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UNIVERSITÄT/188: Innovative Universitäten (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2016 - Universität Bayreuth

Innovative Universitäten
Wie und warum Universitäten die Welt verändern können

Von Matthew Braham


Eine innovative Universität - was ist das? Es gibt viele Wege, an diese Frage heranzugehen. Zunächst einmal liegt es nahe, Strukturen, Aktivitäten und Leistungen einer Universität unter die Lupe zu nehmen: die Organisation, das Forschungsprofil, die Studienprogramme, die Berufungspraxis oder auch die Kooperationen mit der Industrie. Steht die Universität mit ihrer Forschung an der Spitze des technologischen Fortschritts? Wendet sie sich drängenden Problemen in der Gesellschaft zu? Was tut sie für ihre Studierenden und ihre Beschäftigten?

Doch wir können die Frage, was eine innovative Universität ist, auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Statt nur darauf zu achten, was an sichtbaren Ergebnissen aus einer Universität 'herauskommt', können wir uns ihrem innersten Kern zuwenden, genauer: ihren Werten, ihren Grundsätzen, ihrer Strategie. Ähnlich verfahren wir ja auch, wenn wir uns ein Bild vom Charakter einer Person machen wollen: Dann interessieren uns nicht (nur) einzelne Handlungen, viel wichtiger erscheint uns die moralische Integrität der Person insgesamt.

In vergleichbarer Weise können wir fragen, wofür eine Universität steht, was die eigentliche Quelle ihrer Aktivitäten in Forschung und Lehre ist. Anknüpfend an moralphilosophische Traditionen, können wir von der "Maxime" einer Universität sprechen. Oder, mit einer modernen Redewendung, von ihrem "Mission statement". Viele Hochschulen sind heute mit solchen "Mission statements" unterwegs und sprechen in diesem Zusammenhang beispielsweise von einer "Steigerung der Absolventenzahlen" oder einer "Verringerung der Studiendauer.


Reflektierende Vernunft: Ein strategischer Ansatz

Worin also besteht der Charakter einer innovativen Universität? Der Antwortvorschlag, der im folgenden weiter ausgeführt und begründet werden soll, mag zunächst überraschen:

Eine Universität ist innovativ, wenn sie sich eine grundlegende Maxime zu eigen macht: reflektierende Vernunft zu fördern.

Das Ziel ist damit die Herausbildung einer Weise zu denken, zu argumentieren und zu urteilen, die unsere gesamte Persönlichkeit prägt. Sie bezieht individuelle und soziale Aspekte unseres Lebens aufeinander und befähigt uns, innovative Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Wer sich in der Philosophie- und Bildungsgeschichte des 20. Jahrhunderts auskennt, merkt schon: Dieser Vorschlag steht in der Tradition des bedeutenden U.S.-amerikanischen Philosophen und Bildungsreformers John Dewey. Was aber ist reflektierende Vernunft? Sehen wir genauer hin, können wir vier Aspekte unterscheiden:

Aufspüren von Möglichkeiten:
Reflektierende Vernunft hält uns immer wieder dazu an, den Blick nicht allein auf das zu richten, was ist. Sie lässt uns Möglichkeiten bedenken, wie das, was ist, anders sein könnte oder sollte - und macht uns damit kreativ in allen Lebensbereichen. Wir öffnen uns für Neues und bemerken, dass der Fortschritt des Wissens nie abgeschlossen ist. Mit dieser Offenheit, die mögliche Alternativen stets in Betracht zieht, verhilft uns reflektierende Vernunft zu gut begründeten Urteilen und Entscheidungen. Sie schärft das Bewusstsein für die Qualität von Argumenten und ist damit weit entfernt von einer bloßen "Anything goes"-Attitüde.

Thematisierung von Wissen:
Wenn wir vertiefte Fachkenntnisse in einer wissenschaftlichen Disziplin erworben haben, sind wir mit deren Inhalten, Methoden und Zielen vertraut. Aber machen wir sie im akademischen Alltag zum Gegenstand bewusster Überlegungen? Erst wenn wir reflektierende Vernunft entwickelt haben, weitet sich unser Horizont: Wir beginnen zu verstehen, was Wissenschaft ist. Zugleich lernen wir, unser Fachwissen im Spektrum der verschiedenen Disziplinen einzuordnen. So werden wir uns der erklärenden und prognostischen Kraft, aber auch der Grenzen unserer Fachkompetenzen bewusst. Mehr noch: Wir entwickeln ein Gespür dafür, welche wissenschaftlichen und welche praktischen Folgen es für unsere jeweilige Disziplin hat, wenn wir darin grundlegende Voraussetzungen ändern oder neu etablieren.

Integration von Wissen:
Reflektierende Vernunft befähigt uns, besser zu verstehen, wie sich unsere eigene wissenschaftliche Disziplin zu benachbarten Disziplinen verhält. Wir schauen über die Grenzen des eigenen Faches hinaus und überlegen: Wo gibt es Überlappungen mit anderen Fächern, wo greifen Forschungsaktivitäten in benachbarte Fächer ein? Je klarer das Bild ist, das wir von solchen Wechselbeziehungen zwischen den Fächern gewinnen, desto besser gelingt es uns, Wissen und Methoden aus einer benachbarten Disziplin zu übernehmen und in die eigenen Fachkompetenzen zu integrieren. Und desto besser sind wir auch imstande, eigenes Fachwissen und eigene methodische Erfahrung in benachbarte Disziplinen einzubringen. Reflektierende Venunft ist, so gesehen, grundsätzlich interdisziplinär ausgerichtet. Sie befähigt uns, Wissen aus unterschiedlichen Disziplinen aufeinander zu beziehen und zusammenzuführen. Genau dies aber ist eine zentrale Voraussetzung, um zu neuen Erkenntnissen vorzudringen, welche den Ausgangspunkt für Innovationen in Forschung, Technologie, Wirtschaft und Gesellschaft bilden. Die Welt der eigenen Disziplin ist nicht genug, um die Welt, in der wir leben, zum Besseren zu verändern.

Kommunikation von Wissen:
Damit wir mit dieser weltoffenen Einstellung Innovationen auf den Weg bringen können, verleiht uns reflektierende Vernunft aber noch eine weitere Fähigkeit, auf die wir dabei angewiesen sind: kommunikative Kompetenz. Diese versetzt uns zunächst einmal in die Lage, am Wissens- und Erfahrungsaustausch innerhalb der eigenen Disziplin teilzunehmen. Darüber hinaus befähigt sie uns, in einen lebhaften Austausch mit Experten aus anderen Disziplinen einzutreten und fächerübergreifende Kooperationen voranzubringen. Und schließlich verhilft uns kommunikative Kompetenz dazu, die aus diesen Wechselbeziehungen hervorgehenden Erkenntnisse in die Gesellschaft hineinzutragen, wo sie den Bedürfnissen der Menschen entsprechend anzuwenden sind.

Insofern reflektierende Vernunft uns also auf eine 'Bildungsreise' schickt, die aus den Beschränkungen des eigenen Fachwissens heraus- und letztlich mitten in die soziale Welt hineinführt, könnte man sagen: Sie ist genau diejenige kognitive Kraft, die Wissenschaft und Technik humaner werden lässt. Oder, um es ein wenig pathetisch auszudrücken: Sie ermöglicht Wissenschaft mit menschlichem Antlitz.

Reflektierende Vernunft erweist sich damit als eine unabdingbare Voraussetzung für gesellschaftlichen Fortschritt - und zwar zunächst auf direktem Weg: Sie spornt uns an, die Horizonte des eigenen Wissens auszuweiten; und es ist das so entstehende neue Wissen, das aus der Welt, wie sie ist, eine bessere Welt machen kann. Darüber hinaus ist reflektierende Vernunft aber auch indirekt wirksam: Sie bewirkt, dass wir mit dem intellektuellen Habitus, den wir uns als Wissenschaftler und Studierende im Rahmen einer bestimmten Disziplin angeeignet haben, einen Platz in der Gesellschaft finden, wo wir uns sozialen und politischen Fragen öffnen. Nur so ist gewährleistet, dass unsere 'wissenschaftliche Mentalität' nicht zur bloßen Attitüde verkommt, sondern zu einer konstruktiven Veränderung von Politik und Gesellschaft beiträgt. Es sind gerade solche Veränderungen, die uns den Idealen einer freien und demokratischen Gesellschaft näherbringen.


Universitäre Bildung für eine demokratische Gesellschaft

Wie ist das zu erklären? Es sind gerade die Merkmale reflektierender Vernunft, die eine 'demokratische Persönlichkeit' ausmachen. Mit diesem Begriff können wir ein modernes Bildungs- und Erziehungsideal charakterisieren, das in den Gedanken der Aufklärung wurzelt. Reflektierende Vernunft macht uns gegen jedwede autoritäre Versuchung immun. Denn sobald wir sie erworben haben, sind wir gleichsam darin trainiert, uns im Denken und Handeln über soziale, ethnische und nationale Grenzen hinwegzusetzen - oder allgemein gesagt: Barrieren zu überwinden, die von externen Autoritäten aufrechterhalten werden (sei es von der Kirche, vom Staat, von einer sozialen Klasse oder einer politische Partei). Dies sind die Ideale der Aufklärung, des "Age of Reason".

Reflektierende Vernunft hat für solche Autoritäten keine Sympathien. Sie macht uns misstrauisch gegenüber jeder einseitigen, unüberlegten Parteinahme. Die einzige Fahne, die sie hochhält, ist das Ideal einer freien denkenden Persönlichkeit. Und so wird die Maxime, reflektierende Vernunft zu fördern, wegweisend für eine Universität, die Bildung in und für eine demokratische Gesellschaft vermittelt.

Aber ist dieses Ideal überhaupt realisierbar? Ja, und zwar aus einem einfachen Grund. Damit wir es als Lehrende und Forschende in einer Universität verwirklichen können, sind keine neuen Gesetze und erst recht keine anderen Institutionen nötig (schon Immanuel Kant wusste: Tugend kann nicht erzwungen werden). Wie für alle regulativen Prinzipien, gilt auch für die Maxime, reflektierende Vernunft zu fördern: Ob und wie wir sie anwenden, beruht allein auf unserer persönlichen Entscheidung.


Praktische Konsequenzen

Für das Herzstück unseres universitären Alltags, die wissenschaftliche Lehre, ergeben sich daraus ganz praktische Konsequenzen: Wenn wir Curricula konzipieren und neue Studienprogramme auf den Weg bringen, müssen wir immer bedenken, ob wir den Studierenden damit tatsächlich die Chance eröffnen, reflektierende Vernunft zu entwickeln - und zwar genau unter den vier Aspekten des Aufspürens von Möglichkeiten sowie der Thematisierung, Integration und Kommunikation von Wissen.

  • Fördern wir in unseren Lehrveranstaltungen ein Reflexionsvermögen, das die Studierenden in die Lage versetzt, vorgegebene Tatsachen auf methodisch bewusste Weise in eine Beziehung zu möglichen Alternativen zu setzen? Tun wir genug, um in ihnen die Freude am Aufspüren solcher Alternativen zu wecken?
  • Sind unsere Curricula geeignet, um Studierende - sei es in Bachelor-, Master- oder Promotionsprogrammen - an ein grundsätzliches Verständnis von Wissenschaft und ihrer jeweiligen Disziplin heranzuführen? Sind wir als Lehrende hinreichend bescheiden und selbstkritisch in Bezug auf die Wissens- und Forschungsgebiete, die unseren akademischen Alltag prägen?
  • Geben wir den Studierenden genügend Freiräume, um eigene Ideen an den Grenzen ihres jeweiligen Faches zu erproben und sich Wissen aus benachbarten Disziplinen anzueignen? Oder ist uns nur daran gelegen, einen Wissenskanon abzuarbeiten, der keine interdisziplinären Grenzüberschreitungen zulässt und 'experimentierendes Denken' mehr behindert als fördert?
  • Und schließlich: Fordern wir unsere Studierenden in dem erforderlichen Maß heraus, sich engagiert den praktischen Problemen zuzuwenden, mit denen sich unsere Gesellschaft heute konfrontiert sieht? Werden sie von uns hinreichend dazu ermutigt, für die Welt, in der wir leben, neue zukunftsweisende Lösungsvorschläge zu entwickeln und alternative Konzepte zu prüfen?

Allen diesen Fragen müssen wir uns stellen, wenn wir eine Wissenschaftskultur etablieren wollen, in der reflektierende Vernunft gedeihen kann. Die Antworten sind nicht in organisatorischen Strukturen zu finden. Und auch nicht in Zusatzqualifikationen, die wir gewohnt sind, als "Softskills" zu bezeichnen. Im Gegenteil, es geht um ein Verständnis wissenschaftlicher Bildung, das für die Organisation aller Studiengänge konstitutiv sein sollte - und für alle Aktivitäten, die wir als Lehrende darin entfalten.

Vertrauen wir also unserer Maxime, reflektierende Vernunft zu fördern: Dann werden wissenschaftliche und soziale Innovationen - als Bestandteile einer vernunftgeleiteten Neugestaltung unserer Welt - wie von selbst folgen. Weshalb? Weil wir kreative, ja sogar moralische Kräfte freisetzen, die in jedem einzelnen Menschen auf ihre Chance warten. Eine Universität mit dieser Strategie wird die innovativsten Köpfe für sich gewinnen, die nur darauf brennen, sich entfalten zu können. Gibt es etwas Besseres, was wir uns von einer Universität wünschen können?


AUTOR
Prof. Dr. Matthew Braham ist Professor für Politische Philosophie und Moderator des Studiengangs "Philosophy & Economics" an der Universität Bayreuth.

Übersetzung des Beitrags aus dem Englischen: Christian Wißler

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juli 2016, Seite 6-9
Herausgeber: Universität Bayreuth
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Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. August 2016

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