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AKZENTE/127: Kein Schweigen hinter Gittern (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2011

Kein Schweigen hinter Gittern
Zum Auftrag von Writers in Prison

Von Klaus Harpprecht


Im April 1960 entstand, dank einer Initiative des PEN-Clubs der französischen Schweiz, das Komitee Writers in Prison. Im vergangenen Jahr wurde es 50 Jahre alt. Der "Writer in Prison Day" jährte sich am 15. November zum 30. Mal. Auf einer Jubiläumsveranstaltung im Haus der Berliner Festspiele hielt Klaus Harpprecht folgende Rede, die wir hier in gekürzter Form dokumentieren.


In dem instruktiven Essay über das Writers in Prison-Committee von Gerhard Schönberner, der sich im letzten Autorenlexikon des deutschen PEN-Zentrums findet, begegnen wir der erstaunlichen Information, dass auf dem berühmten PEN-Kongress von Ragusa-Dubrovnik 1933, zwei Wochen nach dem gespenstischen Zeremoniell der Bücherverbrennung, fast noch in Sicht- und Hörweite dieses grellen Signals, sich viele Delegierte gegen eine Resolution auflehnten, weil der Club sich nicht in die "inneren Angelegenheiten" eines Staates einzumischen habe. Als am Ende doch ein Protest formuliert wurde, sagte sich ein Viertel der Mitglieder von PEN los. Schönberner berichtet weiter, dass im Jahre 1934 der PEN-Präsident H.G. Wells mit dem Vorschlag, einen Hilfsfonds für verfolgte Autoren zu schaffen, gescheitert sei. Doch im selben Jahr 1934 schlossen sich in London viele der Schriftsteller, die aus dem Dritten Reich geflohen waren oder vertrieben wurden, im "Deutschen PEN-Club im Exil" zusammen. Die Vereinigung etablierte sich hernach von Neuem als "PEN-Club deutschsprachiger Autoren im Ausland" - fast bis zu seinem Tod von dem jüdisch-deutsch-tschechischen Journalisten und Schriftsteller, dem körperlich so kleinen und als Persönlichkeit so großen Fritz Beer präsidiert. Beer war natürlich längst Bürger des Vereinigten Königreiches, und er trug den Titel eines Commander of the British Empire. Von ihm wird hier noch einmal die Rede sein.

Das Writers in Prison Commitee trat im April 1960 in die Welt, es wurde jetzt 50 Jahre alt. Für mich, gewiss auch für viele andere Mitglieder, ist PEN ohne diese Institution nicht denkbar. Die Aufgabe, die sie zu erfüllen hat, wird - wir wissen es - leider niemals ein Ende finden. Sie ließe sich mit dem Ethos des Sisyphos nach dem Essay von Albert Camus definieren: dem Bewusstsein des unentrinnbaren Scheiterns, das dennoch den Willen nicht brechen kann, den Stein wieder und wieder bergaufwärts zu wälzen.


Der Autor als Stellvertreter

Albert Camus starb, 47 Jahre alt, im Januar 1960 bei einem Autounfall. Die Geburt des Writers in Prison-Projektes erlebte er nicht mehr. Er wäre der glaubwürdigste Pate gewesen, den man sich für das Programm gewünscht hätte. Vielleicht hätte er als erster bemerkt, dass eine Literaturgeschichte der Autoren hinter Gittern geschrieben werden müsste (wenn es sie nicht schon gibt). Freilich müsste am Anfang der Studie stehen, dass die Schreiber nicht den einzigen Stand bilden, dessen Mitglieder als Zeugen des freien Geistes eingekerkert waren oder sind. Dichter, Schriftsteller, Journalisten sind keine moralisch privilegierte Sorte Mensch, deren Geschick mehr zählte als das eines verhafteten Stahlarbeiters, einer Chemie-Laborantin, einer Studienrätin, eines Ministerialbürokraten oder Klavierstimmers. Die "vom PEN registrierten Fälle", schrieb Gerhard Schoenberner, sind "nur die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs, denn auf einen verhafteten Autor kommen sicher hundert Bürgerrechtler und Gewerkschafter, Streikführer und politische Oppositionelle, Arbeiter und Studenten..."

Es ist wichtig, dies nicht aus den Augen zu verlieren, und es hat seine tröstliche Logik, dass nach dem Beispiel der Writers in Prison-Committees, Amnesty International gegründet wurde, inzwischen zu einer grandiosen Organisation herangewachsen. Nein, wir sind kein Stand der Lichtgestalten. Schoenberner sagt zu Recht, die kritischen Intellektuellen seien "in vielen Ländern das einzige Sprachrohr derer..., die ihre Lebensinteressen nicht selbst artikulieren und vertreten können". Wohl wahr. In den Berichten des Londoner Büros von Writers in Prison, die zweimal im Jahr gedruckt werden, sind allemal an die tausend Namen verzeichnet. Das ist gewiss nicht die ganze Liste der Inhaftierten.

In den 30er und 40er Jahren wäre das Verzeichnis der Gefangenen noch länger gewesen. Im Auftakt der großen Säuberung Stalins im Jahre 1936 bekannte der Genosse Ottwalt (recte Ernst Gottwalt Nicolas) in einer "kritischen und selbstkritischen" Endlosdebatte der deutschen Exilkommunisten in Moskau: "Sehr viele Genossen kommen zu uns Schriftstellern. Man sieht den Schriftsteller als eine Figur an, die innerhalb und außerhalb der Partei steht... Es ist eine Tatsache, dass alle Elemente der parteifeindlichen Gruppierungen sich diese Tatsache zunutze machen." Innerhalb und außerhalb der Partei. Das ging nicht an. Diese "versöhnlerische Haltung" führte direkten Weges in den Gulag oder, noch umstandsloser, in die Hinrichtungskeller der Lubjanka.

Dies hatte freilich zur Folge, dass Literatur, dass Dichtung, die den Namen verdienten, außerhalb der Partei, aber innerhalb des Gulag geschaffen wurde - man denke nur an Osip Mandelstam, der Stalin in einem Epigramm einen "Mörder und Bauernschlächter" genannt hatte: Er schrieb seine bewegendsten Gedichte in der Verbannung, ehe er am Jahresende 1938 in einem Lager bei Wladiwostok starb. Die Witwe lernte seine Werke auswendig. So überlebten die Verse, die zu den schönsten und bedeutendsten der russischen Lyrik zählen. Georg Steiner, der Literatur-Philosoph, sagte in erlaubter Zuspitzung, Stalins Regime sei durch Mandelstams Epigramme tiefer erschüttert worden, als Ronald Reagans Präsidentschaft durch die geballte Kritik des amerikanischen Journalismus.

Das nazistische Regime existierte zwölf Jahre, sechs davon im Krieg, den es selber angezettelt hatte, ehe es in einer gespenstischen Götterdämmerung zum Teufel ging. Die wortmächtigsten Gegner des Diktators und seines Regimes waren emigriert, um ihre Haut zu retten. Die wenigen, die - mit der gebotenen Vorsicht - eine eigene Meinung zu behaupten suchten, tauchten ab, in die sogenannte "innere Emigration". Wenn sie Glück hatten, gerieten ihre Bücher nicht auf die schwarzen Listen, die den Bibliothekaren und Buchhändlern genaue Anweisungen für die Säuberung der Regale boten - im nazistischen Reich, im faschistischen Italien. Doch selbst der Rückzug in die so grunddeutsche, lebensferne, konfliktscheue "Innerlichkeit" bot keinen zuverlässigen Schutz. Ernst Wiechert, der mit seinem Roman Das einfache Leben eine unübersehbare Schar der Beseelten gewonnen hatte, wurde 1938 für zwei Monate, gewissermaßen zur Abschreckung, im KZ-Buchenwald festgesetzt.


Das Gewicht der Nuancen

Jochen Klepper, preußisch-konservativ, erzprotestantisch mit deutsch-nationalen Anfälligkeiten, geriet trotz des Erfolges seiner Romanbiografie über den "Soldatenkönig" Friedrich-Wilhelm I. durch die Ehe mit einer jüdischen Frau in eine erstickende Isolierung. Er verweigerte die Scheidung, dem erpresserischen Druck der Kulturbüttel widerstehend. Als die Stieftochter - die als sogenannte "Volljüdin" galt - nicht länger vor der Deportation bewahrt werden konnte, nahm er sich zusammen mit der Frau und der Tochter das Leben: das konsequent-tapfere Ende eines verzweifelten Versuchs, in der "inneren Emigration" mit Anstand zu überleben.

Der Fall Klepper mahnt, die Geschicke der Schriftsteller im totalitären Staat nuanciert zu betrachten. Klepper ist so gut wie vergessen. Studien zur "Literatur im Dritten Reich" erwähnen ihn nur beiläufig und verschweigen oft den selbstgewählten Tod, der ein respektvolles Gedenken verdient. Der Name des Autors gehört auf die Tafel der Märtyrer - ob uns seine Gesinnungen passen oder nicht, ob wir seine Werke schätzen oder gleichgültig beiseite legen. Er starb für die Liebe und den Anstand. Das ist seine Botschaft. Wenn wir ihn vergessen, schweigen wir ihn tatsächlich tot.

Der erwähnte Fritz Beer stellte in seinem Essay "Kunst und Freiheit" unerschrocken fest, dass Unfreiheit die Künstler und Schriftsteller veranlassen könne, "nach Einsichten und Ausdrucksformen zu suchen, um sie zu unterwandern, zu durchlöchern, zu überlisten". Allein die Tatsache, dass es sie gibt, widerlegt die Gewissheit der Unterdrücker, dass ihnen das letzte Wort gehört, weil sie die Macht haben, Menschen an den Schlachterhaken von Plötzensee aufzuhängen oder durch Genickschuss zu "erledigen" (wie man sich damals ausdrückte). Aber hier ist eine sinistre Dialektik am Werk.

Wenn die Tyrannen Märtyrer schaffen, ist dies allemal ein Akt der Selbstdemontage. Der Friedensnobelpreis für Carl von Ossietzky im Jahre 1936 lenkte die Aufmerksamkeit der freien Geister in der freien Welt auf das System der Konzentrationslager. Die Proteste, die schließlich die Entlassung des geschundenen Journalisten erzwangen, brachten partiell die schöne Fassade des Olympia-Jahres zum Einsturz, hinter der sich das kriminelle Regime vor der Welt getarnt hatte. Knapp zwei Jahre später starb Ossietzky, von den Leiden im Lager erschöpft. Man wagt es kaum auszusprechen: das nazistische Regime hat gegen alle Absicht den Namen des Opfers zu einem Schlüsselbegriff für den braunen Terror gemacht. Wer kannte Ossietzky außer einer Handvoll Experten und einem versprengten Häuflein des linksliberalen Bürgertums in Deutschland? Ist es frivol, in diesem Zusammenhang auf Hegels "List der Vernunft" oder die "Ironie des lieben Gottes" zu verweisen?

Dietrich Bonhoeffer hätte die Stichworte sofort verstanden und vermutlich gebilligt. Seine theologischen, seine philosophischen, seine politischen Botschaften fanden erst durch das Martyrium den Weg zur Welt. Längst wird er als einer der großen, vorbildlichen, wirkungsmächtigsten Geister des Christentums im 20. Jahrhundert respektiert, ja geliebt.


Die Botschaft der Verfolgten

Was wüssten wir ohne ihren gewaltsamen Tod von Anna Politkowskaja, was von der widerständigen Zeitung, für die sie schrieb, was von der Bürgerrechtsbewegung, für die sie kämpfte? Ihr Martyrium ließ es nicht länger zu, uns taub und blind zu stellen. Wir hätten durchaus mehr wissen können, auch ohne den Mord. Wladimir Putin sagte hernach mit erstaunlicher Hellsicht und wohl auch einer kräftigen Portion Heuchelei, dass Russland durch das Verbrechen den größten Schaden erleide. So ist es. Nur hat diese Einsicht die Kollegen und Freunde der Journalistin, die nach ihr ermordet wurden, nicht geschützt. Immerhin verstanden wir, dass wir nicht gleichgültig bleiben dürfen.

Vielleicht kann der Friedensnobelpreis den chinesischen Menschenrechtskämpfer Liu Xiaobo vor Schlimmerem bewahren, auch wenn die Mächtigen in Partei und Regierung täglich triumphierend registrieren können, dass die Demokratien des Westens von der wachsenden Wirtschaftskraft des Landes und Chinas gigantischen Kapitalreserven abhängig sind. Und dennoch stört sie unsere Aufmerksamkeit für die Dissidenten, die seit dem Massaker auf dem "Platz des himmlischen Friedens" nicht mehr zu einer fremden, fernen, rätselhaften Welt gehören, sondern zu uns. Durch die Verfolgten lernen wir immer aufs Neue, dass es nur noch die "eine Welt" gibt. Das ist ihre Botschaft. Aus ihr ergibt sich das Writers in Prison-Programm, das uns alle in die Pflicht nimmt. Im Bundeskanzleramt von Willy Brandt, der von einem lärmenden Menschenrechtsgetöse nicht allzu viel hielt, hatten wir es uns zur Pflicht gemacht, Briefe auf dem offiziellen Papier des Amtes an politische Gefangene jenseits des großen Zaunes zu schreiben. Kein einziger Brief erreichte den Adressaten, die Adressatin. Aber die Kerkermeister und die Hüter der Dossiers bei der Stasi (welchen Landes auch immer) sollten wissen, dass die Namen der Gefangenen nicht vergessen sind. Briefe sind eine Chance, daran mitzuwirken, dass hinter Gittern niemals ein tödliches Schweigen herrscht. Und es gibt andere Möglichkeiten. Unsere Kollegen, die sich für das Writers in Prison-Projekt in die Pflicht nahmen, können Auskunft geben.


Klaus Harpprecht (* 1927) ist Mitherausgeber der Neuen Gesellschaft/Frankfurter Hefte, war Berater von Willy Brandt. Zuletzt erschienen: seine Biografie über Marion Gräfin Dönhoff. Letztes Jahr erhielt er den Lessing-Preis der Stadt Hamburg.


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2011, S. 83-86
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Februar 2011