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AKZENTE/126: Argentiniens Literatur auf der Frankfurter Buchmesse (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010

Das Trauma der Diktatur
Argentiniens Literatur auf der Frankfurter Buchmesse

Von Michi Strausfeld


Argentinien, Ehrengast der Frankfurter Buchmesse, feiert in diesem Jahr den 200. Jahrestag der Unabhängigkeit. Wie andere Länder Lateinamerikas, die jetzt ihres "Bicentenario" gedenken, will es einen Neubeginn signalisieren, für die Bürger, um ihnen Hoffnung zu machen, und für die Weltöffentlichkeit, damit das Land wie der gesamte Kontinent endlich wieder Beachtung finden und ein Dialog der Kulturen beginnen kann. Die mitreißende Kreativität der Argentinier kann man auf der Buchmesse bewundern, desgleichen den Reichtum der Literatur. Mehr als 60 Novitäten und eine umfangreiche Backlist laden die Leser zu Entdeckungsreisen ein.


1810 war das Jahr der Fanfaren und Festlichkeiten. In Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Chile und Argentinien feierten die vormaligen Kolonien endlich ihre Unabhängigkeit von der "madre patria", Spanien. Vorausgegangen waren jahrzehntelange bürgerkriegsähnliche Kämpfe und Befreiungskriege. Die Bevölkerung sehnte sich nach Ruhe, nach einem Neuanfang. Aber die Gesellschaften waren gespalten: Es gab die wenigen Reichen und eine Masse von ungebildeten Armen, Indios, Sklaven. Ein schweres Erbe, das die neokoloniale Ordnung, die jetzt ihren Siegeszug antrat und ein Jahrhundert lang die Geschicke im Kontinent bestimmte, nicht zu schultern wusste. So war das 19. Jahrhundert Lateinamerikas geprägt von großen gesellschaftlichen Umbrüchen. Dies erklärt auch, warum es so viele Diktatoren gab: Stets versprachen sie Stabilität, um diese Versprechen sogleich zu vergessen sobald sie die Macht fest in Händen hielten.

Spanien hatte seinen Kolonien verboten, Romane und "Geschichten von Amadís" zu lesen und dadurch an der literarischen Kultur des Mutterlandes teilzuhaben, der Export solcher Bücher wurde streng geahndet. Zur Lektüre dienten die Bibel und erbauliche Schriften. Die schulische Erziehung und intellektuelle Ausbildung der Untertanen waren drei Jahrhunderte lang mehr als bescheiden. Das erklärt, warum sich die Literatur in Lateinamerika nur zögerlich entwickelte. In Argentinien veränderten riesige Immigrantenströme zwischen 1890 und 1920 die Bevölkerungsstruktur. Italiener, Spanier, Polen, Ukrainer und andere Europäer kamen zu Zigtausenden an und sorgten dafür, dass sich das dünn bevölkerte Land zu einer boomenden Wirtschaftsmacht entwickeln konnte. Buenos Aires wurde zu einem "Schmelztiegel", dem sowohl der Tango wie die moderne Literatur ihr Entstehen verdankten. Daher überrascht es nicht, dass die Argentinier gerne sagen: "Wir stammen von den Schiffen ab".

Wichtig für die Geschichte der argentinischen Literatur ist das Nationalepos Martín Fierro von José Hernández (1834-1886), das die harte Arbeit des Gaucho in den unendlichen Weiten der Pampa preist und zugleich ihre Missachtung durch die Gesellschaft denunziert. Er protestiert gegen das Unrecht, die Misshandlungen, die Ausbeutung und die Rechtlosigkeit - die Dichotomie Land versus Stadt, Barbarei versus Zivilisation. Jedes argentinische Schulkind kennt einige Strophen des Versepos auswendig, und die Texte über die Heldentaten der Gauchos in der argentinischen Literatur füllen Bände.

1910 feierte Buenos Aires die ersten 100 Jahre der Unabhängigkeit mit unglaublichem Pomp, berühmte Europäer wie Georges Clemenceau oder Anatole France reisten eigens an, und im Teatro Colón gastierten schon seit langem die berühmtesten Künstler der Welt. Das überrascht nicht, denn damals zählte Argentinien zu den zehn reichsten Ländern der Welt, das Kulturleben war beeindruckend in seiner Qualität und Vielfalt, die Metropole hatte magnetische Anziehungskraft. Obwohl die politische Lage während des ganzen 19. Jahrhunderts äußerst instabil geblieben war, hatte sich die Wirtschaft - insbesondere dank der Viehzucht und des Fleischexports - vortrefflich entwickelt. Aber es blieb bei der von den spanischen Kolonialherren vererbten ungerechten Aufteilung: die Gauchos und Landarbeiter fristeten ein elendes Leben, und überdies waren ihre Proteste während der 20-jährigen Diktatur von Juan Manuel Rosas blutig unterdrückt worden. Nun war es still um sie geworden, und so konnte man sie in der glanzvollen Hauptstadt mit Prachtavenuen, Luxuswohnungen, Theatern und Tangostätten bequem vergessen. Sie waren und blieben die "Barbaren", die aber dafür zu sorgen hatten, dass der Wohlstand weiter wuchs, damit Buenos Aires, also die "Zivilisation", zum "Paris Lateinamerikas" werden konnte. Die "porteños" fühlten sich als Europäer - mit dem Kontinent wollten sie ansonsten nicht viel zu tun haben, denn bis in die 70er Jahre fühlten sie sich kultivierter als der Rest. Daher stammt auch der oft wiederholte und zweifelhafte Ruf, Argentinier seien arrogant und eingebildet.


Beeindruckende Fülle fantastischer Literatur

Ein "Who is Who" der Autoren, die vor 1900 geboren wurden, enthält vor allem die Namen Domingo Faustino Sarmiento, Jorge Luis Borges und Roberto Arlt. Arlt ist leider ein großer Unbekannter geblieben, obwohl Anfang der 70er Jahre seine beiden großen Romane Die sieben Irren und Die Flammenwerfer im Insel Verlag publiziert wurden und 2006 noch der Kurzroman Das böse Spielzeug (Suhrkamp) folgte.

Arlt und Borges waren die konträren Persönlichkeiten des Literaturbetriebs. Borges verkörperte die Elite, er lebte in der Nähe der eleganten Einkaufsstraße Florida, Arlt hingegen im proletarischen Viertel Boedo, seine Texte beschäftigen sich mit Armen, Kleinkriminellen und Entrechteten. So begründeten sie zwei "Schulen", Florida und Boedo, die bis in die 70er Jahre ihre Anhänger und Gegner fanden und zu heftigen Polemiken Anlass gaben. Den früh verstorbenen und oft visionären Roberto Arlt zu entdecken ist eine Herausforderung, die deutsche Verlage und Übersetzer hoffentlich bald in Angriff nehmen werden.

Die zweite Jahrhunderthälfte brachte den internationalen Durchbruch einer Vielzahl von Autoren, die exzellente Werke und "Weltliteratur" geschaffen haben - so Julio Cortázar. Sein Roman Rayuela - Himmel und Hölle (1963, dt. 1981) wurde zum Kopfkissenbuch von Hunderttausenden, es faszinierte Autoren und Leser auf dem ganzen Kontinent, wie auch die europäischen und nordamerikanischen Leser. Cortázar ließ die "Worte tanzen und hüpfen", und er lud den Leser ein, als Komplize mit ihm gemeinsam den Roman zu schaffen. Heute bewundert man Cortázar vor allem als Verfasser von fantastischen Kurzgeschichten, und in der Tat zählen seine Erzählungen zum Besten, was das "Genre" der Fantastik zu bieten hat.

Hier soll eine Besonderheit der Literatur des Río de la Plata betont werden: Nirgendwo in Lateinamerika existiert eine solche beeindruckende Fülle fantastischer Literatur. Cortázar hat dazu angemerkt, es sei eine "Phantastik um zwölf Uhr mittags", während die angloamerikanischen Autoren das Erschrecken in die Mitternacht verlegt hätten. Hier sollen Adolfo Bioy Casares, Silvina Ocampo, Borges, Arlt und Antonio di Benedetto genannt werden... aber die Liste ist deutlich länger.

Adolfo Bioy Casares schrieb: "Wenn ich an den Reichtum der phantastischen Literatur zu beiden Seiten des Río de la Plata denke, frage ich mich: Wie kommt es zu einem solchen Glücksfall? Und sogleich rufe ich aus: Hoffentlich hat er noch lange Bestand!" Bioy Casares kann beruhigt sein: Auch 2010 sind die Kraft und Lebendigkeit der fantastischen Literatur in Argentinien ungebrochen, man denke an die vielen jungen Autoren (Samantha Schweblin, Félix Bruzzone, Patricio Pron), die neue Facetten des "Genres" erkunden. Auch ein politisches Ereignis trug entscheidend dazu bei, dass der Fantastik sozusagen Flügel wuchsen: die Militärdiktatur von 1976-1983, die etwa 30.000 Tote und "Verschwundene" zu verantworten hat. Das übertraf jede Vorstellungskraft, so etwas hatte es noch nie gegeben. Wie sollte man eine Erklärung finden für Tausende von "Verschwundenen", deren Leichen mehrheitlich bis heute nicht aufgefunden wurden? Wie die Geschichte der "geraubten Babys" erzählen, deren Mütter von ihren Folterern nach der Geburt umgebracht wurden, während die Neugeborenen zur Adoption - vor allen an ihre Peiniger, die Militärs - freigegeben wurden?


Tomás EIoy Martínez

Die Diktatur prägt unübersehbar die Literatur der letzten beiden Jahrzehnte, bestimmt die Arbeit vieler der jüngeren und jüngsten Autoren. Zu gewaltig waren die politisch-sozialen Ereignisse, die die Nation in ihren Grundwerten und in ihrem Selbstverständnis erschütterten. Die zivilisierte, europäisch geprägte Nation fand sich plötzlich an der Seite der schlimmsten Diktatoren des Kontinents wieder, hatte Verbrechen erfunden, die es in der Geschichte der Menschheit bislang noch nicht gegeben hatte. Politisch, ökonomisch und moralisch war die Herrschaft der Militärs eine Katastrophe. Tausende von Argentiniern flüchteten ins Exil - weil sie bedroht waren oder keine Zukunft sahen. Der viel gelobte und seit Jahrzehnten schrumpfende Reichtum des Landes war nur noch eine Chimäre, denn die Wirtschaft Argentiniens bewegte sich unaufhaltsam dem Abgrund entgegen: 2001 war der Staatsbankrott erreicht.

Ein Roman erläutert quasi exemplarisch die Traumata der jüngsten Geschichte Argentiniens: Purgatorio von Tomás Eloy Martínez (1934-2010). Der legendäre Journalist der 60er und 70er Jahre, der hartnäckig unbequeme und akribisch recherchierte Reportagen publizierte, musste nach mehrfachen Todesdrohungen ins Exil fliehen. Er lebte in Caracas, Mexiko und schließlich in den USA, wo er an der Rutgers University/New Jersey Literatur unterrichtete. In den langen Jahren des Exils schrieb er Romane, in denen er sich mit der Geschichte seines Landes intensiv beschäftigte, vor allem mit dem Peronismus - der für viele als Ursprung des Niedergangs Argentiniens gilt. Dokumentation und Fiktion verschmolzen zu einem neuen literarischen "Genre", oft als "Faction" bezeichnet, das inzwischen in ganz Lateinamerika zahlreiche Anhänger gefunden hat und von Autoren und Publikum geliebt wird. Der General findet keine Ruhe (Originaltitel: La novela de Perón) und vor allem Santa Evita sind seine herausragenden Werke, die weltweit Erfolge feierten und dem europäischen Leser Argentinien verständlicher machen. In Purgatorio sucht die Protagonistin Emilia verzweifelt und jahrzehntelang nach ihrem "verschwundenen" Ehemann - glaubt ihn in Rio, Caracas oder schließlich in New Jersey zu sehen, halluziniert, erinnert sich an alle Einzelheiten, an die Verstrickungen des Vaters mit Militär und Klerus und das Spektakel der Fußballweltmeisterschaft 1978, inszeniert inmitten der blutigen Diktatur. Anhand des Schicksals von Emilia liefert Tomás Eloy Martínez eine packende, informative Analyse der Diktatur: facettenreich und literarisch faszinierend.


Den Blick nach vorne richten

Von den jüngeren Autoren, die nach dem Zusammenbruch des Landes 2001 zu publizieren begannen, sei stellvertretend für viele Martín Kóhan (Jahrgang 1967) erwähnt. In mehreren Romanen erkundet er subtil und packend die Perversionen der Macht: "Ab wie viel Jahren kann man ein Kind foltern" lautet die Frage in Zweimal Juni, die ein Militär offiziell beantworten lassen will. Sittenlehre hingegen beschreibt, wie in einem geschlossenen Bereich - hier eine Schule - Sexualität, Macht und Perversionen zusammenspielen, um Menschen zu quälen, ihre Existenz zu vernichten.

Das allgegenwärtige Klima der Angst, die erzwungene oder freiwillige Angepasstheit haben eine ganze Generation geprägt - davon versuchen sich die Autoren freizuschreiben. Die Aufarbeitung der Geschichte ist das unübersehbare Leitmotiv der zeitgenössischen Literatur - auch wenn einige der jüngsten Schriftsteller davon jetzt nichts mehr wissen wollen und ihr Augenmerk auf andere Themen richten, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, und dazu neue Schreibweisen und eine radikal moderne Ästhetik verwenden. Schließlich ist Argentinien ein demografisch "junges" Land, mit einem Durchschnittsalter von ca. 30 Jahren (Deutschland ca. 44 Jahre): Da möchte man den Blick nach vorne richten, nicht immer nur zurück.


Michi Strausfeld lebt in Berlin und Barcelona. Sie war von 1974-2008 für den Suhrkamp Verlag verantwortlich tätig für die Spanisch-lateinamerikanische Literatur. Seit 2008 arbeitet sie im gleichen Bereich für den S. Fischer Verlag. Herausgeberin zahlreicher Anthologien, als letztes erschien: Schiffe aus Feuer. 36 Geschichten aus Lateinamerika (2010)
michi.strausfeld@gmx.com


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2010, S.65-68
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Dezember 2010