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SF-JOURNAL/039: Akzente... Gegenwärtige Trends und Grenzen des Genre (SB)


Science Fiction-Literatur - ein aussterbendes Genre?


Wer heute Science Fiction sucht, findet sie seltener in Form von Literatur, ein Buch ruft einfach nicht mehr die gewünschte, inzwischen größtenteils visuell ausgerichtete, starke Sensation hervor. Vielmehr ist ihr Inhalt weit verstreut, zum Beispiel in Fernsehen und Hörfunk, im Film, als Comic oder Computerspiel, in der Werbung und als Kinderspielzeug. Und weil man Science Fiction überall antrifft, ist sie nirgends wirklich greifbar. Hat sie sich in ihrer früheren Bedeutung als Vision, als Möglichkeit einer Beschäftigung mit Fragen der Zukunft, anderer Lebensformen und -weisen überlebt?

Welche Funktion kann sie heute noch haben? Bietet sie eigentlich noch etwas anderes als futuristische Unterhaltung? Traditionelle Science Fiction war bisher sehr auf technische und wissenschaftliche Themen ausgerichtet; bei den modernen antiwissenschaftlichen Tendenzen ist ihre Funktion, Ausdruck oder Spiegel wissenschaftlicher Entwicklung zu sein und Zukunftsbilder zu entwerfen, nicht mehr erwünscht.

Der Schwerpunkt des Genres hat sich verlagert, Science Fiction ist eher zu einem Frühwarnsystem geworden. Mit ihrer Hilfe werden die Folgen technischer oder naturwissenschaftlicher Entwicklungen abgeschätzt. So besteht ihre Funktion eher darin, die Auswirkungen wissenschaftlicher Entdeckungen auf die Gesellschaft zu beleuchten. Sie entwickelt keine Visionen mehr, sondern behandelt Fragen wie: Welche sozialen Folgen haben Genmanipulation, Klonen, künstliche Befruchtung, Mikroelektronik, Atomwaffen oder die Ausbreitung des Internet? Wirkungsvoll ansprechende Science-Fiction erzählt von den Ängsten der Gegenwart und den wissenschaftlichen Trends dieses neuen Jahrtausends, die unser Leben beeinflussen, sie entwirft Wunsch- und Warnbilder.

Aber sie wird auch zum Spiegel einer gegenläufigen Entwicklung: Wenige haben noch Lust, sich in ihrer Freizeit mit den Krisenerscheinungen unserer Zeit zu befassen, denn wir sind katastrophenübersättigt und der Warnungen müde. Zudem ist es schwierig, mit den schnell wechselnden politischen und wirtschaftlichen Veränderungen mitzuhalten, so daß Science Fiction oft frustrierend unglaubwürdig bleibt. Auf Seiten der Leser haben die Autoren hauptsächlich unter den Jugendlichen mit einer offen unpolitischen Haltung zu kämpfen. Für einen großen Teil der Bevölkerung in unserer Konsum- und Wohlstandsgesellschaft, in der Fernsehen, Popmusik, Klamotten und Markenprodukte den Blick für die Realität verschleiern, sind Bücher inakzeptabel geworden. Die Autoren reagieren mit dem bekannten Prinzip der Umverteilung darauf und wenden sich vermehrt den anderen Medien und der Space Opera zu oder weichen auf eine Mischung aus Science Fiction und Fantasy aus.

Um so nachdrücklicher soll hier ein Wort für den Fortbestand der traditionellen Science Fiction-Literatur eingelegt werden. Eine ihrer Stärken ist es, unter dem Deckmantel der Zukunft den Finger auf die gesellschaftliche Realität zu legen, dadurch zu provozieren, anzuregen, aufzurütteln, neue Ideen in Umlauf zu bringen, Mißstände aufzuzeigen und durch das ernüchternde Abbilden der Wirklichkeit Fragen zu stellen, ohne sie gleich zu beantworten. Sie spielt mit den Möglichkeiten, zeigt das Bekannte aus einem anderen Blickwinkel. Vielleicht erkennt der Leser dabei sogar ganz nebenbei, daß die Realität, in der wir leben, kein unveränderbarer Zustand ist. Wenn also von Literatur überhaupt eine Wirkung ausgehen kann, wenn sie Veränderungen auslösen will, dann wohl am unkompliziertesten durch das kleine Genre Science Fiction-Literatur, das zudem - ein großer Vorteil gegenüber "anspruchsvoller" oder "wertvoller" Literatur - unter seiner Leserschaft alle gesellschaftlichen Gruppen vereint.

Möge die Science Fiction-Literatur ihre Möglichkeiten in Zukunft wieder stärker wahrnehmen!

Akzente
Hinweise auf
- Bemerkenswertes, Erfreuliches und Wissenswertes
- Höhepunkte und Tendenzen in der Entwicklung
- neue literarische Richtungen
- gesellschaftliche Einflüsse


Erstveröffentlichung am 14. Febraur 2000

5. Januar 2007