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BERICHT/033: Schreiben in der Migration (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 91, 1/05

Schreiben in der Migration

Erfahrungen einer in Russland geborenen Künstlerin in Wien


Julya Rabinowich

Die Autorin kam bereits als Kind nach Wien. Schon während ihrer Schulzeit begann sie zu schreiben. Später studierte sie am Institut für Dolmetschausbildung und seit 1998 an der Hochschule für Angewandte Kunst. 2003 wurde ihr vom Verein Exil der Literaturpreis "Schreiben zwischen den Kulturen"(1) verliehen.


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Wie viele Reisen beginnt auch dieser Ausflug mit einer Frage.

Wo fängt Migration an - die geistige, die geographische, die gesellschaftspolitische? Wo hört sie auf, geht also in die Integration über, und welche Wege - literarische bis soziale - können dabei beschritten werden?

Und welche Rolle fällt dabei den Frauen zu?

Ist die Migration der Frau eine andere als die des Mannes?

Ist denn nicht auch die Sprache der Frau eine andere?

Wenn ich meinen Fokus auf das rein persönliche Erleben reduziere, auf meine Geschichte mit all ihren Entwurzelungen und Wurzeltreibungen, ist die Antwort relativ leicht.

Ich schreibe, weil ich bin, und das, was ich erlebe, gerne festhalte, um es, unter anderem, an Dritte weiterzugehen.

Das Weitergeben festgehaltener Erfahrungen macht zu einem großen Teil das Aufbauen menschlicher Systeme aus.

Vom Mündlichen über das Schriftliche bildet es die Grundlagen unserer Kultur, unserer Zivilisation, unserer Geschichte, die ihrerseits voll der Wanderungen und Handlungen ist.

Das Festhalten - im Unterschied zum Festhaltenwollen - hilft uns, ein System in das Chaos unserer Existenz zu bringen, Dinge zu ordnen, sie noch einmal aus Distanz betrachten zu können.

Es bietet also auch eine Art der Aufarbeitung des Erlebten.

Es bietet eine Sicherheit.

Eine Sicherheit, die man in der Migration aufgibt, zumindest vorübergehend, denn das Überschreiten der gewohnten Grenzen führt zwangsläufig auf ein unbekanntes Terrain, das erst erkundet werden will, bevor es ins Alltägliche gleiten kann. Gewinne ich nun zu der bereits beherrschten Muttersprache noch eine weitere hinzu, wird es eine Weile dauern, bis ihr ganzer Reichtum und ihre Tücken erspürt, begriffen und schlussendlich eingesetzt werden können.

Dieser Prozess ist ein Brückenschlagen, ein Anwachsen der amputierten, fremden Einheit MigrantIn ins neue Fleisch der Wahlheimat, Abstoßungsreaktionen miteingeschlossen.

Ich befinde mich in der glücklichen Lage, die Immigration als Kind erlebt zu haben, in einer Phase, da Neues unvoreingenommen und leicht absorbiert werden kann, und in der unglücklichen Situation, die Immigration als Kind erlebt zu haben, da Entscheidungen anderer mein Schicksal bestimmten.

Das Erlernen dieses Neuen war auch eine Möglichkeit, selbst etwas Kontrolle über die sich überschlagenden Ereignisse gewinnen zu können.

Deutsch ist also meine Vatersprache: erstens, weil es die letztendliche Entscheidung meines Vaters war, Russland zu verlassen, und zweitens, weil ich sie für ihn stellvertretend erlernt habe.

Während meine Mutter und meine Großmutter versuchten, die deutsche Sprache anzunehmen und zu verwenden - bald unterrichtete meine Großmutter sogar wieder - verschloss sich mein Vater gänzlich davor.

Er verließ sich auf seinen schauspielerischen Charme und auf mich, die von klein auf gewohnt war, für ihn zu übersetzen.

Über/Setzen.

Ich setze über in die andere Welt, ich eigne mir das neue Land an, in dem ich seine Sprache aneigne, und springe alsobald zurück.

Wir Frauen unserer Familie waren diejenigen, die Kommunikation aufrechterhalten haben und die verbal gewandter und sicherer gewesen sind.

Es liegt die Sprache also bei den Frauen, während das Sagen immer noch beim Mann liegt, das ist die Erinnerung, die ich an meine Kindheit in Wien habe.

Das Vermitteln. Das Verfassen der Geschäftspost. Das Beraten über verschiedenste Vorgangsweisen.

Ich erkämpfte mir damit eine Stellung im Familiensystem, die meinem Platz als Kind nicht entsprach, ich durchbrach gewisse Normen, und büßte mit gewisser Verunsicherung und falscher Selbsteinschätzung.

Ganz nebenbei verbesserte ich damit auch meinen Rang in der Hackordnung der Volksschule.

Die im Gegensatz zu russischen Gepflogenheiten uniformlose Klasse identifizierte mich zwar sofort als Außenseiterin. Im Unterschied zu den türkischen und jugoslawischen Kindern hatte ich keine Rotte und keine gemeinsame Herkunft, hinter der ich mich verstecken konnte, dafür aber den höheren sozialen Status als Exotin.

Meiner häufigen Verkühlungen wegen hängte mir meine Mutter jedoch öfters ein Kopftuch um, für mich damals die Steigerung aller Schmach, die jeglichen Vorsprung meinerseits wieder annulliert hat.

Ich setzte meine ganze Kraft dazu ein, schnell besser Deutsch zu sprechen als diese anderen, und nützte jede Gelegenheit, mich von ihnen zu distanzieren, im Verlauf meiner Schullaufbahn wurde ich eine erbitterte Minderheitenhasserin, meine Verachtung mir selbst gegenüber möglichst billig an andere abstoßend, da diese Ware ständig im Wert verfällt und leicht verdirbt.

Ich wurde willig zum Vokabel, das sich von einer Sprachfamilie zu einer anderen transformiert, ohne die Bedeutung zu verlieren. Die Tätigkeit als Schriftstellerin schenkt mir übrigens auch noch im Nachhinein Hoheitsgewalt über meine Vergangenheit.

Schreiben ist nicht nur ein Festhalten, sondern auch ein Die- Stimme-Erheben, etwas, was vielen Frauen generationenlang verwehrt war.

Eine Leidenschaft, deren selbstverständliche Ausübung eigentlich erst vor so kurzem eine weibliche Alltäglichkeit geworden ist.

Die auch vielen Frauen in der Migration weiterhin verwehrt bleibt, weil ein straff zusammengehaltenes Familiengefüge einfach keinen Platz dafür lässt, sich in die Sprache des Einreiselandes gebührend zu vertiefen und sich darüber hinaus auch noch künstlerisch zu betätigen.

Kurzer Rückblick auf meine eigene Mutter: Sie, die sich griffiger eingelebt hatte, opferte unwidersprochen ihre eigene künstlerische Laufbahn der meines Vaters.

Qualifizierte Arbeit setzte natürlich die Sprachbeherrschung voraus.

Wir konnten uns aber nur einen Maler und eine Angestellte pro Familie leisten.

Für sie war das hinsichtlich unserer damaligen finanziellen Situation absolut normal.

Für viele Migrantinnen bedeutet das Annehmen der Gepflogenheiten des neuen Landes eine zusätzliche soziale Verantwortung, während die gewohnten Gebräuchlichkeiten und Verpflichtungen weiterhin gültig bleiben.

Es ist also oft ein anstrengender Spagat, den zu bewältigen es gilt.

Diese Bereitschaft, ihre eigenen Bedürfnisse hinter die des großen Ganzen zu stellen, ist ein für viele Migrantinnen alltäglicher Zustand.

Die Integration, könnte man annehmen, ist eigentlich erst vollzogen, wenn sie ihren eigenen Platz in der Gesellschaft fordern und auch einnehmen können.


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(1) Stippinger, Christa (Hgin): Wortbrücken: Das Buch
zum Literaturpreis "Schreiben zwischen den Kulturen"
2003 (Wien 2003).

Weitere Veröffentlichungen in:

Horn, Batya (Hgin):
Schreibrituale: eine Anthologie (Wien 2004).

Barta, Ilsebill; Parenzan, Peter (HgInnen):
Bilderbuchgeschichten (Publikationsreihe M MD, Bd. 18,
Wien 2004).

Ein weiterer Roman - "Halbgar" - ist in Vorbereitung
und erscheint voraussichtlich 2005/2006.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 91, 1/2005, S. 24-25
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Fon: 0043-(0)1/317 40 20-0, Fax: 0043-(0)1/317 40 20-355,
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
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