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SPRACHE/948: Latein - Von der Weltsprache zum Analyseinstrument (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin
Ruhr-Universität Bochum

LATEIN
Von der Weltsprache zum Analyseinstrument

Von Katharina Gregor, 27. März 2017


Wer früher zur Bildungselite dazugehören wollte, kam an der Weltsprache Latein nicht vorbei. Seither hat sich viel verändert. Aber verschwunden ist Latein noch lange nicht.

Latein galt lange als Sprache der Mächtigen und Gelehrten. Sie war nicht nur die Verwaltungssprache der alten Römer, sondern verbreitete sich während des Römischen Reiches auch im gesamten Mittelmeerraum bis in den Norden und Osten Europas.


Porträt - Foto: RUB, Damian Gorczany

Reinhold Glei untersucht, wofür die lateinische Sprache im 17. bis 19. Jahrhundert eingesetzt wurde.
Foto: RUB, Damian Gorczany

Heute hat man mit Latein noch an Gymnasien oder in geisteswissenschaftlichen Studiengängen zu tun. Aber dann geht es ums Lesen und Schreiben. Niemand spricht mehr Latein als Muttersprache. Prof. Dr. Reinhold Glei vom Bochumer Lehrstuhl für Lateinische Philologie untersucht, wie sich Latein über die Jahrhunderte entwickelt hat und in welchen Kontexten es nach seinem Ende als Weltsprache auftauchte.

Latein entstand um die Metropole Rom herum in der Region Latium. Während des Römischen Reiches erlebte die Sprache von 753 vor bis 476 nach Christus eine Hochphase. Doch schon ab 400 nach Christus verloren die alten Römer Macht über einige Gebiete, und ihr Reich schrumpfte. In der gesprochenen Sprache setzten sich in den verschiedenen Regionen lokale Dialekte gegen das klassische Latein durch. Die meisten Texte wurden jedoch bis in die Frühe Neuzeit weiterhin auf Latein verfasst.

"Latein blieb die Bildungssprache der westlichen Welt, die jeder lernen musste, der am Bildungswesen teilhaben wollte", so Glei. Erst ab dem 16. Jahrhundert wurden die Volkssprachen auch im Bildungsbereich präsenter. Doch Latein verschwand auch in den folgenden Jahrhunderten nicht ganz und behauptete weiterhin seinen Platz neben den Volkssprachen. Aber warum fand das Lateinische noch Anwendung?

Reinhold Glei hat erste Forschungserkenntnisse zu dieser Frage. Er stellte bei der Analyse lateinischer Texte aus dem 17. bis 19. Jahrhundert fest, dass diese eine ganz besondere Funktion erfüllten. Sie dienten als Instrument, um Sprachen, die bis dahin in der abendländischen Kultur wenig bekannt waren, besser verstehen und übersetzen zu können.

Arabisch, Sanskrit, Chinesisch: Diese Sprachen waren neu für die westliche Kultur. Ihre Satzstrukturen und Bedeutungen forderten die Gelehrten heraus. "Hätte man die fremdsprachlichen Texte mit einer gesprochenen Sprache, wie Deutsch, übersetzt, wäre man an die entsprechenden grammatikalischen Strukturen gebunden gewesen. Mit Latein war man freier in der Übersetzung", so Glei. Weil Latein in dieser Zeit schon längst keine gesprochene Sprache mehr war, konnten sich die Übersetzer von bestimmten Vorgaben lösen. Sie bauten die Sätze der fremden Sprachen mit Latein nach. Das war möglich, da es in dieser Zeit keinen Muttersprachler mehr gab, der sich an einem ungewöhnlichen Satzbau im Lateinischen hätte stören können.

Sprachliche Strukturen abbilden

Diese Methode hatte für die Gelehrten einen entscheidenden Vorteil: Sie konnten zunächst einen neutralen Text erstellen, bevor sie ihn in die jeweilige Volkssprache übersetzten. Strukturen und Bedeutungen aus dem Original wurden damit genauer in die Übersetzung transportiert. Jede gesprochene Sprache ist kulturell vorbelastet und färbt damit auf Texte ab. Mit Latein wurde dieser Effekt vermieden. "Es ist interessant zu sehen, wie man historisch mit der Sprache umgegangen ist und wozu man sie genutzt hat", so Reinhold Glei.

Der Forscher bezeichnet Latein in der Übersetzungsfunktion als Epi-Sprache. Epi ist griechisch für "auf" oder "über". "Man legte Latein über die fremde Sprache, ohne sie und ihre Struktur verschwinden zu lassen. Das Lateinische wurde als Werkzeug genutzt", sagt Glei. Letztlich war es ein praktikabler Weg, um neue Sprachen zu analysieren.


Foto: © RUB, Damian Gorczany

Eine lateinische Übersetzung links neben dem arabischen Text hilft, die grammatikalische und inhaltliche Struktur des Originals besser als mit einer direkten deutschen Übersetzung abzubilden.
Foto: © RUB, Damian Gorczany

Den Begriff der Epi-Sprache hat Glei nicht erfunden, sondern in einen neuen Kontext gebracht. Zunächst wurde in der Psychologie im Zusammenhang mit dem kindlichen Erstspracherwerb von der Epi-Sprache gesprochen. Der Ausdruck bezieht sich darauf, wie Kleinkinder unterbewusst Strukturen in der Sprache wahrnehmen. Linguisten haben den Begriff später auf die Sprache selbst übertragen. Daher erschien er dem Philologen für seine Analyseergebnisse passend.

Um Latein als Übersetzungsinstrument zu untersuchen, sammelt der Bochumer Wissenschaftler Analysebeispiele verschiedenster Sprachen. Neben Arabisch und Chinesisch untersucht er auch hebräische, persische oder georgische Texte. Dabei vergleicht er auszugsweise die lateinischen Übersetzungen mit den Originalen und arbeitet heraus, inwiefern die Latein-Versionen die Strukturen der ursprünglichen Sprache abbilden. Zum Beispiel untersuchte Glei verschiedene Koran-Übersetzungen. "Als Christen die ersten Koranübersetzungen machten, wurde der Text meist ideologisch aufgeladen. Das führte zu Verfälschungen in den Übersetzungen", sagt er. Mit Latein als Epi-Sprache wurde das Problem zwar nicht komplett behoben, aber es war möglich, die Struktur des Arabischen neutraler darzustellen.


INFO-KASTEN
Latein als linguistisches Instrument

Zwar nutzen Linguisten heute andere Methoden als die Epi-Sprache, trotzdem gibt es einen Trend, Latein zum Beispiel bei der Textrekonstruktion als linguistisches Instrument einzusetzen. Verloren gegangene lateinische Schriften können aus vorhandenen Übersetzungen anderer Sprachen zurückübersetzt werden.

Reinhold Gleis Student, Niklas Gutt, hat es mithilfe von Stilanalysen und Zweitquellen geschafft, einen verlorenen Schluss eines Cäsar-Textes zu rekonstruieren. Gutt recherchierte dafür aus verschiedenen antiken lateinischen und griechischen Quellen den Inhalt des verloren gegangenen Textes. Mit den Ergebnissen der Stilanalysen anderer Werke Cäsars ahmte der Student die Schreibart Cäsars nach und rekonstruierte den lateinischen Text.


Noch steht die Forschung zur Epi-Sprache in den Anfängen. Reinhold Glei möchte aber weitere lateinische Übersetzungen aus verschiedenen Sprachen analysieren, um die Funktion der Epi-Sprache besser verstehen zu können. Auch eine andere alte Weltsprache, nämlich das Altgriechische, möchte Glei genauer untersuchen. Sein erster Eindruck ist jedoch: "Das Altgriechische scheint seltener als Epi-Sprache aufzutreten. Vielleicht weil es eben nicht tot ist, sondern im Neugriechischen weiterlebt."

Die Sprachen der Mächtigen und Gelehrten sind heute andere als vor 2.000 Jahren. Doch Latein taucht in unserem Alltag immer noch auf. Ob Virus, Palast oder Senior: Viele heutige Begriffe haben lateinische Wurzeln. Die Sprache hat es geschafft, Jahrhunderte zu überdauern und kann auch heute noch helfen, fremde Sprachen besser zu verstehen.


URL der Artikel auf der RUBIN-Homepage:
http://news.rub.de/wissenschaft/2017-03-27-latein-von-der-weltsprache-zum-analyseinstrument

Dieser Artikel wird am 2. Mai 2017 in Rubin 1/2017 erscheinen.

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. März 2017

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