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BERICHT/019: Von Pippis Villa zu Sofies Welt (Freiburger Uni-Magazin)


Freiburger Uni-Magazin - 5/Oktober 2004

Von Pippis Villa zu Sofies Welt

Texte ohne Grenzen für Leser jeden Alters


Skandinavisches Design und skandinavische Literatur gehören zu den Exportschlagern der nordischen Länder und erreichen auch und gerade jene, die nicht zu den wetterunabhängigen Natur- und Wanderfreunden gehören. Wer nordisches Licht und nordische Luft erleben will, muss viele Kilometer zurücklegen. Bücherfreunde, ob jung oder alt, bewältigen Entfernungen anders und darum geht es nun.

Neben der Unterstützung verschiedener Projekte von Wissenschaftlern der Universität Freiburg, gewährt die Wissenschaftliche Gesellschaft Druckkostenzuschüsse für Dissertationen, die mit dem Prädikat Summa cum lande ausgezeichnet wurden. Svenja Blume vom Institut für Vergleichende Germanische Philologie und Skandinavistik bekam einen Zuschuss für ihre demnächst erscheinende Dissertation 'Texte ohne Grenzen für Leser jeden Alters. Zur Neustrukturierung des Jugendliteraturbegriffs in der Postmoderne'.

Im Rahmen der "Freiburger Arbeitsgruppe zur Kinder- und Jugendliteratur in der Skandinavistik" ging die Autorin der Beobachtung nach, dass Texte, die die gegenwärtige Jugendliteratur repräsentieren, dem traditionellen Begriff von Jugendliteratur in vielem widersprechen. In formaler und ethisch- moralischer Hinsicht werden von heutigen Autoren etablierte Begrenzungen überschritten, die lange als Norm und Orientierung der Gattung galten. Das betrifft die Einordnung nach dem Geschlecht der Leser ebenso wie deren Lebensalter. Backfischliteratur, Abenteuer- oder Indianergeschichten sind zwar unverwüstlich, stellen aber längst nicht mehr das Hauptangebot auf dem Buchmarkt. Anhand acht postmoderner skandinavischer Jugendromane hat Svenja Blume einen zeitgemäßen Jugendliteraturbegriff erarbeitet, der die überholten Definitionen der literaturwissenschaftlichen Forschung ersetzen kann.

Früher sollten Jugendbücher, so Blume, quasi als Hilfsmittel den Prozess von Sozialisation und Identitätsfindung unterstützen. Aufgabe der jugendlichen Leser war es, die Aussage der Texte zu entschlüsseln und auf die außerhalb des Textes existierende Wirklichkeit zu beziehen. Im Bildungs- und Entwicklungsroman etwa, sollten über eine Identifikation mit der Hauptfigur eigene Lebenserfahrungen und Fragen besser verstanden und eingeordnet werden. Angesprochen waren Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren, danach galten Pubertätsprobleme als überwunden, die Jugend wurde vom Erwachsenenalter abgelöst. Dem gegenüber setzt Literatur in der Postmoderne den Textbegriff absolut. Postmoderne Literatur versteht sich nicht mehr als auf eine "außerhalb des Erzählens" liegende Wirklichkeit bezogen, sondern selbst als Wirklichkeit, die sich erst im Schreib- und Lektüreprozess konstituiert. Die Texte stellen den Leser vor Fragen, die er selbst beantworten muss, eindeutige Antworten wollen und können sie nicht geben, jeder Leser wird so zum aktiven Mitgestalter des Textes. Ein solcher performativer Literaturbegriff kann nicht mehr dem traditionellen Anspruch an Jugendliteratur folgen und Beispiele und Vorbilder zur Lebensbewältigung präsentieren. Was die Autoren statt dessen tun und an wen sie sich richten, dem geht Svenja Blume in ihrer Arbeit nach. Außerdem untersucht sie die Begriffe "Jugend" und "Literatur" als Basis des literaturwissenschaftlichen wie des gesamtgesellschaftlichen Diskurses in der Postmoderne, wobei sich Jugend verschoben hat "vom Lebensalter zur Lebenseinstellung" und "Literatur" "von der Darstellung zur Inszenierung".


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Christiane Gieseking-Anz sprach mit Svenja Blume.

Gieseking-Anz: Frau Blume, wie sieht denn Ihre zeitgemäße Definition von Jugendliteratur aus, wenn doch der Begriff Jugend zur Lebenseinstellung mutiert ist?

Svenja Blume: In postmodernen Zeiten, in denen grundsätzlich ganz verschiedene Lebenseinstellungen und Werte nebeneinander bestehen, gibt es nicht mehr den "fertigen" Erwachsenen, statt dessen stellt sich die Frage nach der eigenen Identität immer wieder neu - in diesem Sinne sind wir also heutzutage alle "jugendlich". Die Skandinavier haben konsequenterweise für die seit den 90er Jahren entstehenden Texte, mit denen ich mich beschäftigt habe, einen passenden Ausdruck gefunden: "Allalderslitteratur" (Literatur für alle Alter). Die Auflösung von Textchronologien und das Verwischen von Grenzen zwischen Realität und Fiktion wie z.B. häufig in den Texten von Jostein Gaarder, ermöglicht eine unendliche Vielzahl von Lesarten - die Suche nach Antworten auf die Fragen "Wer bin ich? Was ist die Welt?" kann niemals abgeschlossen werden, und es liegt am einzelnen Leser, sich (immer wieder neu) zu entscheiden.

Gieseking-Anz: Was unterscheidet Astrid Lindgrens noch vor-postmoderne Pippi Langstrumpf von Jostein Gaarders Sofie?

Svenja Blume: Pippi ist das Kind schlechthin - und Sofie eine idealtypische Jugendliche, in dem Sinn, den ich eben beschrieben habe. Pippi schluckt Krumeluspillen, weil sie niemals "groß" werden will, sie interessiert sich nicht für das Erwachsenenleben, sondern nur für ihre eigene Welt, die ja auch zugegebenermaßen äußerst spannend ist. Sofie dagegen will über ihre eigene Welt hinaus, sie will wissen, was "hinter dem Spiegel" unserer Realität steckt, sie will wissen, wer sie eigentlich ist. Sie emanzipiert sich am Ende des Buches - sowohl von ihren Eltern als auch vom Autor Jostein Gaarder, der sie nicht mehr in seiner Geschichte festhalten kann. Pippi ist eine romantische Figur - Sofie eine postmoderne.

Gieseking-Anz: Sie nehmen die skandinavische Jugendliteratur als Paradigma, aus der sich die Begrifflichkeit für die Jugendliteratur insgesamt ableiten lässt. Wieso?

Svenja Blume: Zunächst einmal muss man sagen, dass es in der deutschen Kinder- und Jugendliteraturforschung gar keine systematisch von der "Kinderliteratur" unterschiedene Definition von Jugendliteratur" gibt. Da können und müssen wir von der skandinavischen Forschung lernen. Und darüber hinaus kann man die Definition einer neuen Ästhetik natürlich nur aus Texten ableiten, die dieser Ästhetik verpflichtet sind: die skandinavische Jugendliteratur war formal und inhaltlich immer schon innovativ, bisweilen auch provozierend - und kann damit durchaus auch als Vorreiter für die deutschsprachige Literatur dienen. Pippi Langstrumpf war 1945 nur der Anfang, das Muster gilt weiterhin, man muss sich nur mal die Nominierungslisten für den Deutschen Jugendliteraturpreis ansehen. Ohne die skandinavischen Texte wäre meine Neuformulierung der Begrifflichkeiten nicht möglich gewesen.

Gieseking-Anz: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen dem großen internationalen Erfolg der skandinavischen Jugendliteratur und der Popularität der skandinavischen Literaturen insgesamt?

Svenja Blume: Ich glaube, beides beeinflusse sich gegenseitig, Henning Mankell und Håkan Nesser haben ebenso wie viele andere skandinavische Autoren auch Jugendbücher geschrieben. Dass neben den Klassikern Ibsen, Strindberg und Andersen auch die zeitgenössischen Autoren viel übersetzt werden und skandinavische Literatur regelrecht "in" ist, freut mich natürlich.

Gieseking-Anz:
Lesen skandinavische Jugendliche mehr als deutsche?

Svenja Blume: Wenn man sich die Ergebnisse der PISA-Studie anschaut: ja! Über die Lesegewohnheiten Einzelner kann man natürlich nichts sagen, klar ist aber, dass Kinder in Skandinavien wesentlich stärker ans Lesen herangeführt werden als deutsche Kinder: reich ausgestattete Kindergarten- und Schulbibliotheken, die man auch benützt, sind selbstverständlich, und eine Organisation wie "Läsrörelsen" (Lesebewegung) in Schweden, greift auch schon mal zu unkonventionellen Mitteln der Leseförderung: Da wird dann eben mit McDonalds zusammengearbeitet und jeder bekommt zu seinem "Happy Meal" ein qualitativ hochwertiges Bilder-, Kinder- oder Jugendbuch gratis dazu.


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Quelle:
Freiburger Uni-Magazin Nr. 5/Oktober 2004, Seite 28-29
Herausgeber: Albert-Ludwigs-Universität Freiburg,
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Redaktion: Dr. Thomas Nesseler (verantwortlich)
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