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SPRACHE/843: Sprachliche Praxis als emanzipatorische Praxis (Wir Frauen)


WIR FRAUEN - Das feministische Blatt 3/2013

Sprachliche Praxis als emanzipatorische Praxis

Von Isolde Aigner



Sprache ist das wichtigste Verständigungssystem unserer Gesellschaft. Mit ihr tauschen wir uns aus, gestalten Ideen, stellen politische Forderungen. Sie ist also das "Mittel", mit dem wir "Gegenständen, Ereignissen, Personen etc. Bedeutungen"(1) zuschreiben - ein Sprachrohr unseres Denkens, Fühlens, Deutens, kurz: unseres Wissens. Gleichzeitig sind wir selbst unser Leben lang Wissen (durch Texte, Erzählungen, Vorträge, Radiobeiträge) ausgesetzt, das uns beeinflusst. Dieses sich fortschreibende Wissen zu bestimmten Themen, diesen "Fluss von Wissen durch die Zeit"(2), können wir als Diskurs verstehen. Diskurse sind mit Macht ausgestattet, denn das durch sie vermittelte Wissen tritt als 'gültige Wahrheiten' auf, die uns zu entsprechenden Handlungen drängen.(3) Diskurse, die mit Rassismus aufgeladen sind, können z. B. rassistische Gewalt auslösen.

Wie und wann gewinnen die über Sprache vermittelten Diskurse an gesellschaftlicher Bedeutung? Der Antwort kommen wir auf die Spur, wenn wir uns anschauen, wer, wo, wie oft und von welcher Dauer wie und über was spricht.

Auch wenn einzelne Sprecher_innen Diskurse zu einem Thema nicht bestimmen können, gibt es Personen und Medien, die öffentlich-mediales Einflusspotenzial haben, um auf Diskurse einzuwirken. Beispiele hierfür sind Prominente, Expert_innen, Politiker_innen, aber auch bestimmte Leitmedien, die eine hohe Auflage haben und vielfach zitiert werden, wie die BILD-Zeitung oder der SPIEGEL. Wichtig ist auch, wer Zugang zu Sprecher_innenrollen in den Medien hat (und wer nicht). Trotz der wachsenden Zahl von Frauen im Journalismus sind bisher nur 2% der Chefredaktionen von Tageszeitungen mit Frauen besetzt. Der Männeranteil der Wikipedia-Autor_innen liegt bei 90%: "Sie bildet die Männersicht auf die Welt ab, bestenfalls korrigiert von den wenigen Frauen, die dort mitschreiben und massiven Angriffen ausgesetzt sind, wenn sie als Feministinnen ausgemacht werden."(4) Kaum bis keinen Zugang haben z. B. Menschen ohne Papiere, die es mit ihren Forderungen schwer haben, sichtbar zu werden.

Auch der Ort, von dem aus wir sprechen, hat eine wichtige Bedeutung. Ein öffentlichkeitswirksamer Ort (z. B. Massenmedien wie Fernsehen oder Leitmedien) erhöht die Chance der Verbreitung unserer Worte. Eine niedrigschwellige Struktur wie beim Internet schafft neue Partizipationsmöglichkeiten, wie der Erfolg von #Aufschrei zeigte. Gleichzeitig sinkt durch diese Struktur aber auch die Hemmschwelle für hasserfüllte und diskriminierende Äußerungen.

Ein einzelner Text erzielt nur in Ausnahmefällen eine hohe gesellschaftliche Wirkmächtigkeit. Anders ist es, wenn sich Aussagen, Begriffe, Symbole 'etablieren', weil sie über lange Zeiträume immer wieder verwendet werden, sodass sich das darüber produzierte Wissen langsam verfestigen kann. "Worte können wie winzige Arsendosen sein: Sie werden unbemerkt verschluckt; sie scheinen keine Wirkung zu tun - und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da", so Viktor Klemperer. Jahrelang wurde im Kontext der NSU-Morde immer wieder der Begriff "Dönermorde" rezipiert. Damit wurden die Morde verharmlost. Andrea Dernbach (Zeit-Online) sprach von einer "symbolischen Ausbürgerung" der Opfer. Der hinter dem Begriff "Dönermord" durchschimmernde Rassismus erschwerte das Erkennen der Mordmotive.

Entscheidend ist auch, wie über etwas gesprochen/geschrieben wird. Dieses Wie kann über Ausschluss und Einbeziehung, Abwertung und Anerkennung von Dingen und Menschen mitentscheiden. Zum Beispiel wird im Journalismus bisher noch immer häufig die männliche Form verwendet. Damit sind nicht nur Frauen, sondern auch alle anderen Geschlechter schlichtweg unsichtbar (gemacht).

Die Journalistin Antje Schrupp sieht hier die männliche Norm als das Allgemeingültige gesetzt. Sie merkt an, dass ausgerechnet aufgrund der Emanzipation vielfach davon ausgegangen wird, dass es nicht mehr notwendig sei, zwischen den Geschlechtern zu unterscheiden. In den Medien finden sich oft Kollektivsymbole, also "kulturelle Stereotypen, die jeder kennt und, ohne jeweils darüber zu reflektieren, zu benutzen versteht"(5). Sie verfügen über enorme Wirkmächtigkeit. So wird im deutschsprachigen Einwanderungsdiskurs immer wieder auf das Kollektivsymbol des "vollen Bootes" ("Das Boot ist voll") zurückgegriffen.

Interessant ist auch, welches Wissen kaum oder nicht auftaucht, was (fast) nicht "sagbar" ist, z. B. Kritik an institutionellem Rassismus. Im Zeitverlauf kann sich das "Sagbarkeitsfeld" verschieben. Im Verlauf der Sarrazin-Debatte wurden so - nach dem Motto: "das wird man wohl noch sagen dürfen" - plötzlich rassistische Äußerungen vermehrt sagbar.

Die Frage lautet also: Wie können wir das Mittel Sprache (nicht nur) in unserer feministischen Praxis (be-)nutzen?

Sprache reflektieren, um Ausschlüsse abzubauen

Es ist wichtig, dass wir unseren eigenen Sprachgebrauch reflektieren und ändern, um Ausschlüsse abzubauen. Die Anwendung geschlechtergerechter Sprache kann uns dabei unterstützen, auch wenn sie keine inhaltliche Auseinandersetzung ersetzt. Das Binnen-I (Feminist_innen) macht Frauen innerhalb sprachlicher Praxis sichtbar. Der Unterstrich/Gap (Feminist_innen) soll Menschen, die sich als transsexuell, transgender und queer begreifen, mit einbeziehen (vergleichbar mit Sternchen, z. B. Feminist*innen). Wir müssen uns aber auch damit auseinandersetzen, wann wir warum Fremdworte und 'hochtrabende' Sätze einbauen und wie wir einen Sprachgebrauch entwickeln können, der versucht, alle mitzunehmen.

Aneignung und Umdeutung von Begriffen

Abwertende Begriffe können wir zurückerobern - wie z. B. bei den Slutwalks, Schlampenläufen. Dabei geht es um das Recht auf körperliche und sexuelle Selbstbestimmung und gegen sexuelle Gewalt sowie deren Relativierung (z. B. mit der Begründung, die Opfer haben sich aufreizend gekleidet, seien Schlampen). Mit dem Begriff Slutwalk soll sich solidarisch hinter Menschen gestellt werden, die mit dem Begriff 'Slut' ('Schlampe') versehen werden.

Kritik üben an der eigenen diskriminierenden Sprache

Wir können uns öffentlich mit eigenen sprachlichen Diskriminierungen auseinandersetzen, Kritik üben, Korrekturen vornehmen. Die Bloggerin Kübra Gümüsay hat sich z. B. in ihrem Blog selbstkritisch mit dem von ihr zuvor verwendeten rassistischen Ausdruck "Mohr im Hemd" (Dessert aus Österreich) auseinandergesetzt. Die queerfeministische Rapperin Sookee reflektiert in ihren Songs "Lernprozesse" die Verwendung diskriminierend erscheinender Begriffe aus ihren Songtexten und verändert ihre Songs live entsprechend.

Sichtbarmachen von Frauen als Expertinnen

Wir alle können vermehrt Frauen als Expertinnen zitieren und sie so in der androzentrisch geprägten Wissenschafts- und Medienwelt sichtbarer machen.

Sprache analysieren, entlarven und kritisieren

Wir können auf festschreibende Aussagen, vermeintlich 'gültige Wahrheiten' achten, wie über einen Sachverhalt gesprochen wird und welche Redeweisen verwendet werden. So wird Feminismus in konservativen Medien wie dem FOCUS häufig mit Begriffen wie 'lila Kampffaust' oder 'Kampffeminismus' beschrieben, um ihn aggressiv erscheinen zu lassen und ihn so zu diskreditieren. Setzen wir uns kritisch mit z. B. diskriminierenden Texten auseinander, können wir Kritik und Gegendiskurse ins Leben rufen (in Alltagsgesprächen, Vorträgen, Texten, Blogs, Leser_inbriefen ...).

Das Wort ergreifen

Wir können lernen, bei diskriminierenden Aussagen und Handlungen im öffentlichen Raum einzugreifen. Es gibt hilfreiche Kommunikationstipps gegen Stammtischparolen, z. B. von Klaus-Peter Hufer. Am wichtigsten ist es, zu signalisieren, dass wir das Gesagte so nicht stehen lassen wollen, dass wir es nicht akzeptieren ("Ich möchte nicht, dass Sie sich weiter rassistisch äußern (...), unterlassen Sie das etc."). Besonders wichtig sind die uns umgebenden Personen. Denn kein Widerspruch kann von ihnen als stille Zustimmung gedeutet werden, bestätigt somit die Parolendrescher_innen, motiviert sie, es wieder zu tun.

Sprachliche Praxis wird so zur emanzipatorischen Praxis, mit der wir kritisieren, irritieren und Gegendiskurse ins Leben rufen und wach halten - für eine andere, (geschlechter-)gerechtere Gesellschaft.

In dieser Ausgabe diskutiert Susanne Kleinfeld die Notwendigkeit einer geschlechtergerechten Sprache. In einem Gespräch mit Isolde Aigner beschreibt die Rapperin Sookee, wie man mit dem Einsatz von Sprache gesellschaftliche Strukturen verändern kann. Die Bloggerin Kübra Gümüsay setzt sich mit der mangelnden Anerkennung deutsch-türkischer Zweisprachigkeit in Deutschland auseinander. Florence Hervé beschreibt die Erfahrungen der Schriftstellerinnen Elsa Triolet und Malika Mokeddem mit dem Schreiben in der Fremdsprache Französisch. In dem von Katharina Volk geführten Interview mit Margarete Jäger (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung) fordert diese eine stärkere Auseinandersetzung mit den durch Sprache vermittelten Inhalten. Didem Ozan berichtet von den Protesten in der Türkei und dem damit verbundenen sprachlichen Widerstand. Die Historikerin Regina Plaßwilm beschreibt das Schweigen im Kontext des Themas Zwangsarbeit von Frauen während des 2. Weltkriegs.


ANMERKUNGEN
(1) Jäger & Zimmermann, 2010, S. 386.
(2) ebd., S. 387.
(3) vgl. ebd.
(4) Andreas Kemper, Autor bei Wikipedia.
(5) Jäger & Zimmermann, 2010, S. 70.

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Quelle:
Wir Frauen, 32. Jahrgang, Herbst 3/2013, Seite 6-7
Herausgeberin: Wir Frauen -
Verein zur Förderung von Frauenpublizistik e.V.
Rochusstraße 43, 40479 Düsseldorf,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Oktober 2013