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AKZENTE/120: Zum 100. Todestag von Mark Twain (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010

Humorist und Misanthrop
Zum 100. Todestag von Mark Twain

Von Hanjo Kesting


"Ich bin überzeugt", schrieb George Bernard Shaw in einem Brief an Mark Twain, "dass der künftige Geschichtsschreiber Amerikas Ihre Werke ebenso unentbehrlich finden wird wie ein französischer Geschichtsschreiber die politischen Abhandlungen Voltaires." Shaw umriss mit diesen Worten die historische Rolle Mark Twains. Ein Urteil, das jeden überraschen wird, der in ihm vor allem einen Jugendbuchautor sieht.


Die Abenteuer zweier halbwüchsiger Heiden, Tom Sawyer und Huckleberry Finn, haben Mark Twains Ruhm in aller Welt verbreitet. Doch muss man zwischen beiden Büchern unterscheiden. Tom Sawyer ist ein klassisches Jugendbuch und wurde in dieser Absicht geschrieben; Huckleberry Finn dagegen zählt zu den großen Romanen Amerikas. Hemingway erklärte, die Literatur seines Landes habe mit diesem Buch überhaupt erst begonnen.

Samuel Langhorne Clemens, wie Mark Twain eigentlich hieß, gehörte mit allen Fasern seines Wesens in die Pionierwelt Amerikas. Er wurde 1835 in Missouri geboren als Sohn eines Pionier Vaters, der aus Virginia stammte und nach Missouri gekommen war, um sich seinen Grenzertraum vom großen Reichtum zu erfüllen. Der kleine Sam Clemens wuchs in Hannibal auf, in einer halb gesetzlosen Welt voller Schrecken und Wonnen. Tom Sawyer und Huckleberry Finn schildern dieses Knabenparadies im Licht liebevoller Jugenderinnerung. Sam wurde Lehrling in einer Druckerei, dem "College für arme Leute"; mit 18 Jahren entschloss er sich plötzlich, Lotse auf einem Mississippi Dampfer zu werden. Der damals noch ungezähmte Fluss war in einer Länge von mehreren tausend Kilometern die Hauptverkehrsader des Kontinents, und die Phantasie des Dichters hätte keine anregendere Beschäftigung finden können als das farbige und zuweilen gefährliche Leben, auf das er von seinem Steuerhäuschen herabschaute.

Diese Zeit seines Lebens hat Mark Twain später sehnsuchtsvoll verschönernd in seinem Leben auf dem Mississippi dargestellt. Doch ist er nie wieder zum Lotsenberuf zurückgekehrt, nachdem der beginnende Bürgerkrieg diese Tätigkeit beendet hatte. Er ging in den Westen, suchte Gold in den Bergen der Rocky Mountains und wurde in Virginia City Reporter für die legendäre Zeitung The Territorial Enterprise. Als Journalist brauchte er ein Pseudonym, und er wählte den Ruf der Flussschiffer auf dem Mississippi, wenn sie zwei Faden Tiefe messen: "Mark Twain" - das berühmteste Pseudonym der amerikanischen Literatur. Er schrieb erste humoristische Geschichten, hatte Erfolg mit der Kurzgeschichte vom Berühmten Springfrosch von Calaveras und schloss sich einer Reisegesellschaft nach Europa an, deren Route rund um das Mittelmeer und nach Palästina führte. Der Vergnügungsdampfer hieß ausgerechnet Quaker City.

Mark Twain schickte Berichte von dieser Reise an eine Zeitung und machte daraus später ein Buch. Es hieß The Innocents Abroad, war sein eigentliches Debütwerk und brachte ihm die gewaltige Summe von 300.000 Dollar ein. Dafür kaufte er sich eine luxuriöse Villa in Hartford. Auch seine Frau Olivia war eine Frucht der Schiffsreise, denn an Bord hatte er ihren Bruder kennen gelernt. Der trug ein Bild der Schwester mit sich, in das sich Mark Twain verliebte, ganz wie der Prinz Tamino in der Zauberflöte.

Von einem Tag auf den anderen war er ein namhafter Schriftsteller. Doch passte sein Erfolg zum historischen Augenblick. Der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten lag nur wenige Jahre zurück, und es begann der unaufhaltsame Aufstieg des Landes zur Weltmacht. Die industrielle Konjunktur setzte ein und brachte materiellen Reichtum, der viele Amerikaner in die Lage versetzte, eine Schiffspassage über den Atlantik zu buchen. Mark Twains Buch stärkte das amerikanische Selbstbewusstsein, denn der Autor machte sich lustig über die kulturellen Traditionen des alten Kontinents. So wurde er zur Stimme eines neuen Amerika, ein Schriftsteller, der mit seiner Unbildung kokettierte und ohne Hemmung nach dem größten Publikum und dem lautesten Applaus strebte. Zweifellos hat Mark Twain mehr als jeder andere Schriftsteller zur "Amerikanisierung" der amerikanischen Literatur beigetragen. Er trug einen Fundus an Material aus dem Mythen- und Sagenschatz des Landes zusammen und entwickelte zugleich ein Arsenal an Erzähltechniken, welches die Nation brauchte, um sich ein Bild von sich selbst zu erschaffen. Vor allem hat Mark Twain - das entspricht Hemingways Beobachtung - der gesprochenen Sprache Eingang in die Literatur verschafft. Seine witzige, oft improvisiert wirkende Prosa nährt sich von der Tagessprache, dem Dialekt, dem Slang, der nüchternen Ausdrucksform der Journalisten und vielen anderen Berufssprachen. Zwar erscheint diese Prosa, in einem künstlerisch ohnehin ungleichmäßigen Werk, zuweilen roh und undiszipliniert, aber viel deutet daraufhin, dass sie das Ergebnis bewusster Arbeit war. Man kann ihr sogar einen experimentellen Charakter nicht absprechen. Die Geschichte von Huckleberry Finn ist das beste Beispiel dafür, nicht nur durch die unverwechselbare Sprechweise des jugendlichen Erzählers. Mark Twain hat dem Buch die Erklärung vorangestellt, dass darin sieben verschiedene Dialekte oder Halbdialekte verwendet würden, und er hat hinzugefügt: "Diese Schattierungen sind nicht willkürlich oder auf gut Glück vorgenommen worden, sondern sorgfältig und mit dem zuverlässigen Rat und der Unterstützung, die der Autor aus der persönlichen Vertrautheit mit diesen verschiedenen Sprachformen gewonnen hat."

Mark Twain wollte keine Moral lehren, keine Botschaft verkünden, er wollte nicht einmal "anspruchsvolle" Literatur schaffen. Er war ganz einfach stolz auf seine Kunst, Geschichten zu erzählen und ein Publikum zu packen, auch auf die Gefahr hin, gelegentlich an rudimentäre Intellekte und allzu simple Instinkte zu appellieren. Er fand Befriedigung darin, in der Rolle des Unterhaltungsschriftstellers aufzutreten. "Ich habe nie versucht, zur Bildung der gebildeten Stände beizutragen", schrieb er. "Ich war stets nach größerem Wild auf der Jagd: nach den Massen. Selten habe ich mir vorgenommen, sie zu belehren, aber ich habe mein Bestes getan, sie zu unterhalten." Diesem Ziel ist Mark Twain sehr nahe gekommen. Er wusste die Massen zu zwingen, kannte die Zauberformeln des Erfolgs. Bereits zu Lebzeiten erklomm er die Stufenleiter des Ruhmes. Seine Laufbahn war eine amerikanische success story, auch wenn sie im Alter zunehmend überschattet war von Menschenfeindschaft und düsterem Pessimismus.

Zeitlebens hat sich Mark Twain für das Phänomen des Geldes interessiert, in seinem wirklichen Leben wie in seinen literarischen Werken. Er war stolz darauf, einer der bestbezahlten Schriftsteller seiner Zeit zu sein. Das hinderte ihn nicht, den Versuch zu machen, auch auf andere Weise als durch Schreiben zu Geld zu kommen: etwa durch Finanzspekulationen großen Stils oder Erfindungen praktischer Art. Ein Brettspiel mit Geschichtszahlen, ein stets an der gewünschten Stelle aufklappbares Notizbuch und ein Hemd ohne Knöpfe gehörten zu seinen Kreationen. Die verschwenderische Lebensweise in der Villa von Hartford, wo er den Großteil der 70er und 80er Jahre verbrachte, aber auch die aufwendigen Überseereisen - er hat nicht weniger als 27 im Lauf seines Lebens absolviert - haben etwas märchenhaft-phantastisches an sich, das selbst auf seine engsten Freunde unwiderstehlich wirkte.

In mancher Hinsicht gleicht er den Helden seiner berühmtesten Bücher, er trug die Seelen beider Geschöpfe in seiner Brust: Tom Sawyers profittüchtige Yankee-Seele, deren Konturen in all seiner liebenswürdigen Jugendlichkeit schon erahnbar sind, und Huck Finns struppige Vagabundenseele. So betrachtet, erscheint selbst das Schriftstellerpseudonym, das Samuel Clemens wählte, keineswegs zufällig: das englische Wort "twain" heißt ja "zwei" oder "beide". Mark Twain war in der Tat zwiegespalten, ein knabenhaftes Doppelwesen. Wie Tom Sawyer suchte er nach einem Schatz, nach schnellem Geld und wunderbarem Reichtum. Und doch war ihm dunkel bewusst, dass Geld nur ein zivilisatorisches Surrogat darstellt für tiefer liegende Wünsche - nach diesen ist Huck Finn, sein alter ego, unterwegs. Mark Twain selber, ein Puritaner vom Scheitel bis zur Sohle, hat sich diese Wünsche im realen Leben niemals zu erfüllen gewagt. Dafür durchsetzen sie sein ganzes Werk, voran die beiden berühmten Romane: von der Schatzsuche in labyrinthischen Höhlen, wie sie in den Abenteuern des Tom Sawyer beschrieben wird, bis zur Floßfahrt auf dem großen Mississippi in den Abenteuern des Huckleberry Finn - es ist Mark Twains stärkste Vision von Freiheit und Glück.

Um die Jahrhundertwende war Mark Twain mit seiner hageren, meist in Weiß gekleideten Gestalt, dem mächtigen Kopf mit den markanten Zügen, der kräftigen Adlernase, den buschigen Brauen, den scharfen, graublauen Augen und der weithin leuchtenden weißen Mähne eine achtunggebietende Persönlichkeit. In der Welt der self made men war er der große Geschäftsmann der Literatur, zugleich ein nationaler Autor, der erste Amerikas, in dem sich alle Bevölkerungsschichten wiederfinden konnten. Seine Bücher waren in Millionenauflagen verbreitet, und es fehlte auch nicht an Anerkennung von Kollegen: Kipling nannte ihn den "göttlichen Clemens", Howells verglich ihn mit Cervantes und Shakespeare.

Am Ende aber stand Mark Twains Einsicht, dass der pursuit of happiness nicht für alle bestimmt ist, denn "das Glück ist für die Glücklichen, für die übrigen dagegen ist Arbeit und Mühe". So spielte der Schriftsteller viele Rollen, die des Possenreißers und des Repräsentanten, des Hofnarren und des Volkserziehers, des Selfmademan und des Propheten, des Millionärs und des Anwalts der Armen. Er war der große Poseur seines Zeitalters, aber mit seinem Werk schuf er die Grundlagen für die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts.


NEUE BÜCHER ZUM THEMA:

Mark Twain: Post aus Hawaii, hrsg. und aus dem Amerikanischen übersetzt von Alexander Pechmann, Mare Verlag, Hamburg 2010, 368 Seiten, 24,70.

Mark Twain: Knallkopf Wilson, aus dem Amerikanischen übersetzt von Reinhild Böhnke, Nachwort von Manfred Pfister, Manesse Verlag, Zürich 2010, 320 Seiten, 19,95.


Hanjo Kesting (* 1943) Kulturredakteur dieser Zeitschrift.
Zuletzt erschien bei Wallstein: Ein Blatt vom Machandelbaum. Deutsche Schriftsteller vor und nach 1945.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2010, S. 66-69
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
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Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juni 2010