Alphabete, aber sie hat natürlich auch Veränderungen erfahren. Einschneidend im Russischen war die Orthographiereform von 1918, in der einige Zeichen wie das [...][*] für "e" oder das Zeichen [...][*] am Schluss von hart auslautenden Wörtern gestrichen wurden. Ein Gang durch russische Städte heute lässt jedoch eine Renaissance dieser Zeichen in der Werbung erleben. "Kapital" mit [...][*] am Wortende signalisiert gewissermaßen vorrevolutionäre Seriosität - hoffen wir, dass sie auch durch die Finanzkrise hilft.

Mit einem Besuch Prags und seiner Burg hat man die wichtigsten Besonderheiten des lateinischen Alphabets für die slawischen Sprachen buchstäblich in der Hand.

Auf der Eintrittskarte für die Prager Burg finden sich das Häkchen über dem Z oder dem C und der Schrägstrich für einen langen Vokal.

Der Erfinder dieser Zeichen zur Darstellung von Zischlauten oder Vokalformen, die mit der lateinischen Grundschrift nicht ausgedrückt werden können, ist vermutlich Jan Hus (1370-1415), dessen unglückliche Karriere als vermeintlicher Ketzer allerdings wohl der Grund ist, warum im katholischen Polen im 15. und 16. Jahrhundert die Diakritika nur halbherzig übernommen wurden und so bis heute zugleich Buchstabenkombinationen (sz, rz) im Gebrauch sind. Endgültig durchgesetzt haben die Diakritika für das Tschechische die protestantischen Böhmischen Brüder, deren "Kralitzer Bibel" von 1579-1594 ein Heiligtum der tschechischen Sprachgeschichte ist. Sie ist im Prager Strahov-Kloster, im "Museum des tschechischen Schrifttums", zu bewundern.

2006 gestalteten Studenten der Slawistik gemeinsam mit der Professur für Slavische Sprachgeschichte und Sprachwissenschaft der TU Dresden eine Ausstellung zum Thema "Slavische Schriften" in der SLUB. In diesem Rahmen entstand auch eine CDROM, die auf der Homepage des Instituts eingesehen werden kann. Dort sind auch weitere Schriftbeispiele zu besichtigen.


[*] Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
[...] ersetzt hier nicht-transskribierte kyrillische und glagolitische Schriftzeichen der Dresdner Publikation.


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Slawisch oder slavisch?

Ob "slawisch" oder "slavisch", "slowenisch" oder "slovenisch" richtig ist, darüber gibt es verschiedene Auffassungen. Der (gesamtdeutsche) Duden jedenfalls gestattet ausschließlich die "w"-Varianten.

Andererseits lebt die Sprache, und Schreibweisen, die heute noch nicht vom Duden legitimiert sind, finden später vielleicht darin Aufnahme. Zumindest, wenn es sich um Begriffe und Schreibweisen handelt, die im Volk "leben". Weil im Alltag und im Wissenschaftsleben Ostdeutschlands seit Jahrzehnten die "w"-Schreibweise galt und das "v" erst seit der Wende dominant wurde, haben wir uns - außer bei Eigennamen - für die Beibehaltung des "w" entschieden.

Die Redaktion


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 20. Jg., Nr. 15 vom 29.09.2009, S. 5
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Oktober 2009