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BUCHTIP/1169: Vogelbuch aus dem 16. Jahrhundert von Conrad Gessner (Der Falke)


Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 7/2009

Das Vogelbuch von Conrad Gessner (1516-1565)
Von K. B. Springer & R. K. Kinzelbach

582 Seiten, ca. 450 sw-Abb., Hardcover, 26,5 x 19,5 cm
Springer Verlag, Berlin, Heidelberg 2009.
ISBN 978-3-540-85284-1. EUR 199,95.


Das ist ein ungewöhnliches Vogelbuch: Im Mittelpunkt steht die Avifauna Mitteleuropas, wohlgemerkt die des 16. Jahrhunderts, und das mit einer kaum vorstellbaren Datenfülle. Informationen aus der ornithologischen Frühzeit sind viel reichhaltiger, als wir uns das vorstellen. Sie müssen nur richtig erschlossen werden. Springer und Kinzelbach werten das bereits 1555 erschienene und bis 1669 mehrfach neu aufgelegte bzw. übersetzte Vogelbuch ("de avium natura") des Zürcher Arztes und Universalgelehrten Conrad Gessner mit einzigartiger Akribie und mit geradezu meisterdetektivischem Gespür aus. Mithilfe eines "Werkzeugkastens" aus sprachwissenschaftlichen Informationen, Literatur, Archivalien, Sammlungsmaterialien, kunst- und kulturgeschichtlichen Informationen erschließen und deuten sie Gessners Vogelbuch und können so "harte" avifaunistische Daten rekonstruieren. Obwohl grundsätzlich bekannt, sind Gessners Buch und sein Wissenshintergrund bislang unterschätzt worden. Die Erschließung der bedeutendsten und umfangreichsten Datenquelle über die europäische Vogelwelt bis ins 16. Jahrhundert durch die beiden Autoren bietet oft erstaunlich präzise und vielschichtige Informationen zu - man mag es kaum glauben - 260 Vogelarten. Diese Informationen stellen einen unschätzbaren Fundus für die postglaziale Faunengeschichte, die Interpretation rezenter Ausbreitungsvorgänge, kulturzoologische und wissenschaftsgeschichtliche Fragestellungen dar. Eine Vielzahl an Aspekten, die sich mit den historischen Veränderungen des Klimas und der Entwicklung der Landschaft befassen, können von nun an wesentlich valider interpretiert werden.

Das schwergewichtige Werk gliedert sich in drei Teile. Im ersten werden Ziele und Methoden erklärt und Gessner als Wissenschaftler gewürdigt. Dieses Kapitel entspricht eigentlich einer ausführlichen Biografie dieses ungewöhnlich gebildeten und selbstkritischen Wissenschaftlers, der mit praktisch allen Wissensgrößen seiner Zeit im Austausch stand. Seine Arbeitsweise und Naturverständnis werden darin dargestellt, ebenso die Entwicklung einer pragmatischen Systematik. Der zweite Teil extrahiert für alle 260 nachgewiesenen Vogelarten die Informationen, die für Artdiagnose, Artbiologie und weitere Fragen von Bedeutung sind. Der dritte Teil stellt die Abbildungen aus der Auflage von 1585 denen späterer gegenüber und gibt Informationen zu deren Deutung. Dabei fällt auf, das die frühen Abbildungen wesentlich genauer als die späteren sind.

Der Leser reibt sich die Augen, welch subtile Unterschiede zwischen Arten Gessner bereits bekannt waren bzw. sich mit heutigen Möglichkeiten entschlüsseln lassen. So wird z. B. zwischen Großem Brachvogel und Regenbrachvogel, zwischen Ufer- und Pfuhlschnepfe klar unterschieden. Beeindruckend ist, wie viele der Linneischen Namensgebungen sich auf Gessner zurückführen lassen. Klar kommt auch zum Ausdruck, dass wir heute Gessner als Wegbereiter der modernen Ornithologie sehen müssen.

Springer und Kinzelbach haben ein grundlegendes Werk geschaffen. Es ist wegweisend für alle Folgeprojekte, die sich mit der Erschließung historischer avifaunistischer Daten befassen. Es ist eine Schatztruhe; leider entspricht dem auch der Preis. Wer jedoch Informationen zur historischen Avifaunistik benötigt, wer sich mit Biogeographie, Kulturgeschichte, mit Klima- oder Landschaftswandel befasst, für den ist dies ein unverzichtbares Buch.

K. Schulze-Hagen


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Quelle:
Der Falke - Journal für Vogelbeobachter 7/2009
56. Jahrgang, Juli 2009, S. 280
mit freundlicher Genehmigung des AULA-Verlags
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Internet: www.falke-journal.de

Erscheinungsweise: monatlich
Einzelhelftpreis: 4,80 Euro
Das Jahresabonnement für 12 Hefte ist im In-
und Ausland für 49,- Euro zzgl. Porto erhältlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2009