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PROFIL/102: Melancholie und Meisterschaft - Iwan Turgenjew zum 200. Geburtstag (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2018

Melancholie und Meisterschaft
Iwan Turgenjew zum 200. Geburtstag

von Hanjo Kesting


Zu Lebzeiten war Iwan Turgenjew der berühmteste russische Schriftsteller, bis ihn der Ruhm zunächst Leo Tolstois und später Fjodor Dostojewskis überflügelte. Dostojewski hat von Turgenjew ein missgünstiges Bild gezeichnet und ihn in dem Roman Die Dämonen in der Gestalt des Schriftstellers Karmasinow verspottet. Was warf er Turgenjew vor? Dieser hatte ihm in einer bedrängten Situation nicht nach Wunsch geholfen, nämlich nur so viel Geld geliehen, dass er gerade die Hälfte seiner Spielschulden begleichen konnte. Vor allem aber verübelte der nationalrussisch, ja slawophil gesinnte Dostojewski seinem Kollegen, dass er ein "Westler" war, "westlich" dachte und einen großen Teil seines Lebens in Paris und Baden-Baden verbrachte.

Dabei war Turgenjew keineswegs unpolitisch oder desinteressiert an den Geschicken seines Landes. 1818 nahe Orjol in Mittelrussland geboren - ein Jahr nach Theodor Storm, ein Jahr vor Theodor Fontane -, war er das Kind wohlhabender Gutsbesitzer und erhielt eine glänzende Ausbildung. In seine Studentenjahre an den Universitäten in Moskau und St. Petersburg fallen seine ersten literarischen Versuche. Seit 1838 studierte er in Berlin, unter dem Einfluss der Hegelschen Schule. Dort lernte er Michail Bakunin kennen, den berühmten Vertreter des Anarchismus. Nach Russland zurückgekehrt, bemühte er sich um eine Laufbahn als Hochschullehrer, die von den zaristischen Behörden, denen die freiheitliche Gesinnung des jungen Gelehrten nicht entgangen war, vereitelt wurde. Damals stand er unter dem Einfluss der revolutionär-demokratischen Ideen, die in Russland im Umlauf waren, repräsentiert durch die Publizisten Wissarion Belinski und Alexander Herzen. Turgenjew war ein entschiedener Gegner der Autokratie und der damals noch bestehenden Leibeigenschaft, er drängte auf eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse.

Gegen die Leibeigenschaft

Als Schriftsteller debütierte er mit Gedichten, doch erst die Aufzeichnungen eines Jägers brachten ihm 1852 literarisches Ansehen. Der Legende nach soll Zar Alexander II., der 1854 den Thron bestieg, schon als Thronfolger dieses Buch gelesen und daraus die Anregung zu seinem Entschluss, sieben Jahre später die Leibeigenschaft aufzuheben, geschöpft haben. In keiner anderen literarischen Arbeit ist Turgenjew so entschieden als Sozialkritiker aufgetreten wie in der frühen Erzählung Mumu von 1852, einer erschütternden Anklage gegen die Leibeigenschaft. Man hat sie als russisches Pendant zu Onkel Toms Hütte bezeichnet, dem Roman der Harriet Beecher Stowe, der fast gleichzeitig erschien. Die Erzählung beruht auf persönlichen Erlebnissen Turgenjews, der in der Figur der Gutsherrin seine eigene Mutter dargestellt hat.

Durch seine Romane Rudin, Das Adelsnest, Väter und Söhne und die bald in ganz Europa gelesenen Novellen mehrte Turgenjew seinen Ruhm. Er lebte seit 1863 zunächst in Baden-Baden, seit 1871 in Paris, als vertrauter Freund der berühmten Opernsängerin Pauline Viardot-Garcia. Zu vielen berühmten Autoren stand er in persönlichem Kontakt, darunter Theodor Storm, Gustave Flaubert, die Brüder Goncourt, Emile Zola und Guy de Maupassant. Prosper Mérimée, der Autor der Novelle Carmen, war Turgenjews erster Übersetzer ins Französische. Turgenjew war auch Gast der berühmten Abendessen im Café Magny, wo sein erster Auftritt am 28. Februar 1863 von den Brüdern Goncourt in ihrem Tagebuch festgehalten worden ist: "Ein charmanter Koloss, ein sanfter Riese mit weißem Haar, er gleicht einem alten und sanften Wald- oder Berggeist, einem Druiden und dem guten alten Mönch aus 'Romeo und Julia'. Er ist schön, aber ich weiß nicht von welcher Ehrfurcht gebietenden Schönheit (...) Von der Suppe an bezaubert er uns mit seiner kindlichen Redeweise, 'schmückt uns mit Girlanden', wie man im Russischen sagt, durch diese Mischung aus Naivität und Finesse. Das Verführerische der slawischen Rasse wird bei ihm noch gesteigert durch seinen umfassenden Geist, seine reichen und kosmopolitischen Kenntnisse. - Er berichtet uns von dem Monat im Gefängnis, den er nach der Veröffentlichung der 'Aufzeichnungen eines Jägers' verbüßen musste, jenem Monat, den er, in Geheimakten blätternd, in der Zelle des Archivs eines Polizeiquartiers verbrachte. Er zeichnet uns mit dem Strich des Malers und Romanciers den Polizeichef, den er eines Tages mit Champagner berauschte und der, indem er seinen Ellbogen berührte und sein Glas erhob, zu ihm sagte: 'Auf Robespierre!' - Dann hält er einen Augenblick inne, bevor er fortfährt: 'Wenn ich auf diese Dinge stolz wäre, so hätte ich nur einen Wunsch: dass man auf meinem Grabstein festhält, was die Befreiung der Leibeigenen meinem Buch verdankt. Ja, mehr würde ich nicht verlangen. Zar Alexander hat mir sagen lassen, dass die Lektüre meines Buches eines der maßgeblichen Motive seines Entschlusses gewesen sei.'"

Ein Held unserer Zeit

In dem Roman Väter und Söhne erschuf Turgenjew die Figur des "Nihilisten" Bazarow, eines revolutionär gesinnten jungen Mannes, der zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen dem Feudalsystem und der Revolution, zwischen den Vätern und den Söhnen steht. Er geht an dem Zwiespalt zugrunde, der in den Augen Turgenjews der Zwiespalt Russlands war. Bazarow, von Beruf Mediziner, wurde zur meistdiskutierten Gestalt der russischen Literatur im 19. Jahrhundert. Fast meint man hinter ihm bereits den "neuen Menschen" einer späteren Zeit zu erblicken, den sozialistischen Menschen der Zukunft, der seinen Daseinszweck in der Arbeit findet. Aber dann verliebt er sich in die schöne, unnahbare Aristokratin Odinzowa, und ein solcher Liebesvirus kann tödlich sein. Turgenjew benötigt dazu nicht mehr die Werther-Pistole, Bazarow infiziert sich an einem Typhuskranken, ausgerechnet beim Sezieren, wie ironisch vermerkt wird. Turgenjew schildert seinen Helden mit kritischer Distanz, was Sympathie nicht ausschließt. Bazarow, er allein, ist das Zentrum des Buches, sein glühender Kern, die stärkste Figur, wenn auch am Ende ein gefällter Riese. Als solcher bricht er mit dem Typus des "überflüssigen Menschen", der in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts eine so große Rolle gespielt hat - von Alexander Puschkins Eugen Onegin bis zu Iwan Gontscharows Oblomow. Turgenjew nannte Bazarow "einen Helden unserer Zeit" und schrieb an Alexander Herzen: "Bei der Arbeit empfand ich nicht im geringsten Groll gegen ihn, sondern im Gegenteil 'Liebe, fast hätt' ich's Leidenschaft genannt' (...) Es wäre ein leichtes gewesen, ihn als - Ideal hinzustellen; doch ihn zum Wolf zu machen und ihn trotzdem zu rechtfertigen - das war schwierig; und das habe ich wahrscheinlich nicht geschafft; nur den Vorwurf will ich zurückweisen, ich sei gereizt gegen ihn gewesen. Mir scheint vielmehr alles, sein Tod und so weiter, ein der Gereiztheit gerade entgegengesetztes Gefühl auszustrahlen."

Im Alter schrieb Turgenjew in Briefen an Freunde zunehmend von seiner Einsamkeit, er sehnte sich nach Russland zurück. Als er 1883 in Bougival nahe Paris starb, wurde sein Leichnam nach St. Petersburg überführt. Tausende gaben ihm das letzte Geleit, der Trauerzug war drei Kilometer lang. Thomas Mann beklagte 20 Jahre später die Vernachlässigung Turgenjews zugunsten Dostojewskis und charakterisierte ihn mit den Worten: "Slawische Künstlermelancholie, nicht ganz ohne Posiertheit, es fehlt nicht die Stirnlocke, das Auge grau, weich und tief verschwimmend - aber eine Chopinsche Mondänität des Schmerzes bildet das Fluidum, man spürt Paris, Baden-Baden, Bougival, die Welt, die Gesellschaftsliteratur, europäisches Prosaistentum."


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. 2017 erschien bei Wallstein: Bis der reitende Bote des Königs erscheint. Über Oper und Literatur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2018, S. 58 - 60
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2018

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