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AKZENTE/135: Das Dilemma der sudanesischen Schriftstellerinnen (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 122, 4/12

Das Dilemma der sudanesischen Schriftstellerinnen
Über die Dimensionen von Schreiben und Migration

Von Ishraga Mustafa Hamid



Schreiben bedeutet für mich Flügel der Leidenschaft zu haben. Diese werden durch literarisches Schaffen sudanesischer Autorinnen verstärkt. Mit 16 Jahren las ich meinen ersten Roman, und es war auch der erste Roman, den je eine sudanesische Frau geschrieben hat, nämlich "Die breite Leere" von Malikat Eldar[1]. Er spielte eine große Rolle für mein Bewusstsein als Frau.


Ich sehe Literatur in einem politischen Kontext, sie fällt nicht vom Himmel, und deshalb sind es nicht nur unsere Phantasien, sondern wir schreiben von einer Realität, wir formulieren unsere Wünsche für die Zukunft. Aber wir leben auch mit einem mehrfachen Dilemma. Zu diesem Thema habe ich Interviews mit fünf sudanesischen Schriftstellerinnen geführt, von denen drei außerhalb des Sudan leben.


Rania Mamoun: mehrfaches Dilemma?

Für Rania Mamoun, die erste befragte Autorin, die mehrfach Geschichten publiziert hat, ist das erste das "Dilemma des Sozialen", welches im kleinen familiären Kreis beginnt. Viele LeserInnen und sogar die KritikerInnen identifizieren die Schriftstellerin mit den Figuren ihrer Geschichten. Die Autorin wird mit einer Figur stereotypisiert, die vielleicht von allen religiösen und moralischen Normen befreit ist. Wie kann sie es wagen, solche Tabus anzusprechen? Familienmitglieder sind die ersten, die sich dagegen aussprechen. Denn von wo kommen die Geschichten, wenn nicht aus der Realität.

Das zweite Dilemma, von dem Rania Mamoun spricht, ist die offizielle Dimension. Diese nennt sie den Teufel selbst: die institutionelle Zensur. "Bestimmte Normen", so Rania Mamoun, "werden uns vorgeschrieben, und wir müssen dieser Linie folgen, ansonsten wird das Buch verboten. Schließlich ist da die Konfrontation mit uns selbst. Es gibt zwei Wege für die Schriftstellerin: Entweder sie beharrt auf ihrem Recht der freien Meinungsäußerung, überschreitet Grenzen und muss mit bitteren Kriegen von mehreren Seiten rechnen. Oder sie wird eine von der Herde sein."


Maha Elraschied: Dilemma der Identitäten?

Im Jahr 1999 las ich einen Text von Maha Elraschied, ein sehr reifer Text, der für mich wie ein Spiegel war, der mich plötzlich nackt mit mir allein ließ. Ich habe diesen Text nie vergessen. Damals wusste ich nicht, dass ihre Mutter aus Eritrea kam und ihr Vater Sudanese war. Spielen diese mehrfachen Identitäten eine Rolle? Blühen im Schreiben Identitätswunden auf? Nie habe ich so leidenschaftliche Texte zu Fragen wie Migration, Identitäten, und ihre Auswirkungen auf unser Schreiben gelesen. Ihre Texte wurden im Sudan, in Eritrea und Kuweit vielfach veröffentlicht: in Zeitungen und als Geschichtensammlungen.

"Das Dilemma der Schriftstellerin", so Maha Elraschied, "fängt klein an und wird mit der Zeit immer größer. Ich bezeichne es als Dilemma, obwohl es doch ein Luxus scheint, dass Frauen aus dem Flaschenhals von Bildungsmangel rauskommen und Traditionen und Stereotypen überwinden, jahrhundertelange Armut, Unwissenheit und Unterwerfung. Aber hilft das Schreiben wirklich unter diesen Umständen? Könnte ich mich frei entscheiden, würde ich nie das Schreiben wählen. Das Schreiben ist der Aufstand meiner Seele, den ich als Schriftstellerin brauche, aber es wird von meiner Umgebung abgelehnt. Hier ist das unsichtbare Dilemma. Der Aufstand ist das andere Gesicht der Freiheit, die mir erlaubt nachzudenken, nackt von meiner Traurigkeit und meinen Ängsten zu sprechen. Das Schreiben ist zum Teil verzaubernd, aber es geht nicht ohne Aufstand und ohne Angst.

Die Konflikte um die Identitäten beginnen in meiner Heimat schon in der Familie, sie setzen sich fort über die kleinen ethnischen Gruppen und reichen hin bis zum Staat. Es ist ein rassistischer Konflikt. Ich gehöre beiden Konfliktseiten an. Diese Konflikte waren auch in mir. Das Vergnügen dabei war, anders zu sein. Vier Augen zu haben anstatt zwei. Das Anderssein ließ mein Herz zu zwei verschiedenen Melodien tanzen. Melodien, die im Herzen sind. Der Unterschied ermöglichte mir, gleichzeitig nach vorne und nach hinten zu schauen. Ich bin diese Schmerzen und dieses Vergnügen, sie bilden mich, daher schreibe ich.

Schreiben in mehreren Identitäten, zwischen Afrikanerin und Araberin, zwischen Islam und Christentum. Und da ist die Identität der Armen, der Schreibenden und der Intellektuellen. Einige behandeln Frauen mit doppelten Standards. Das ist das gravierendste Dilemma, der Missbrauch der Religion, der die Frauen ins Bett degradiert. Aber trotz alldem schreibe ich, damit Frauen mit Liebe und ohne Angst schreiben können."


Tamador Hamza: Migration ist auch positiv

Tamador Hamza schreibt Lyrik und kurze Geschichten, die in verschiedenen Zeitungen bzw. online veröffentlicht werden. Sie lebt im britischen Slough.

"Das Freiheitsdilemma trifft Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Aber das Geschlecht spielt eine enorme Rolle, genau wie die Migration. In der Migration spiegeln sich deine Traditionen und dein Bild über die Frauen wider, vor allem jener Frauen, die in der Gesellschaft aktiv sind. Hier hast du die Freiheit, die gesetzlich verankert ist. Die Erfahrungen in der Migration lassen dich anders argumentieren und anderes wahrnehmen. Dies wirkt sich sicher auf das Schreiben aus, es ist ein Widerstand gegen alle Stereotypen und Klischees.

Die Migration ist positiv in dem Sinn, dass hier die künstlerischen Normen die ausschlaggebende Rolle spielen, nämlich ob die Texte gut oder schlecht sind. Niemand zensuriert. Du schreibst frei und bist frei. Freisein ist das Ziel des Schreibens, durch Freisein bist du sicher, dass das Schreiben seine Ziele erreicht hat. Frei zum Schreiben, Schreiben über die Tabus der Religion, Politik und Sexualität. Hier hast du auch die Möglichkeit, dich zu vernetzen, wobei Kulturschaffen einen Horizont für den Erfahrungsaustausch ermöglicht."


Najat Mohamed Elyass: Dichterin als "öffentliche Diplomatin"

Najat Mohamed Elyass ist 57 Jahre alt und lebt seit 26 Jahren im lybischen Tripolis, wo sie auch arbeitet. Sie publiziert viel und hat einen Gedichtband, "Liebe", veröffentlicht. "Die Heimat hat uns vertrieben, aber sie ist in uns geblieben, und dies erzeugt die Kreativität. Heimat bleibt das Feuer des Schreibens. Im Sudan habe ich darüber nicht viel geschrieben, und dort wurden meine Texte auch nicht veröffentlicht. Die Migration ist ein Motiv für das Schreiben, und ich habe versucht, gegen alle Tabus in mir anzukämpfen. Libyen ist mein erstes und letztes Migrationsland, hier kann ich meine Kreativität weiter entwickeln. Hier fand ich Respekt und Unterstützung, und das benötigt eigentlich jede von uns, um Kultur ohne Stress zu schaffen. In mir aber blieb die Heimat, so wie ich sie mir wünsche, für sie habe ich phantasiert und geschrieben und für sie habe ich meine Rolle als öffentliche Diplomatin gespielt."


Leila Salah: Wir sind Gottfremde

Die Sudanesin Laila Salah lebt seit 23 Jahren mit ihrer Familie in Doha (Qatar) und arbeitet als Journalistin bei Al Jazeera-TV, wo sie die in den arabischen Ländern weit verbreitete Sendung "Nur für Frauen" mitproduzierte. 2011 bekam Leila als erste Frau den großen sudanesischen "El-tayeb Salih Award for Creativity" für ihren Roman "Der heimliche Wald". Der Roman behandelt verschiedene Aspekte von Migration, Liebe, Heimat und Selbstreflexion.

"Wenn ich schreibe, bin ich mir selbst sehr treu. Wenn ich dann lese, was ich gerade geschrieben habe, überrascht es mich: War ich eventuell ohnmächtig? Es ist, als wäre mein Bewusstsein narkotisiert gewesen. Manchmal bin ich meine eigene Zensur. Es fällt mir aber sehr schwer, mein transparentes Schreiben zu zensurieren. In unseren Gesellschaften wird diese Durchsichtigkeit des Schreibens auf die Autorin selbst bezogen. Das ist mein Dilemma. Aber - Gott sei Dank - habe ich in mir selbst grenzenlose Freiheit, und wenn ich schreibe, dann schwebe ich ganz frei über dem Text.

Die Entfremdung ist mein schönes Schicksal, die Entfremdung des Selbst, die uns motiviert, kreativ zu schreiben. Das lässt den entfremdeten Ort ertragbar werden, und die Welt ist dennoch ein wichtiger Teil von dir. Kulturschaffende sind Gottfremde.

Die Migration lässt mich an den anderen teilhaben. Ich entdeckte dadurch, dass es viele Gemeinsamkeiten zwischen uns gibt, dass menschlich sein heißt, unser Herz und unseren Geist den anderen gegenüber zu öffnen."


ANMERKUNG:
(1) Die Lehrerin und Autorin Malikat Eldar Mohammed Abdullah lebte von 1920 bis 1969 in Alobeid im Westsudan. Ihr erster Roman "Die breite Leere" wurde Anfang der 1950er-Jahre geschrieben, aber erst in den 1970er-Jahren veröffentlicht. Dieses Werk hinterließ den nachfolgenden Generationen von Frauen ein großes Erbe.

Zur Autorin:
Ishraga Mustafa Hamid ist Literatin, Publizistin, Buchautorin, Übersetzerin und Aktivistin. Sie lebt derzeit in Slough (UK).

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 122, 4/2012, S. 14-15
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2013