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BUCHTIP/1110: Die Vögel der Schweiz (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 4/2008

Veröffentlichungen

Die Vögel der Schweiz
Von L. Maumary, L. Valotton & P. Knaus
848 S., 2370 Farbfotos, Hardcover, 15,5, x 31 cm.
Schweizerische Vogelwarte Sempach & Nos Oiseaux,
Montollin, 2007. EUR 115,00.


4,8 kg Gewicht; größerer Satzspiegel als im "Handbook of the Birds of the World"; 2370 Fotos aus der Schweiz von allen dort bisher festgestellten Arten; 790 Karten, Grafiken und Diagramme, die 67000 Datensätze der schweizerischen Beringungszentrale sowie 2,5 Mio. Datensätze zu Vorkommen und Verbreitung der Vögel in der Schweiz auswerten; 6540 Literaturzitate.

Dem "Jahrhundertwerk zur Schweizer Vogelkunde" (Presseinfo) werden nur Superlative gerecht, unter denen auch ein Hinweis auf die hervorragende, geradezu luxuriöse Aufmachung nicht fehlen darf. Superlative begeistern, führen aber auch an Grenzen. Alles über die Vögel der Schweiz - ist ein Buch überhaupt in der Lage, einen solchen Anspruch zu erfüllen? Große Probleme ergeben sich aus der Materialfülle, die am Beispiel der ornithologisch so hervorragend erforschten Schweiz auch für ein kleines Land selbst in einem überdimensionalen Buch kaum zu bändigen ist. Winziger Druck, so gut wie unlesbare hochgestellte Abkürzungen als Literaturhinweise, Minigrafiken und kaum mehr zu erkennende Datenpunkte auf manchen Verbreitungskarten zwingen auch den mit guten Augen ausgestatteten Leser, sich dem Werk mit der Lupe zu nähern. Will man sich genauer in die hier ausgebreiteten Schätze vertiefen, empfiehlt sich ohnehin ein stabiles Lesepult mit guter Beleuchtung.

Das klingt nach kleingeistigem Mäkeln angesichts einer imponierenden Leistung. Aber hymnische Lobpreisungen, in die Ornithologen und Vogelbeobachter beim Stöbern in diesem Prachtwerk geradezu zwangsläufig ausbrechen, stehen gegen das ebenso unabdingbare "zu groß, zu viel, zu verwirrend, zu überladen, zu kompliziert, zu teuer, überzogener Aufwand" nüchterner Überlegungen des Marketings und effektiver und effizienter Informationsverbreitung. Ein "Jahrhundertwerk" muss sich daran messen lassen, ob es für eine vergangenes Jahrhundert Resümee liefert oder ob es für das kommende Standortbestimmung und Maßstab sein kann. Im elektronischen Zeitalter fragt man sich ohnehin: Wer stellt sich heute noch ein solches Papiergewicht ins Regal, in dem viele Details schon bei Erscheinen ein "Update" fordern oder ein baldiges Verfallsdatum tragen?

Das Abwägen zwischen Aufwand und möglichem Erfolg ist in der Tat sehr schwierig. Nicht wenige der Fotos etwa sind überflüssig und auch zu klein. Aber die Bilderfülle bietet eine Dokumentation der Vielfalt des Vogellebens, wie sie bisher wohl noch in keinem Fotobildband selbst über weit größere geographische Räume erreicht worden ist. Jeder entdeckt Neues, Schönes und Staunenswertes und wird auch von einmaligen Bilddokumenten überrascht (wie von den Steinhühnern auf einer Bergstraße, S. 17). Es lohnt sich allein der Fotos wegen, immer wieder einmal das Buch aus dem Regal zu wuchten, und für die Autoren vielleicht auch, diesen Schatz nochmals in einem eigenen Bildband etwas großformatiger zu heben. Jedes Foto ist zudem vorbildlich kommentiert und erläutert - leider in vielen Büchern nicht selbstverständlich. Die Fülle der winzigen Karten und Grafiken scheint zu viel des Guten, sie aber mit der Lupe zu studieren, bringt Gewinn, für den Ausländer vor allem auch die genial zusammenfassenden Ringfundkarten. Der Text ist mitunter recht weitschweifig und umständlich, man hätte ihn leicht straffen können. Aber er gewinnt trotz der winzigen Schriftgröße den Leser, wenn er nüchternes Zahlenwerk und genormte Datensätze in einen berichtenden und erklärenden Zusammenhang einbettet. Gleichwohl: Ein Satz wie "der Star ist ein munterer Geselle..." wird den dafür geeigneten Adressaten in diesem Buch wohl kaum erreichen.

Das zentrale Problem für ein solches Jahrhundertwerk ist aber die davoneilende Zeit. Der Bartlaubsänger musste schon als Nachtrag der Schweizer Avifauna hinten angehängt werden. Weiteres wird rasch folgen. Systematik auf verschiedenen taxonomischen Ebenen und Taxonomie sind offenbar schon länger vor dem Redaktionsschluss festgelegt worden und so beschreibt man ausgesprochen konservative und teilweise auch überholte Befunde mitunter noch recht ausführlich. Eine kleine Schwäche dieses Buches.

Kann das Werk Vorbild und Messlatte für moderne Landesavifaunen sein? Sicherlich nicht, wenn man es 1:1 umsetzen möchte. Denn ein solches Buch ist unter normalen Verhältnissen nicht zu machen. Die eigentlichen Superlative dieses Werkes liegen nämlich in umfassenden Vorarbeiten, hier neben anderem zwei landesweite Brutvogelatlanten und vor allem jahrzehntelang gepflegte Datenarchive. Geradezu ein Heer fachkundiger Mitarbeiter und Berater muss eingebunden werden. Das alles kann nur in einer engen und wohlorganisierten Zusammenarbeit zwischen Museen, ornithologischen Instituten, Arbeitsgruppen, Vereinen und Feldornithologen funktionieren, fordert Unterordnung, Teamgeist, einen vielseitigen Planungsstab mit modernen Konzepten und Erfahrungen in Datenverarbeitung und Statistik sowie Profis in der Buchherstellung. Und dann bedarf es offenbar nimmermüder und begeisterter Autoren, die trotz oder vielleicht auch wegen eines riesigen Mitarbeiterteams gewaltige Arbeit über Jahre hinweg zu leisten haben. Zum Ziel führen letztlich aber erst Geldgeber und der Mut, ein derart gigantisches Werk auf den Markt zu bringen. Das alles dürfte für viele Projekte zu viel Aufwand mit sich bringen. Maßstab kann das Buch aber für aktuelle Ideen und Konzepte sein, die der Faunistik eine entscheidende Aufgabe als Voraussetzung für die Bewahrung der Artenvielfalt zuweisen. Kurz gesagt: Aufmerksames, gewissenhaftes und an wissenschaftlichen Fragestellungen orientiertes Vogelbeobachten und Vogelberingen ist nötiger denn je, trotz aller Modellentwicklungen und Hightech-Arbeit. Und die Erkenntnisse müssen der Öffentlichkeit umfassend zugänglich gemacht werden. Also doch ein Jahrhundertbuch für die kommenden Jahrzehnte!

E. Bezzel


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 4/2008
55. Jahrgang, April 2008, S. 158
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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E-Mail: falke@aula-verlag.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,60 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 47,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. April 2008