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SPRACHE/768: Chatten, Posten, Twittern, Bloggen, Mailen (mundo - TU Dortmund)


mundo - Das Magazin der Technischen Universität Dortmund Nr. 14/11

Chatten, Posten, Twittern, Bloggen, Mailen
Internetbasierte Kommunikation im Fokus von Sprachwissenschaft und Sprachdidaktik

Von Martina Schlüter


Kommunikation ist im Internet fast alles. Wer online ist, nutzt das Netz vor allem, um mit anderen in Verbindung zu bleiben - via E-Mail, Instant Messaging oder Skype, mittels Online-Foren oder Weblogs, in Chats oder in sozialen Netzwerken wie Facebook oder StudiVZ. Wie aber beeinflusst die digitale Kommunikationstechnik den Umgang mit gesprochener und geschriebener Sprache? Wie gehen die Netz-Nutzer mit Sprache um, und wie lassen sich diese Auffälligkeiten aus sprachwissenschaftlicher Sicht erklären und bewerten? Fragen wie diesen gehen Dortmunder Sprachwissenschaftler seit mittlerweile einem Jahrzehnt nach. Internetbasierte Kommunikation heißt seit 2002 ein Forschungsschwerpunkt am Dortmunder Institut für deutsche Sprache und Literatur. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der Frage, mit welchen Methoden und auf welcher Datenbasis man die Entwicklung der Schriftsprache bei der Internet-Kommunikation empirisch und wissenschaftlich fundiert analysieren kann. Auch für die Lehrerausbildung ist das Thema äußerst fruchtbar.

"Unser Zugang zur Analyse der Netzkommunikation ist empirisch und funktional", erklärt Angelika Storrer, Professorin für Linguistik der deutschen Sprache und Sprachdidaktik. Das bedeutet: Die Forscher untersuchen authentische Sprachdaten quantitativ und qualitativ. Dazu verwenden sie zum Beispiel aufgezeichnete Chat-Protokolle. Die sprachlichen Auffälligkeiten, die sie finden, werden im Hinblick auf ihre kommunikative Funktion in konkreten Verwendungssituationen bewertet. Als "funktional angemessen" erweist sich dabei nicht immer nur das, was den orthographischen und grammatischen Normen der elaborierten Schriftsprache entspricht, also "richtig" ist. Angemessen ist vielmehr das, was dem Chatter oder Blogger dabei hilft, sein Kommunikationsziel zu erreichen.

Spielen sprachliche Normen im Netz gar keine Rolle mehr? Doch, sagt Angelika Storrer. Aber der Sprachstil hängt - ähnlich wie beim schriftlichen und mündlichen Kommunizieren außerhalb des Netzes - davon ab, wer mit wem kommuniziert und welche Ziele dabei verfolgt werden. Ohne dass uns dies bewusst ist, verfügen wir über Muster für situationsadäquates Formulieren und Strukturieren von Beiträgen in unterschiedlichen Handlungskontexten. "Schon immer haben private Briefe zwischen Freunden einen anderen Sprachstil als ein Bewerbungsschreiben; in ähnlicher Weise kann man auch für die internetbasierte Kommunikation empirisch nachweisen, dass dieselben Nutzer in verschiedenen Kontexten jeweils andere sprachliche Register ziehen", erläutert Storrer.

Neu am Internet ist allerdings die Möglichkeit, in sehr schnellem Wechsel schriftliche Botschaften auszutauschen und damit Schrift in Handlungsbereichen zu nutzen, die bislang eher der gesprochenen - mündlichen oder fernmündlichen - Sprache vorbehalten waren. Hier entwickeln sich neue Muster und Regeln für das schriftsprachliche Handeln, die empirisch erst ansatzweise erforscht sind - ein spannendes Feld für Sprachwissenschaftler.


Datengestützte Erforschung des Sprachgebrauchs im Netz

"Die Linguistik kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Beziehungen der internetbasierten Kommunikation zu traditionellen Formen aufzuzeigen, das spezifisch 'Neue' herauszuarbeiten und das, was an der Netzkommunikation als sprachlich auffällig erscheint, zu bewerten", sagt Michael Beißwenger, der als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl den Lehr- und Forschungsbereich Internetbasierte Kommunikation mit aufgebaut hat. Jüngst war er mit einem Förderantrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erfolgreich. Im wissenschaftlichen Netzwerk Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation (http://www. empirikom.net), das von Beißwenger koordiniert wird, beschäftigen sich seit Ende 2010 fünfzehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus zwölf Universitäten und Forschungseinrichtungen mit methodischen Fragen rund um die datengestützte Erforschung des Sprachgebrauchs im Netz. Beteiligt sind Sprachwissenschaftler, Computerlinguisten, Informatiker und Psychologen.

Sprachdaten aus dem Internet stellen die empirische Analyse gleich vor mehrere methodische Probleme. Wie geht man methodisch etwa mit der Hypertextstruktur des World Wide Web um, in der sich beliebige Ressourcen per Hyperlink miteinander vernetzen lassen? Auch können sprachliche Äußerungen durch Bild-, Ton- und Videodateien multimedial angereichert sein. Zudem sind viele Formen internetbasierter Kommunikation zwar im Medium der Schrift realisiert - letztlich sind es aber Dialoge. Für die Erfassung ihrer charakteristischen Merkmale kann man daher weder Analysekategorien aus dem Bereich der Textanalyse noch aus der Analyse von Gesprächen eins zu eins übertragen. Gerade in sozialen Netzwerken, also in der Freizeitkommunikation, führt das Zusammentreffen von Schriftlichkeit mit einer informellen, an der gesprochenen Umgangssprache orientierten Grundhaltung zu Schreibformen, die sich mit bekannten Verfahren zur automatischen Sprachverarbeitung nicht ohne weiteres bearbeiten lassen. Um quantitative und qualitative Untersuchungen auf breiter Datenbasis zu gewährleisten, ist man jedoch auf automatisierte computerlinguistische Verfahren angewiesen. Nicht zuletzt sind solche Methoden auch wichtig, um hochwertige linguistische Datensammlungen (so genannte Korpora) aufbauen zu können und um sprachliche Strukturinformationen anzureichern - eine wichtige Grundlage für die empirische linguistische Forschung.

"Natürlich wurde auch bisher schon empirisch zum Thema geforscht", sagt Storrer, die mit eigenen Projekten am DFG-Netzwerk beteiligt ist. "Gerade im Forschungsfeld Internetbasierte Kommunikation wird schon immer datengestützt gearbeitet. Allerdings ist die linguistische Aufbereitung und Auswertung der Daten noch immer sehr aufwändig. Hier hoffen wir, im Austausch mit den anderen Partnern, bessere und standardisierte Kategorien und Verfahren entwickeln zu können." Storrer, die 2002 auf den Dortmunder Lehrstuhl berufen wurde, spricht aus Erfahrung: Gemeinsam mit Beißwenger hat sie seit 2003 eine Sammlung mit mehreren Hundert Chat-Mitschnitten aus verschiedenen Bereichen - Freizeit, Beruf, E-Learning, Medien - aufgebaut und mit texttechnologischen Methoden für linguistische Analysezwecke aufbereitet. Das Ergebnis des Projekts, das Dortmunder Chat-Korpus, ist deutschlandweit einzigartig und wird vom Dortmunder Lehrstuhl unter http://www.chatkorpus.tu-dortmund. de als Ressource für die Forschung zur Verfügung gestellt. Nicht nur Forscher können das Korpus verwenden, um linguistische Forschungsfragen zu bearbeiten, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer, die das Thema Sprache im Internet im Schulunterricht behandeln wollen: Ein Teil des Datenbestandes kann direkt per WWW-Browser durchstöbert werden. 2009 wurde das Dortmunder Korpus als Unterrichtsressource in das Kerncurriculum Deutsch für die gymnasiale Oberstufe des Landes Niedersachsen aufgenommen.

Gemeinsam mit dem Projekt Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS, http://www.dwds.de) an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften arbeiten Storrer und Beißwenger nun an einem Referenzkorpus zur deutschsprachigen internetbasierten Kommunikation, das neben Chats auch Daten aus der Kommunikation per E-Mail, Twitter und Instant Messaging sowie in Weblogs, Online-Foren, sozialen Netzwerken und Wiki-Diskussionen umfassen wird.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit internetbasierten Kommunikationsformen tragen Storrer und Beißwenger auch in die Lehre hinein: Sie vermitteln das Thema angehenden Lehrerinnen und Lehrern und streben eine Integration in die Curricula für Schulen an. "Für Jugendliche gehört die schriftliche Kommunikation über das Internet längst zum Alltag. Deshalb wird es zunehmend wichtig, die Besonderheiten und Bedingungen des Kommunizierens per Internet im Deutschunterricht zu thematisieren", findet Angelika Storrer. "Textsortenkompetenz war schon immer ein zentrales Vermittlungsziel des sprachbezogenen Deutschunterrichts. Und dazu gehört heutzutage notwendigerweise auch die Kompetenz, internetbasierte Kommunikationsformen zu nutzen und ihre sprachlichen Besonderheiten zu reflektieren und zu bewerten."

Michael Beißwenger verweist auf die Zahlen der ARD/ZDF-Onlinestudie, in der jährlich die Online-Präferenzen der Deutschen erhoben und nach Altersgruppen aufgeschlüsselt werden: "In der Gruppe der 14- bis 19-Jährigen nutzen inzwischen 100 Prozent regelmäßig das Internet, bei den 20- bis 29-jährigen sind es über 98 Prozent. Die meistgenutzten Online-Anwendungen sind - neben Suchmaschinen und Surfen - E-Mails, Online-Communities, Instant Messaging, Foren und Chats. Internetbasierte Kommunikation gehört insbesondere für diese Altersgruppe, die auch als Digital Natives bezeichnet wird, ganz selbstverständlich zu ihrem Kommunikationsalltag und zu ihrer Lebenswirklichkeit. Wenn dieser Teil der Alltagserfahrung und ihr Reflex im Sprachlichen nicht unterrichtlich reflektiert wird, koppelt sich der Deutschunterricht über lang oder kurz von der Kommunikationswirklichkeit seiner Zielgruppe ab."

Storrer und Beißwenger bieten in den Dortmunder Lehramtsstudiengängen für das Fach Deutsch daher regelmäßig Seminare an, in denen didaktische Konzepte für die Reflexion des Sprachgebrauchs im Netz im sprachbezogenen Deutschunterricht diskutiert werden und in denen Studierende eigene Ideen für die Behandlung des Themas im Unterricht entwickeln. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf der Reflexion sprachlicher Variation beim Kommunizieren im Netz. "Es ist wichtig, Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass der Sprachgebrauch im Netz ebenso wie der Sprachgebrauch außerhalb des Netzes in Abhängigkeit zu sozialen und institutionellen Kontexten und Textsorten variiert", so Storrer. "Wenn ich erfolgreich kommunizieren will, muss ich mir dessen bewusst sein, muss ich jeweils entscheiden können, welche Register aus meinem sprachlichen Repertoire in welcher Situation funktional angemessen sind."

Die Grenze zwischen eher informellem und eher formellem Sprachgebrauch verläuft dabei weder entlang der Unterscheidung mündlich/schriftlich noch entlang der Grenze online/offline: "Ich kann auch außerhalb des Internets die Schrift für informellen dialogischen Austausch verwenden, nur geschieht das dort in aller Regel im privaten Bereich und nicht in einem Medium, in dem meine Äußerungen öffentlich einsehbar sind", erklärt Beißwenger. "Dennoch ist der sprachliche Duktus in einem Plauder-Chat im Freizeitbereich oder bei der privaten Kommunikation auf Facebook-Profilseiten in vielen Dingen sehr ähnlich dem Sprachgebrauch auf privaten Postkarten oder auf Zettelchen, die während des Unterrichts unter der Schulbank ausgetauscht werden." Umgekehrt gibt es Formen mündlicher Kommunikation, die eher formell sind und sich stark an den Normen für elaborierte Distanzkommunikation orientieren - etwa wissenschaftliche Vorträge. Sie muten daher viel "schriftlicher" an als manche schriftlich realisierte Äußerungen auf Postkarten oder im Netz.

Neben der Reflexion sprachlicher Besonderheiten beim Kommunizieren per E-Mail, Chat, Foren, ICQ und Co. beschäftigen sich die beiden Linguisten seit einigen Jahren auch mit Formen des gemeinschaftlichen Schreibens im Netz. Seit 2004 setzen sie Wikis in der eigenen Lehre ein; die in Wikis entstehenden Texte und zugehörigen Schreibprozesse werden begleitend analysiert. Auch die Wikipedia als derzeit prominenteste Anwendung der Wiki-Technologie ist hierbei Forschungs- und Unterrichtsgegenstand: Mit ihren Artikel- und Diskussionsseiten ist sie bestens dazu geeignet, die sprachliche Variation im Netz zu reflektieren. "Man muss Schriftlichkeit und Schreiben in der Schule heute einfach anders thematisieren, als man es vor fünf, zehn Jahren noch gemacht hat", findet Storrer. Was den Wissenschaftlern gerade an der Wikipedia besonders gefällt: der hohe Wert, der dem transparenten Umgang mit Quellen beigemessen wird. "Wir können den Schülern, aber auch den Studierenden anhand der Wikipedia zeigen, dass korrektes Zitieren nicht nur eine fixe Idee von Lehrern und Hochschullehrern ist, sondern wichtige Funktionen für die Dokumentation und den Nachvollzug von Informationen und Positionen hat", sagt Storrer.

Auch als produktives Medium lässt sich die Wiki-Technologie hervorragend im Unterricht einsetzen. Storrer und Beißwenger begleiteten in den vergangenen Jahren eine Reihe von Studierenden bei der Konzeption und Erprobung von Schulprojekten mit Wikis, speziell in der Sprach- und Schreibförderung. Sogar in Grundschulen gab es bereits erfolgreiche Wiki-Projekte. Im April dieses Jahres veranstalteten Storrer und Beißwenger an der TU Dortmund einen zweitägigen Workshop für und mit Linguisten, Sprachdidaktikern, Lehrern, Schreibforschern, Hochschul- und Mediendidaktikern. Dabei wurden Praxisbeispiele der Wiki-Technologie aus unterschiedlichen Fachbereichen und Bildungsinstitutionen vorgestellt und diskutiert. Die Ergebnisse der Tagung werden Ende 2011 in Buchform publiziert. "Die Tagung hat gezeigt, dass Technologien für gemeinschaftliches Schreiben ein großes didaktisches Potenzial bergen, das noch lange nicht ausgeschöpft ist", so Storrer. "Die bislang existierenden Erfahrungen sind sehr ermutigend. Auch als Werkzeug für die Schreibforschung bieten Wikis spannende neue Möglichkeiten." So spannend, dass sich die Workshop-Beteiligten zu einem Netzwerk Wikis in Schule und Hochschule zusammengeschlossen haben, das innovative Wiki-Projekte in der Lehre dokumentieren will. Eine Folgetagung ist für 2013 geplant.


ZUR PERSON

Dr. Michael Beißwenger studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Heidelberg und promovierte 2007 an der Fakultät Kulturwissenschaften der TU Dortmund mit einer Arbeit zur Sprachhandlungskoordination in der Chat-Kommunikation. Nach Lehr- und Forschungstätigkeit am Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und am Institut für deutsche Sprache Mannheim kam er 2002 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter mit Angelika Storrer nach Dortmund. Er ist Koordinator und Sprecher des DFG-Netzwerks Empirische Erforschung internetbasierter Kommunikation.

Prof. Dr. Angelika Storrer studierte Germanistik und Romanistik an der Universität Heidelberg und promovierte dort. Ihr Werdegang führte sie vom wissenschaftlichen Zentrum und dem Institut für wissensbasierte Systeme der IBM Deutschland in Heidelberg über das Seminar für Sprachwissenschaft der Universität Tübingen an das Institut für deutsche Sprache Mannheim. 2002 wurde sie als Professorin für Linguistik der deutschen Sprache und Sprachdidaktik an die TU Dortmund berufen. Sie gehört zum Vorstand der Gesellschaft für Computerlinguistik und Sprachtechnologie GSCL; seit 2009 ist sie ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Mit den Themen internetbasierte Kommunikation und Hypertext beschäftigt sie sich seit 1993, weitere Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Texttechnologie und Textlinguistik sowie im Einsatz korpuslinguistischer Methoden für die lexikologische und grammatische Sprachanalyse.


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Quelle:
mundo - das Magazin der Technischen Universität Dortmund, Nr. 14/11, S. 26-31
Herausgeber: Referat Hochschulkommunikation
Technische Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
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mundo erscheint zwei Mal jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Dezember 2011