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UNIVERSITÄT/027: Keine Universität ohne Theologie (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 09/2010

Keine Universität ohne Theologie
Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates fordern heraus

Von Magnus Striet


Im Frühjahr hat der Wissenschaftsrat seine "Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften" vorgelegt. Darin wird nichts weniger behauptet, als dass die Universitäten ein genuines, also begründbares wissenschaftliches Interesse an der akademischen Selbstreflexion religiöser Überlieferungen haben. Aber nicht nur die notorischen Gegner jeder akademischen Theologie reagierten bislang mit merkwürdigem Stillschweigen.


Die "Empfehlungen zur Weiterentwicklung von Theologien und religionsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschulen" des Wissenschaftsrates haben im Frühjahr 2010 ein intensives mediales Echo ausgelöst (vgl. HK, März 2010, 117 ff). Es kann nicht überraschen, dass vor allem die Empfehlung, neben den etablierten anderen konfessionsgebundenen Theologien nun auch konfessionsgebundene "Islamische Studien" im deutschen Universitätssystem zu verankern, für Aufsehen sorgte (www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/9678-10.pdf). Diese ausdrückliche Empfehlung hängt zweifelsohne auch mit der wachsenden gesellschaftlichen Bedeutung des Islam in den westlich orientierten Gesellschaften zusammen. Der Wissenschaftsrat reagiert mit seiner Empfehlung auf ein gesellschaftliches und politisches ist dies evident, aber auch die Forschungen in anderen Wissensbereichen verlaufen keineswegs interessenfrei. Weil dies so ist, bleibt Wissenschaft und damit das Wissenschaftssystem umso mehr zu kritischer Selbstreflexion des eigenen Tuns aufgerufen. Gerade deshalb ist es interessant, dass die Empfehlungen ein grundsätzliches akademisches Interesse des Wissenschaftssystems an den Theologien formulieren (vgl. HK, Mai 2010, 240 ff.).


Verdächtige Stille unter den Gegnern akademischer Theologie

An der öffentlichen Aufnahme der Empfehlungen ist jedoch noch anderes überraschend. Das Papier spricht ausdrücklich von der Weiterentwicklung der Theologien, nicht aber von deren Reduktion im staatlichen Universitätssystem oder gar von deren Abschaffung. Im Vorfeld ihrer Verabschiedung gab es viele Gerüchte, was die christlichen Theologien und Kirchen betrifft: Als bekannt wurde, dass der Wissenschaftsrat sich des Themas der Theologien angenommen hatte, argwöhnten jedenfalls einige, dass er eine verbreitete Tendenz, die Präsenz von christlich-konfessionsgebundene Theologie an staatlichen Universitäten überhaupt infrage zu stellen, seinerseits noch verstärken könnte.

Diese Diskussionen werden bekanntlich seit längerer Zeit geführt, gerade was die Frage der Auslastung theologischer Fakultäten angeht. Zu beobachten war in den letzten Jahrzehnten ebenso, wie bundesweit die Anzahl der theologischen Lehrstühle abgesenkt wurde und auch strukturelle Neuordnungen vorgenommen wurden, wie beispielsweise die Aussetzung des Fakultätsstatus der katholischen Fakultäten in Bamberg und Passau. Befürchtung jedoch, dass der Wissenschaftsrat aus politischen Opportunitätsgründen oder aber auch aus wissenschaftsgeleiteten Gesichtspunkten heraus empfehlen könnte, die konfessionell gebundenen Theologien an den staatlichen Universitäten weiter abzubauen oder diese gar von dort zu verbannen, haben sich jedenfalls zerschlagen. Das Gegenteil ist eingetreten.


Deshalb erstaunt, dass es kaum öffentliche Kritik daran gibt, dass der Wissenschaftsrat überhaupt die Stimme für die Theologien als akademische Disziplinen im staatlichen Wissenschaftssystem erhoben hat. Niemand auf breiter Flur, der wie einstmals Mephisto in Goethes Faust vor der Theologie mit dem Argument warnt, es sei "so viel verborgnes Gift" in ihr. Auch ein Protest derer im Wissenschaftssystem, für die Theologie gar keine Wissenschaft ist, ist nicht hören. Ebenso merkwürdig still sind zurzeit jedoch auch die Stimmen in den Kirchen, denen die akademisierte Theologie deshalb ein Dorn im Auge ist, weil sie um die Reinheit des Glaubens fürchten.

Papier ist geduldig, scheint dieses seltsam vereint schweigende Bündnis zu denken - was sind schon "Empfehlungen"? Dies gilt jedenfalls so lange, wie niemand gegen den Stachel dieser merkwürdigen Ruhe löckt. In gewissen Weise sind "Empfehlungen" wie "Dogmen": Sie müssen interpretiert werden, immer wieder neu erprobt und überprüft werden, um fruchten zu können.


Den immer bereits "aufgeklärten" Theologieverächtern auf der einen Seite und den genauso "aufgeklärten" kirchlichen Unheilspropheten auf der anderen Seite zum Trotz, fordern die Empfehlungen die Theologien dazu auf, sich offensiv in den einen Diskurs der Universitäten einzubringen. Soll dies gelingen, so kann freilich allein das bessere Argument ausschlaggebend sein und dies kann nicht immer spannungsfrei bleiben: Theologie bleibt in religiöse Überlieferungsströme eingebunden, ist "res mixta", versteht sich im Fall der christlichen Theologien als "kirchliche Wissenschaft" (Walter Kasper). Deshalb wäre es unrealistisch zu glauben, eine Theologie, die sich dessen bewusst bleibt und die dieses Vorzeichen nicht längst aus ihrem Selbstverständnis gestrichen oder kulturwissenschaftlich angepasst hat, würde nicht immer wieder Konflikten ausgesetzt.

Überhaupt kann man die gesamte Theologiegeschichte als Konfliktgeschichte rekonstruieren, die sich nur in den seltensten Fällen als rein akademische darstellt. Religiöse Überlieferungen sind traditionsbeflissen, amalgieren sich mit kulturellem Empfinden, prägen soziale und wirtschaftliche Räume. Von daher sind religiöse Überlieferungen immer empfindlich gegenüber Kritik und damit auch gegenüber einer akademischen Reflexion, für die die kritische Reflexion und die damit notwendig einhergehende Distanznahme zu ihrem Gegenstand nun einmal das Standardgeschäft sind.

Soll sich Theologie in der Gegenwartswelt als vernunftgeleitete Theologie vollziehen und sich als akademisch geleitete Reflexionsform von religiösen Überlieferungen verstehen, soll sie Orientierungen in der Welt der Wissenschaften, aber auch darüber hinaus geben und so über das rein akademische Feld hinaus gesellschaftlich-sozial, kulturell und politisch prägen, so muss sie sich in Freiheit vollziehen dürfen. Dies bedeutet für die katholische Tradition, dass das Lehramt nur minimalistisch von seiner Funktion Gebrauch machen darf.

Umgekehrt wird dann aber der von den Theologien vertretene "opake Kern der Religion" (Jürgen Habermas) in einem Wissenschaftsumfeld, das immer dazu neigen wird, sich agnostisch oder im schlechteren Fall szientistisch-ironisierend zu gestalten, verstörend wirken. Dabei meint opak nicht, dass religiöse Überzeugungen nicht in eine säkulare Sprache übersetzt werden können. Opak meint stattdessen, dass es unverfügbare Erfahrungen gibt, die sich so rationalisieren lassen, dass es sie nur in der Form der Unverfügbarkeit geben kann. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates erkennen dies ausdrücklich an.

Ob es allein die Aufgabe der Theologien ist, angesichts des Naturalisierungsdrucks in den Wissenschaften das Phänomen von Unverfügbarem in seinem Wirklichkeitsgehalt herauszuarbeiten, kann mit Fug und Recht bezweifelt werden. Assoziiert man mit dem Begriff des Unverfügbaren nicht gleich ein göttlich Transzendentes, sondern sieht darin zuerst Phänomene des Lebendigen, also Freiheitsphänomene, so ist zunächst die Philosophie gefragt. Und auch die Theologie kann nicht anders als philosophisch argumentieren, wenn es darum geht, solche Phänomene von Unverfügbarkeit gegen die "Freiheitsverächter" zu verteidigen. Die Empfehlungen fordern die Theologie gleichwohl regelrecht dazu auf, nicht zu schweigen - man kann auch sagen: das Feld der Universität nicht den Naturalisten oder nur ökonomisch Interessierten zu überlassen. Nicht zu schweigen aber bedeutet: sich in das interdisziplinäre Gespräch einzubringen, zu philosophieren, weil es um gemeinsam akzeptierbare Gründe geht.


Es lohnt sich deshalb, auf die Systematik der Begründung in den Empfehlungen des Wissenschaftsrates zu schauen. Sowohl für die Universitäten als auch für die Kirchen liegt hier noch einiges Spannungspotenzial. So unterstellt der Wissenschaftsrat den christlichen Kirchen ein Interesse daran, "religiöse Orientierungen und die damit verbundenen moralischen Orientierungen in den allgemeinen wissenschaftsgeleiteten Verständigungsprozess der Gesellschaft zu integrieren", sie verstehen zu lernen und da, wo dies notwendig wird, in ihrer Genese der Kritik zu unterziehen. Damit wird den Kirchen die Einsicht unterstellt, dass die hermeneutische Aufgabe der Theologie, den überlieferten Glauben im Kontext des gegenwärtigen "Weltwissens" verstehend erschließen zu können, nur dann geleistet werden kann, wenn die "Theologien diese Leistungen im engen Kontakt mit anderen Wissenschaften" erbringen.

Theologie ist in dieser Logik notwendig auf den offenen Diskurs und auf Interdisziplinarität hin angelegt. Dass religiöse Traditionen auf unverfügbare Quellen (Offenbarung, Erfahrungen etc.) rekurrieren, wird damit nicht bestritten. Denn dass es Unverfügbares und damit möglicherweise auch unverfügbare religiöse Erfahrungen gibt, welche die menschliche Ratio in ihrer Wirklichkeit nicht verbürgen kann, ohne sie aber auch umgekehrt mit hinreichenden Gründen falsifizieren zu können, ist zugestanden. Gleichzeitig wird in den Empfehlungen nicht weniger behauptet, als dass Universitäten, die in einer auf säkularen Prinzipien beruhenden Gesellschaft notwendig religionsneutral sind, dennoch ein genuines, also ein begründbares wissenschaftliches Interesse daran haben, dass die akademische Selbstreflexion von religiösen Überlieferungen sich in ihnen als den maßgeblichen Wissenschaftsinstitutionen verankert.


Neben den ethisch-normativen Problemen, die sich aus der Dynamik von Forschung und damit einhergehenden Fragen der gesellschaftlichen Anwendung von Forschungsresultaten ergeben, können, so die Empfehlungen, die Theologien einen grundsätzlichen Beitrag leisten: dass nämlich das Bewusstsein von der Kontingenz menschlichen Handelns und vor allem das Bewusstsein von den Grenzen einer - wie es die Empfehlungen formulieren - "wissenschaftsförmigen Selbstdeutung des erkennenden Menschen" aufrechterhalten bleiben.

Angesichts der im Wissenschaftssystem ausgreifenden Tendenzen einer rein empirisch-naturwissenschaftlichen Beschreibung von Menschsein, die ohne kritische Prüfung ihrer durch die eigenen Methodiken notwendig gesetzten Grenzen meint, sich als die einzig mögliche wissenschaftskonforme behaupten zu dürfen, formulieren die Empfehlungen eine Steilvorlage für die Theologien, sich in diese Debatten einzubringen. Wenn der Wissenschaftsrat dezidiert für die Weiterentwicklung der Theologien eintritt, so geschieht dies keineswegs mit der Begründung, Dienstleistungen etwa für die historischen Kulturwissenschaften bieten zu können. Theologien sollen mehr sein als historische Wissenschaften von religiösen Überlieferungen. Es wird ein akademisches Interesse an einer Theologie als Wissenschaft formuliert, das sich im Feld der Wissenschaften selbst legitimiert. Dieses Interesse soll zwar nicht nur, aber eben auch durch die institutionelle Verankerung der Theologien im Wissenschaftssystem bedient werden.


Kant lässt sich nicht mehr in den Giftschrank verbannen

Leicht wird es für die Theologien nicht sein, die Frage nach dem Menschen offenzuhalten, sie gegen engführende Antworten zu schützen. Sie werden dies auch nicht - man kann dies nur immer wieder betonen - unvermittelt als Theologie können. Als problematisch könnte sich erweisen, dass sich Teile der Theologenschaft von philosophischen Grundlegungsfragen der Theologie meinen dispensieren zu können: Wie sich überhaupt die Rede von Gott begründet, welcher Wahrheitswert ihr zukommt, was der Begriff Gott überhaupt meint, dies scheinen oft keine Fragen mehr zu sein, die in der Theologie allzu sehr beunruhigen. Im Kontext einer Universität aber, in der die Namen wie Kant, Schelling und Camus noch nicht verblichen sind, müssen diese Fragen eine Rolle spielen.

Diese Tradition kritischen, aber eben darin konstruktiven Denkens gilt es allerdings hochzuhalten. Und nur weil diese Tradition des Denkens stark deutsch geprägt ist, muss sie noch nicht falsch sein. Es gibt eine in der Neuzeit ausgebildete Selbstbescheidung der menschlichen Vernunft gegenüber dem Absoluten, die sich der stetig wachsenden kritischen Selbstreflexivität verdankt, was ihre Möglichkeiten und Grenzen angeht. Wenn die im angelsächsischen Bereich sich ausbreitende so genannte "Radical Orthodoxy" meint, mehr oder weniger das Ende dieser deutschen Theologietradition behaupten zu müssen und statt ihrer eine seltsame Mischung aus postmoderner Vernunftskepsis und Ontologie bietet, so bin ich mir in einem sicher: Wenn sich damit der Anspruch verbindet, die Theologie wieder als die "oberste Wissenschaft" etablieren zu können, so wird das nicht gelingen (vgl. John Milbank, The New Divide: Romantic versus classical Orthodoxy, in: Modern Theology Vol. 26, 2010, 26-38, 26). Jedenfalls nicht, solange das Denken seine kritische Selbstbegrenzung nicht aufgibt.


Denn auch wenn Gott die größte Sehnsucht des Menschen ist, so bleibt strittig, ob dieser Gott existiert. Geschichte zu prognostizieren ist immer schwer. Aber es ist doch sehr unwahrscheinlich, dass, so faszinierend die Denksysteme eines Augustinus und vor allem Thomas von Aquin auch sein mögen, die Beunruhigung der Vernunft sich auflösen wird: Niemand wird Kant nochmals in den Giftschrank verbannen können! Und auch wenn Kant keineswegs der "Alles-Zermalmer" war, er vielmehr nur ein Wissen aufheben wollte, das kein Wissen war, und er dem Glauben allererst seinen ihm gebührenden Platz schaffen wollte, so kann man zwar kritisieren, dass er den Glauben arg moralisch enggeführt hat. Aber dass Gott nicht so gewiss mit den Mitteln der Vernunft erkannt werden kann, wie sie es sich vielleicht wünscht, wird als seine beunruhigende Einsicht bleiben.

Es wäre deshalb schon viel gewonnen: Wenn die Sehnsucht des Menschen nach Gott, der als dieser Gott auch der letzte Grund aller Wirklichkeit ist, als menschlichste Sehnsucht überhaupt akademisch reflektiert in der Universität Gehör fände; wenn es der Theologie gelänge, immer wieder neu diese Sehnsucht reflexiv auf den Begriff zu bringen, diese Sehnsucht als Ursprung der Frage nach dem "Woher ist überhaupt etwas und nicht viel mehr gar nichts?" und so die Gottesfrage als notwendig zu stellende Frage auszuarbeiten. Der Glaube wird sich in der akademischen Selbstreflexion dessen bewusst, was er ist, nämlich Glaube.


Gleichzeitig ist zu hoffen, dass die Empfehlungen des Wissenschaftsrates in den christlichen Theologien selbst einen intensivierten Diskussionsprozess provozieren, der um die Frage kreist, ob und wenn ja wie sie diesen Anforderungen im Wissenschaftssystem nachkommen wollen. Dabei steht nicht fest, ob es die immer wieder monierte Öffnung zu mehr Interdisziplinarität, zu einer größeren Offenheit gegenüber anderen Fachkulturen ist, die das einzige Problem darstellt. Sicherlich kann, muss hier nachgebessert werden. Gleichwohl wird sowohl im Wissenschaftssystem selbst als auch in dessen breiterer Wahrnehmung leicht übersehen, wie selbstverständlich Theologinnen und Theologen inzwischen vernetzt sind. Und es darf auch einmal gefragt werden, mit welcher Selbstverständlichkeit andere Fachkulturen meinen, die spezifische Interpretation des "Wissens" unter der Zentralperspektive Gott meinen ignorieren zu dürfen.

Der schier unaufhaltsam voranschreitende Erfolg in den Naturwissenschaften etwa verdankt sich bis heute der strikten Eingrenzung des Fragegegenstandes. Aber läuft es nicht auf eine Verarmung des "Wissens" hinaus, die Fragen nach dem "Warum ist überhaupt etwas und nicht viel mehr gar nicht? Was ist der Mensch?" zu verschweigen? Selbstverständlich können und dürfen diese Fragen nicht ins Zentrum rücken, wenn es um die Durchdringung eingegrenzter Probleme geht. Sie aber im Wissenschaftssystem einfach als unseriöse Fragen auszugrenzen, ist unwissenschaftlich. Jede nur mögliche Frage muss im Wissenschaftssystem auch eine zu stellende Frage sein. Ausschließlich entscheidend ist, ob diese Frage methodisch kontrolliert angegangen wird.

Theologie jedoch ist und muss ihrem Selbstanspruch nach Universalwissenschaft sein. Ist sie vernunftgeleitete Auslegung des Wortes Gottes, so hat sie das Weltwissen in sich zu integrieren. Gleichzeitig hält sie damit den anderen Wissenschaften unbeugsam einen Spiegel vor. In ihrer Perspektivierung des Weltwissens unter der leitenden Vorstellung "Gott" trägt sie dem Bedürfnis der Vernunft nach Einheit Rechnung - im Wissen darum, dass sie auch falsch liegen kann.


Theologie vollzieht sich als Theologie in der Welt

Zur Profilschärfung der Theologien ist es deshalb notwendig, dass die Theologien sich neu in einer sehr grundsätzlichen Weise der wissenschaftstheoretischen Frage stellen, was die Theologie zur Theologie macht und wie sie ihr Selbstverständnis als Theologie im Wissenschaftssystem ausweist. Dass die Theologien in der Vielfalt ihrer Fachkulturen sich die Methodiken nichttheologischer Fachkulturen zu eigen gemacht haben, ist ein hoffentlich unumkehrbarer Prozess. Faktisch ist dies aber als Phänomen nicht neu. Im Verlaufe der letzten Jahrhunderte ist eigentlich nur immer deutlicher erkannt worden, dass Theologie sich immer als Theologie in der Welt vollzieht, notwendig an ihr und damit auch an ihren sich immer weiter ausdifferenzierenden Wissensproduktionen teilnimmt.

Dies hängt mit der für die Moderne spezifischen Sensibilität für die Konstruktionsmechanismen von "Wissen" zusammen. Gleichzeitig vollziehen sich die Theologien in einem Wissenschaftssystem, das zwar enorm leistungsfähig ist, aber gerade deshalb auch neue Unübersichtlichkeiten und Ambivalenzen erzeugt.

Für diesen Ausdifferenzierungsprozess des modernen Wissenschaftssystems gibt es mehrere Gründe. Einer liegt in der Spezialisierung des Wissens. Je komplexer das Wissen wird, umso so spezialisierter wird es. Ein anderer Grund liegt in der Methodenvielfalt, die sich, wenn sie nicht in der Beliebigkeit enden will, vom Forschungsgegenstand herleitet. Gleichzeitig wird aber der Forschungsgegenstand nicht nur durch die angewandten Methoden konstituiert, sondern auch "entschieden". Eine naturwissenschaftliche Betrachtungsweise der Welt muss die Welt gemäß dem berühmten Axiom "etsi deus non daretur" zu begreifen suchen. Nichts ist damit aber darüber gesagt, ob die Welt nicht auch unter der Perspektive Gott betrachtet werden darf. Verneinen Naturwissenschaften dies, versündigen sie sich an den durch ihre Methodiken gesetzten Grenzen. Aber wenn Theologie sich durch die Perspektive Gott als Wissenschaft konstituiert, dann muss sie dies auch ausweisen.


So muss schließlich unabänderlich auch die unbeliebte Frage nach der Einheit der Theologie neu gestellt werden. Dies zu fordern, richtet sich ganz ausdrücklich nicht gegen die Aneignung von historisch-kritischen, sozial- und humanwissenschaftlichen und empirischen Methoden im Allgemeinen, ganz im Gegenteil. Die Theologie hat sich, wenn sie Wissenschaft sein will, diese Methoden konsequent anzueignen. Friedrich Wilhelm Graf hat das böse, wenn auch treffende Wort von der "katholischen Kreativhermeneutik" geprägt und damit gemeint: Da man immer schon weiß, was richtig ist, muss man sich erst gar nicht um die anderen Wissensdiskurse kümmern.

Ein evangelikaler Biblizismus ist übrigens ähnlich gestrickt. Und so kann es auch nicht verwundern, wenn entsprechende Geister immer wieder heilige Allianzen eingehen, wenn es gegen die Moderne geht. Dann riecht man allüberall "Relativismus", wo historisch rekonstruiert wird. Eine Theologie aber, die nicht hinter die erreichten Reflexivitätsstandards zurückfallen will, muss historisch rekonstruieren, weil sie um die Dimension der Geschichtlichkeit auch des Glaubens weiß. Das biblische Ethos ist nicht vom Himmel gefallen, aber es muss damit in seinen Grundintentionen noch nicht falsch sein.

Deshalb muss immer wieder rekonstruiert und das Rekonstruierte Fragen von Normativität zugeführt werden. Weil das Überlieferte, die geschichtlich gewordenen und sich entwickelnden Lebenswelten komplex sind, wird Theologie auch immer eine komplexe und ausdifferenzierte Wissenschaft darstellen. Aber sie darf in der sich daraus notwendig ergebenden Vielfalt ihrer Fächer, die sich wiederum aus der Komplexität ihres Selbstvollzuges ergibt, nicht die Frage vergessen, was das spezifisch Theologische ihres Faches darstellt. Historische Rekonstruktion, empirische Forschung sind noch keine Theologie. Theologie bleibt Theologie, wenn sie mit Gründen die Rede von Gott vertritt. Sie wird den Glaubensvollzug nie ersetzen und auch dem Glauben wohl nie sein bleibend Strittiges nehmen können. Nach innen und nach außen aber wird sie ihre Zentralperspektive auf alle Wirklichkeit, mithin auf Gott, wahren, will sie dauerhaft als Theologie erkennbar bleiben. Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates empfehlen diesen Mut zur Theologie mit Nachdruck.

Es wird in den nächsten Jahren auch interessant zu beobachten sein, wie die Kirchen auf die Empfehlungen des Wissenschaftsrates reagieren werden. Dies gilt für Teile der Kirchen aus der Reformation und sicherlich für die römisch-katholische Kirche. Grundsätzlich gehen die Empfehlungen davon aus, dass Religionsgemeinschaften selbst ein Interesse daran haben, die akademische Selbstreflexion ihrer Traditionen und Überzeugungen im Raum der Universität zu wollen, weil sie sich selbst davon etwas erhoffen. Der Wissenschaftsrat hat seine Stimme klar für die Theologien erhoben: weil ohne die akademische Selbstreflexion religiöser Überzeugungen im deutschen Wissenschaftssystem dieses System selbst ärmer wäre.

Aber selbstverständlich wird man auch beobachten, wie die Kirchen reagieren. Da kann es nicht einmal nur um die Frage gehen, wie viel Freiraum gewährt wird. Sondern es ist auch zu beobachten, wie freimütig die Kirchen bereit sein werden, das im Raum der Universität freimütig theologisch Gedachte als ihr Eigenes zu übernehmen. Wer sich bewegt, geht immer das Risiko des Holzweges ein. Aber auch wer meint, sich diesem Risiko nicht aussetzen und sich immer bereits auf der Seite der Wahrheit wähnen zu dürfen, könnte auf dem Holzweg sein.


Magnus Striet (geb. 1964) ist Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Freiburg und Mitglied der Arbeitsgruppe "Theologien" im Wissenschaftsrat.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 9, September 2010, S. 451-456
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2010