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AKZENTE/139: Risikofiktion (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Risikofiktion
Zukunftserwartung und Zukunftsangst in der nordamerikanischen Literatur und Populärkultur

Von Jeanne Cortiel und Sylvia Mayer


Es waren die Kaufleute des 16. Jahrhunderts, die Gefahren und Wagnisse mit dem italienischen Wort "risico" bezeichneten. Der moderne Risikobegriff hat also seinen Ursprung in der Handelsschifffahrt und ist von daher eng mit der Kolonialisierung und der Entwicklung kapitalistischer Gesellschaftsformen verbunden. Er entstand im Umgang mit Ungewissheit in der Frühen Neuzeit - genau zu dem Zeitpunkt also, als der Glaube an göttliche Vorsehung brüchig zu werden begann und die Erde ihre klaren Grenzen sowie ihre zentrale Stellung im Universum verlor. Nicht zufällig entwickelte sich in dieser Zeit der moderne europäische Roman, als Antwort auf Erfahrungen einer fundamentalen Verunsicherung. Fiktion und Risiko haben also verwandte Wurzeln. Die Welt in der Frühen Neuzeit brauchte neue Erklärungen, und sowohl die Vorstellung von individuellem Risiko als auch der moderne Roman emanzipieren das Individuum zur Gestaltung der eigenen Zukunft.

Bereits im 18. Jahrhundert hat man begonnen, das Konzept "Risiko" mathematisch zu systematisieren. Seit dem 20. Jahrhundert wird es in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen - auch in interdisziplinärer Zusammenarbeit - erforscht, diskutiert und in die Öffentlichkeit getragen. Vor allem der Soziologe Ulrich Beck, der den Risikobegriff in den Kontext der Globalisierung stellte und von einer "Weltrisikogesellschaft" sprach, hat die internationale Debatte nachhaltig geprägt. Mittlerweile ist unstrittig, dass Risiken nicht allein quantitativ zu erfassen sind, sondern erst in subjektiver Wahrnehmung und kultureller Verarbeitung konkret werden. Risiko existiert nicht einfach in der Welt, sondern muss "inszeniert" und kommuniziert werden, um real zu sein. Es bedarf also der Fiktion.


Fiktionale Inszenierungen von Risiko

Es ist daher nur folgerichtig, dass die Inszenierung und Kommunikation von Risiken gerade auch in den kulturellen Handlungsfeldern Literatur und Populärkultur stattfindet. Diese Tatsache ist aber in der bisherigen Risikotheorie und Risikoforschung weitgehend unbeachtet geblieben. Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt der Bayreuther Amerikanistik stellt sich der Herausforderung, diese Leerstelle in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung zu füllen. Es geht davon aus, dass fiktionale Texte heutige Risikodiskurse nicht nur beeinflussen, sondern an zentraler Stelle mit erzeugen.

Seit den 1980er Jahren sind in Nordamerika eine Vielzahl von Romanen, Graphic Novels und Filmen entstanden, die sich mit technologischen Großrisiken und Umweltrisiken auseinandersetzen. Es geht dabei um globale Epidemien, dramatische Folgen des weltweiten Klimawandels, die Verdrängung des Menschen durch posthumane Maschinenwesen oder die atomare Weltzerstörung. Derartige Zukunftsvorstellungen besitzen in der "Weltrisikogesellschaft" eine identitätsstiftende Kraft: Sie prägen die Art und Weise, wie Menschen die Welt erleben und in ihr agieren. Fiktionale Texte, die in vielen Fällen auch als Grundlage populärer Filme dienen, haben daran einen häufig unterschätzten Anteil.


Risiko - ein neuzeitliches Konzept mit transkulturellen Dimensionen

Die Entstehung des Begriffs "Risiko" in Globalisierungskontexten der frühen Neuzeit und die beispielhaft genannten Großrisiken zeigen: "Risiko" bezeichnet eine besondere Art der Zukunftsvorstellung, die seit jeher transkulturell angelegt ist. Gerade die Risiken, die für die "Weltrisikogesellschaft" charakteristisch sind, machen an nationalen oder kulturellen Grenzen nicht halt. Ökologische und ökonomische Risiken, aber auch das Risiko des internationalen Terrorismus sind ihrem Wesen nach grenzüberschreitend. Weil sie in unterschiedlichen kulturellen Kontexten sichtbar werden, können sie verschiedenartige Formen der Risikowahrnehmung und -beurteilung erzeugen. Infolge der Wechselwirkungen verschiedener Kulturen bilden sich aber zunehmend auch transkulturelle Sichtweisen auf globale Risiken heraus.

Fiktionale Darstellungen sind ein Ausdruck dieser Risikokulturen und wirken zugleich auf sie zurück. Welchen ästhetischen Konventionen sind sie verpflichtet, an welchen ethischen Konzepten orientieren sie sich? Diesen Fragen nachzugehen, ist in hohem Grade aufschlussreich für das Verständnis von Risikoerfahrungen im 21. Jahrhundert - und damit auch für das Verständnis der Globalisierung selbst.


Rationalität und Horror

Die US-amerikanische Filmserie Resident Evil (2002-2012) des britischen Regisseurs und Drehbuchautors Paul W.S. Anderson verknüpft die Traditionen des Science-Fiction-Films und des Horror-Films. Sie setzt sich mit dem Risiko genetischer Forschung an Viren auseinander und stellt die Verbreitung einer weltweiten Epidemie als globale Vernetzung dar. Radikale Rationalität trifft dabei auf die Schrecken des Unbewussten. Die Filme sind Adaptionen einer japanischen Videospielreihe und verarbeiten sowohl Elemente dieses Spiels als auch Elemente der biblischen Apokalypse. Ein ähnliches globales Szenario entwickelt World War Z (2013), ein US-amerikanischer Actionfilm des deutsch-schweizerischen Regisseurs Marc Forster. Auch hier treffen Rationalität und Horror aufeinander, und eine sich rapide ausbreitende Pandemie - die infizierte Menschen in rasende Zombies verwandelt - hebt nationale Grenzen auf. Der Ursprung der Krankheit liegt im ländlichen Asien und löst an verschiedenen Orten der Welt kulturell unterschiedliche Reaktionen aus.

In beiden Filmen ist die gesamte Menschheit unterschiedslos von der Infektionsgefahr bedroht. Doch im Umgang mit dem Risiko ist jeder einzelne Mensch als eigenständiges Subjekt auf sich allein gestellt. Für die Protagonisten des Films wird die Katastrophe deshalb nicht nur zur Angstvision, sondern gleichzeitig auch zur Befreiung. Sie bestätigt die Autonomie des Individuums.


Klimawandel und ökologische Katastrophen

Eine zunehmende Zahl US-amerikanischer Romane thematisieren das globale Risiko des Klimawandels, beispielsweise Flight Behavior (Barbara Kingsolver, 2012), Things We Didn't See Coming (Steven Amsterdam, 2009) und die Trilogie Forty Signs of Rain, Fifty Degrees Below und Sixty Days and Counting (Kim Stanley Robinson, 2004 bis 2007). Darin werden Risikoszenarien entworfen, die ein ganzes Spektrum von möglichen - zum Teil drastischen - ökologischen Folgen und ihren soziopolitischen wie ökonomischen Konsequenzen thematisieren. Mit räumlich wie zeitlich weit ausgreifenden Schauplätzen öffnen die Romane den Blick für die transkulturelle, spannungsgeladene Realität von Risikowirklichkeiten. Vor allem durch die Figurenzeichnung machen sie dabei vielfältige Formen der Risikowahrnehmung sichtbar. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht sind Gattungsaspekte dieser Romane besonders interessant: Elemente von Science Fiction, Science-in-Fiction, Dystopie und Utopie werden darin spannungsreich verknüpft.


Ikonische Darstellungen als Mittel der Risikokommunikation

Poster und Filme greifen häufig die Ikonen globalen Risikos auf, wie sie aus den Medien bekannt sind. Weit verbreitete Motive sind die Erde als "blauer Planet", die Doppel-Helix der DNA oder ein schwebender menschlicher Embryo. Photographische Darstellungen verbildlichen die Erde als bedrohtes gemeinsames "Boot", lenken die Aufmerksamkeit auf die Verletzlichkeit des Embryos im Mutterleib oder betrachten den menschlichen Körper in der Abstraktion von innen. Damit verweisen die ikonischen Darstellungen auf den potenziellen Kontrollverlust, auf den prekären Charakter menschlicher Existenz. Aber zugleich konterkarieren sie diese Botschaft. Denn mittels der technischen oder naturwissenschaftlichen Visualisierung vermitteln sie die Illusion einer vollständigen Kontrolle über den (Welt)Raum und den Körper. So werden - auf paradoxe Weise - szientistische Vorstellungen von Freiheit und Autonomie bekräftigt, wie sie in westlichen Traditionen verankert sind.

Können diese Einsichten in den fiktionalen Beitrag zur Risikokommunikation etwas beitragen zum Verständnis realer Bedrohungen? Lawrence Buell, Literaturwissenschaftler an der Harvard University, hat einmal eindrucksvoll festgestellt: Die großen Krisen der Menschheit sind vor allem Krisen der Vorstellungskraft. Wenn das zutrifft, ist eine interdisziplinäre Risikoforschung ohne Literatur- und Kulturwissenschaften undenkbar.


KASTEN
 
Risikofiktion heute: Ein neues DFG-Projekt der Bayreuther Amerikanistik

Das Forschungsprojekt "Contemporary American Risk Fiction" setzt sich mit fiktionalen Darstellungen von Risiken in Werken nordamerikanischer Autorinnen und Autoren auseinander. Es wird gemeinsam von Prof. Dr. Jeanne Cortiel und Prof. Dr. Sylvia Mayer koordiniert. Das Vorhaben verknüpft erstmalig zwei wissenschaftliche Ansätze: Ecocriticism ist eine Forschungsrichtung der Literaturwissenschaft, die fiktionale Texte und ökologische Fragestellungen kritisch zueinander in Beziehung setzt. Die Science fiction studies und Utopian fiction studies wiederum befassen sich unter anderem mit der Frage: Wie werden reale technologische Möglichkeiten - einschließlich ihrer Gefahrenpotenziale - in phantastischen oder utopischen Dimensionen neu gestaltet und erweitert?
Beide Forschungsrichtungen führt das Projekt in interdisziplinären Fallstudien zusammen. Risikofiktion wird dabei als neue medienübergreifende Gattung definiert. So entsteht ein Corpus fiktionaler Darstellungen in Wort und Bild, das künftige Forschungen über ökologische und technologische Risiken fördern wird.
Die Forschungsarbeiten sind in das Bayreuther Institut für Amerikastudien (BIFAS) integriert. Dieses interdisziplinäre Zentrum koordiniert die amerikabezogene Forschung und Lehre an der Universität Bayreuth. Weitere Schwerpunkte sind die amerikanische Populärkultur, die Erforschung der afrikanischen Diaspora und die Kolonialgeschichte in transkultureller Perspektive.
www.bifas.uni-bayreuth.de


Autoren

Prof. Dr. Jeanne Cortiel ist Professorin für Amerikanistik (Nordamerikastudien) an der Universität Bayreuth.

Prof. Dr. Sylvia Mayer hat den Lehrstuhl für American Studies and Intercultural Anglophone Studies an der Universität Bayreuth inne und ist Direktorin des Bayreuther Instituts für Amerikastudien (BIFAS).


Literaturhinweise

- Sylvia Mayer and Alexa Weik von Mossner (eds): The Anticipation of Catastrophe. Environmental Risk in North American Literature and Culture. Heidelberg 2014.
- Sylvia Mayer: "Dwelling in Crisis": Terrorist and Environmental Risk Scenarios in the Post 9/11 Novel. In: Christian Kloeckner et al. (eds): Beyond 9/11. Transdisciplinary Perspectives on Twenty-First Century U.S. American Culture. Frankfurt am Main 2013, S. 77-92.
- Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. Frankfurt am Main 2007.
- Im Druck: Jeanne Cortiel and Laura Oehme: The Dark Knight's Dystopian Vision: Batman, Risk, and American National Identity. In: European Journal of American Studies (2015).


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abb.  : Ausschnitt aus dem Gemälde eines niederländischen Handelsschiffs um 1760. Der Begriff "Risiko" ist im Kontext des europäischen Seehandels entstanden.

Abb. 1: Paul W. S. Anderson, Film-Regisseur und Drehbuchautor von Resident Evil auf der WonderCon 2010

Abb. 2: Die Videospielreihe Resident Evil, hier in einer Spielstation in Los Angeles, war Vorbild für die gleichnamige Filmreihe

Abb. 3: Ikonen globalen Risikos: Weltraumfoto des "blauen Planeten" und Darstellung des menschlichen Embryos im Mutterleib. Die Linien im rechten Motiv deuten hier verschiedene Entwicklungsstadien an.

Abb. 4: Ulrich Beck, Soziologe und Risikoforscher

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 38-41
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
Telefon: 0921/55-53 56, -53 24, Fax: 0921/55-53 25
E-Mail: pressestelle@uni-bayreuth.de
Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2015

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