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BUCHTIP/1046: Murat Kurnaz - "Meine Geschichte ist nicht zuende" (ai journal)


amnesty journal 6/2007 - Das Magazin für die Menschenrechte

"Meine Geschichte ist nicht zuende"
Murat Kurnaz hat ein Buch über seine Zeit in Haft geschrieben. Darin schildert er sachlich und detailliert seine Erlebnisse in den US-Gefangenenlagern in Kandahar und auf Guantánamo.

Von Ferdinand Muggenthaler und Rebekka Rust


Wir sind mit Murat Kurnaz im Büro seines Literaturagenten in Berlin verabredet. Vor dem Büro steht sein kleiner roter Sportwagen. Zurückhaltend schüttelt er uns die Hände, die Fotografin begrüßt er mit einem kaum sichtbaren Kopfnicken. Kurnaz ist eine öffentliche Person. Eine Rolle, die ihm unangenehm zu sein scheint. "Seit ich zurück bin, gehe ich kaum noch auf die Straße. Ich werde von so vielen Menschen angesprochen. Sie stellen mir Fragen. Aber ich kann sie nicht alle beantworten, und ich möchte nicht überheblich erscheinen, wenn ich nein sage", schreibt er in seinem Buch.

"Hat mich Guantánamo verändert?" fragt sich Kurnaz. "Ich bin immer noch derselbe", ist seine erste Antwort. Murat Kurnaz ist ein junger Mann aus Bremen, der sich für Motorräder und Sportwagen interessiert, der heiraten und eine Familie gründen möchte.

Als wir ihn treffen, wirkt er müde. Viele seiner Antworten fallen einsilbig aus. Es wirkt fast wie eine Entschuldigung, als er sagt: "Es gibt Dinge, die man nicht absagen kann. Ich weiß, was ai für mich getan hat. Da kann ich nicht einfach sagen: Ich hab keine Lust und Tschüss." Viele Fragen beantwortet ohnehin sein Buch. Auf fast 300 Seiten schildert er die Zeit seiner Haft, seine Rückkehr, aber auch Teile seines Lebens vor Guantánamo.

2001 verlässt der 19-jährige Schiffbauerlehrling heimlich die Wohnung seiner Eltern und bricht auf nach Pakistan. Heimlich, weil er Angst hat, seine Mutter würde ihn nicht gehen lassen. Heute weiß er, das wäre gut gewesen. Wenige Monate zuvor hatte er in der Türkei eine traditionelle Hochzeit mit einer gläubigen Muslima gefeiert. Ende des Jahres sollte seine Frau zu ihm nach Bremen ziehen. Er wollte die Zeit nutzen, um in Pakistan in einer Koranschule mehr über seine Religion zu erfahren.

In der Schule wird er abgewiesen, also reist er mit anderen Pilgern durchs Land. Als er schon den Rückflug plant, wird er bei einer der zahlreichen Polizeikontrollen aus dem Bus geholt, durchsucht, gefesselt, abtransportiert. Lange glaubt er, alles würde sich aufklären und er bald nach Deutschland zurückkehren können. Später erfährt Kurnaz in einem der Verhöre in Guantánamo, dass er für ein Kopfgeld von 3.000 Dollar an die US-Behörden verkauft worden war.

Was Kurnaz beschreibt, lässt dem Leser den Atem stocken. Mit Hilfe seines Ko-Autors Helmut Kuhn schildert er nüchtern und detailliert die Grausamkeit, die systematische Erniedrigung und die Willkür, der er erst im afghanischen Kandahar und später in Guantánamo ausgesetzt war.

In Kandahar wird er an den Armen aufgehängt und immer wieder geschlagen. Er beobachtet, wie ein anderer Gefangener auf diese Weise ums Leben kommt. Auch er glaubt, bald an der Folter zu sterben. In den Verhören soll er bekennen, Mitglied von Al Quaida oder den Taliban zu sein.

Kurnaz richtet den Blick auch auf das Leid seiner Mithäftlinge. In Guantánamo kann er selbst kaum glauben, was er in einer Nachbarzelle sieht: Seinem Mitgefangenen Abdul Rahman fehlen beide Beine. Die Stümpfe eitern. Trotzdem ist auch er in einem Drahtkäfig eingesperrt, wird auch er geschlagen.

"Wir haben aufeinander geachtet, aber letztendlich konnten wir uns nicht helfen. Das war unmöglich", betont Kurnaz in dem Interview. Trotzdem schaffen es die Gefangenen immer wieder, sich miteinander zu solidarisieren. Sie wissen, anders als in Kandahar, wird in Guantánamo darauf geachtet, dass sie nicht sterben. Mehrmals beginnen sie einen kollektiven Hungerstreik.

Kurnaz trinkt Kaffee und blickt ins Leere. Kaffee hat er das erste Mal wieder getrunken, als er mit seinem amerikanischen Anwalt Baher Azmy in Guantánamo zusammentraf. "Bring mir das nächste Mal Kaffee mit. Ich habe jahrelang keinen mehr getrunken", sagt er zu ihm. "Wenn du das nicht schaffst, kannst du mich auch nicht freibekommen." Am nächsten Morgen bringt ihm Azmy einen Becher Kaffee mit - und eine heiße Apfeltasche.

Bis er tatsächlich freikommt, dauert es noch einmal zwei Jahre. Im Interview sagt Kurnaz: "Die waren alle froh, dass ich wieder da bin. Sie wussten gar nicht, wo sie anfangen sollten, zu fragen." Doch in seinem Buch wird deutlich: Seine Familie will oder kann nicht über seine Erlebnisse mit ihm reden. Mit ihnen hat er nicht über Guantánamo gesprochen. "Sie haben mich nicht danach gefragt. Vielleicht braucht das Zeit."

Ist das Buch für ihn eine Möglichkeit, mit der Geschichte abzuschließen? Kurnaz gefällt die Frage nicht. Er habe kein Problem mit dem, was er erlebt habe, erwidert er. Er versuche daher gar nicht erst, es zu vergessen. Außerdem: "Meine Geschichte ist mit dem Buch nicht zuende. Das Misstrauen der Politiker, der Verdacht, dass ich angeblich gefährlich sein soll - das geht ja alles weiter." Noch immer wird behauptet, damals, 2002, wollte man ihn in Deutschland nicht haben, weil er gefährlich war. "Komischerweise darf ich heute als freier Mensch rumlaufen", sagt Kurnaz.

Fragen nach dem politischen Hintergründen wehrt Kurnaz ab. In Haft habe er die Politik nicht verfolgen können, sagt er. Auch in seinem Buch beschränkt er sich auf das, was er unmittelbar erlebt hat. Aber, korrigiert er sich dort, "vielleicht hat mich Guantánamo doch verändert". Er wisse nun, "was Politiker reden und wie sie handeln. Ich weiß vieles neu zu schätzen. Was es bedeutet, schlafen und essen zu dürfen. Frei zu sein."

Früher habe er nie darüber nachgedacht, ob er Deutscher oder Türke sei. Bremen sei aber immer sein Zuhause gewesen. Jetzt hat er die deutschte Staatsbürgerschaft beantragt. "Ich habe das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft. Eigentlich dürfte mich keiner daran hindern - außer, den Politikern fällt etwas Neues ein", erklärt Kurnaz.

Wie sollte er auch Vertrauen haben in einen Staat, der ihn so lange im Stich gelassen hat. Während er als Nummer 61 unter falschem Namen jahrelang in Guantánamo inhaftiert war. Auf seinem Plastikarmband stand: "Kunn, Murat." Bis zuletzt.


MURAT KURNAZ
Fünf Jahre meines Lebens.
Ein Bericht aus Guantánamo.
Rowohlt Berlin.
16,90 Euro


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Quelle:
amnesty journal, Juni 2007, S. 34-35
Herausgeber: amnesty international
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2007