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SF-JOURNAL/049: Akzente... Vorsicht, die Menschen kommen (SB)


Vorsicht, die Menschen kommen ...


Auswärtiger Territorialbesitz eines Staates, sprich Kolonie, gilt unserer Tage als überholt. Vor allem ist der den kolonialen Bestrebungen zugeordnete Sammelbegriff 'Kolonialismus' sehr negativ- belastet. Er soll einen Teil der Geschichte besiegeln, über dessen Auswirkungen sich aufgeschlossene Historiker und deren Auftraggeber längst einig sind, wie zum Beispiel ein aktueller Zeitungsartikel zur Kolonialgeschichte Indiens deutlich macht. Hier ein kurzer Ausschnitt:

Nach der uralten Machtformel aller Imperialisten hätten sie geteilt und geherrscht, Hindus, Muslime und Sikhs so aufeinander gehetzt, dass die Nachfolgestaaten ihres Kolonialreichs bis heute keinen Frieden finden, die gewachsenen bäuerlichen und handwerklichen Strukturen zur bequemeren Ausbeutung des Landes zerstört und das fast überwundene Kastenwesen wiederbelebt."
(DIE ZEIT, 51/2000, "Der Griff nach Indien" von Klaus Schulte-van Pol)

Nun ist es aber nicht so, daß allein die Epoche der kolonialen Expansionspolitik europäischer Staaten gegen Ende des 19. Jahrhunderts, so die lexikalische Umschreibung des Imperialismus, diese Entwicklung in Gang gesetzt hätte und angebliche Nachwehen bis in die Jetztzeit hineinreichten. Auch in der Zeit davor wurde geteilt und geherrscht, und in der Zeit danach nahm das Elend mit der Entlassung der Kolonien in die Unabhängigkeit seinen weiteren Lauf. Heute heißen die meisten ehemaligen Kolonien Entwicklungsländer, und damit sie den ihnen zugewiesenen, untersten Status in der Weltordnung niemals überwinden, werden sie unter anderem über Verschuldungsprogramme zu höchsten Anpassungsleistungen gezwungen, ohne daß damit die Schuldenfessel jemals gelockert würde. Sie wird vielmehr immer enger zusammengezogen. Hunger und Not nehmen rasant zu und der Kampf um vermeintliche Teilhabe am sogenannten westlichen Lebensstandard kostet jenen Menschen das Leben, die bei der Hatz ums Überleben nicht mithalten können und deren tote Masse allen anderen auf dem 'Weg nach oben' zweckdienlich ist...

Aber zurück zum Kolonialismus. Jeder gute, d.h. moralisch integre Mensch hat also begriffen, daß kolonialisierte Völker mißbraucht und ausgebeutet wurden. Deshalb erfand man Begriffe wie Kolonialismus und Imperialismus, und fortan üben sie in der großen Gemeinschaft staatlich verordneter Allgemeinwörter eine Verschlußfunktion aus, die lästiges Nachbohren und Nachfragen und eventuelles Forschen nach Formen des Zusammenlebens, die nichts mit den jeweils herrschenden Regierungen zu tun haben, verhindern sollen.


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Was hat das alles mit Science Fiction-Literatur zu tun? Dieses Genre setzt sich nicht selten ganz unbefangen über eben beschriebene erstarrte und für das Überleben der Menschheit geradezu gefährliche Übereinkünfte hinweg. Wenn sich also einige Science Fiction-Autoren verstimmt darüber zeigen, nicht ganz ernst genommen zu werden, erweist sich doch genau das als ein Segen und verschafft unserem zugedeckelten Denken Raum und zumindest in diesem Rahmen die Möglichkeit, ein Was-könnte-es-sonst-noch-geben in Augenschein zu nehmen.

Das Gründen von Kolonien ist in der Science Fiction-Literatur für Menschen und alle anderen im Kosmos lebenden Wesen die normalste Sache im Universum, wenn es um Raub und Beute geht - oder, etwas vornehmer ausgedrückt, wenn es um Wissensdurst und Neugierde, Fortbestand und Erhalt der eigenen Art oder beispielsweise darum geht, Touristen oder Aussteigern eine Möglichkeit zu verschaffen, ihre Wünsche zu realisieren. Zum Kolonialismus als Festschreibung einer Bewegung kommt es in diesem Sinne aber meistens nicht. Das Universum mag groß sein, doch gerade deshalb verlaufen viele Begegnungen versteckter, kleiner und beweglicher und können aufgrund der besonderen Umstände der unterschiedlichsten Schauplätze und Begebenheiten auch niemals gleich durchdacht und behandelt werden.

Der Grundsatz 'teile und herrsche' kann zum Beispiel auf völlig fremde Lebensformen, die der Mensch anfangs vielleicht nicht einmal als solche erkannt hat, gar nicht angewendet werden. Hier müssen alle Beteiligten ohne bewährte Vorgaben miteinander auskommen oder auch nicht, wobei sich manchmal außergewöhnliche und ungeahnte Formen des Zusammenlebens ergeben - eine Bezeichnung übrigens, die nicht immer von allen gleich verstanden wird.

Denn auch Außerirdische haben durchaus ihre Mittel und Wege im Umgang mit räuberischen Menschen. Ein weit verbreitetes und praktisches Motto lautet zum Beispiel: Spreche mit einem Menschen nie in ganzen Sätzen.


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Diese Devise hat sich im Fall der Moomies als überlebenswichtig herausgestellt. Ihre Welt, ein kleiner Planet im fern gelegenen Aldebaran-System, wurde von Menschen besetzt, die sich dort aufführten wie Kolonialherren der schlimmsten Sorte. Sie meinten, sich die Moomies als Sklaven abgerichtet zu haben; was in gewisser Weise vorübergehend auch so war. Aus unbekannten Gründen allerdings reduzierte sich die Zahl der Moomies immer mehr.

Weder wußten die Menschen, wo die Moomies herkamen, es gab nur ausgewachsene Exemplare, noch wo sie hingingen. Sie verschwanden einfach, genau wie die Lupos vor ihnen. Das war die andere Lebensform, die hier anfangs existierte, bevor die Kolonialisten es sich zum Sport gemacht hatten, diese eineinhalb Meter hohen, grasgrünen, blitzschnellen Achtbeiner zu jagen. Es schien Millionen von ihnen zu geben, doch der 'Spaß' hatte nur ein Paar Monate angehalten. Dann waren die Lupos plötzlich weg. Wie vom Erdboden verschluckt. Und das war das erste und einzige Mal, daß die Moomies die Menschen kontaktierten. Sie waren unruhig geworden und wollten, daß die Menschen die Lupos in Ruhe ließen. Mit Waffengewalt machten die Kolonialisten deutlich, wer hier Herr im Hause sei. Fortan zeigten sich die Moomies willig und hilfsbereit und brachten sogar Moomie-Früchte als Geschenke mit.

Die Menschen fühlten sich zweifellos überlegen ohne zu merken, was eigentlich vor sich ging. Lupos und Moomies nämlich gehörten zusammen. Sie brauchten einander, um ihre Art zu erhalten. Mittels der Moomie-Früchte entstanden Lupos, die sich später wiederum mit Hilfe eines bestimmten Tanz-Rituals in Moomies verwandelten. Nachdem nun aber alle Lupos verschwunden waren, kamen die Moomies kurzerhand auf eine andere, gute Idee. Die letzten Sätze der Kurzgeschichte von H. B. Hickey klären den Leser darüber auf: "Moomie tanzen den Tanz des Morgens. Auf und nieder und auf und nieder. Bald werden neue Moomie kommen. Bald werden neue Moomie tanzen. Lupo weg. Menschen kommen."


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Manchmal ziehen die Kolonisten aber auch von sich aus das ihnen anfangs fremde Leben vor und werden zu dem, was unsere Sprache nicht zu beschreiben vermag, wie etwa auf dem Planeten Jade. Es waren wohl mehrere hundert Vertragspartner, die sich in den Tälern und entlang der Küste des einzigen Kontinents auf Jade angesiedelt hatten, einem Planeten, auf dem kein tierisches Leben existierte. Das hätte der Erschließungsgesellschaft eigentlich von Anfang an verdächtig vorkommen müssen. Aber genauere Nachforschungen blieben aus und so entstand diese Geschichte von Michael G. Coney mit dem Titel: "Was wohl aus den McGowans geworden ist?"

Die Story schildert das Leben eines jungen Paares, welches sich auf Jade ein Grundstück zugelegt hatte. Nach zwei Jahren, die Kleinfamilie hatte inzwischen Zuwachs bekommen, begann deren langsame Umwandlung. - Das Problem wurde im nachhinein nie vollständig gelöst, hat aber vermutlich etwas mit der ungeheuer komplexen Molekularstruktur der organischen Basissubstanzen auf Jade zu tun. Sobald diese Moleküle in den menschlichen Körper gelangen, werden sie nicht aufbereitet. Vielmehr werden die eigenen Körperzellen nach und nach durch Zellen vom Jade-Typ ersetzt, und das sind grundsätzlich pflanzliche Zellen. - Viele Siedler blieben auf ewig verschwunden, die junge Familie jedoch konnte dank glücklicher Umstände gerade noch rechtzeitig gerettet werden; wobei Glück und Rettung vielleicht nicht die passenden Worte sind, wenn man den Gedanken des in Sicherheit gebrachten Ehemannes folgt: Im Krankenzimmer, "in diesem rechteckigen, peinlich genau aufgeräumten Zimmer, sah er die Bilder ganz deutlich vor sich, wie er sie das letzte Mal auf Jade gesehen hatte. Sie stand vor ihm und sah ihn an. Stephen neben ihr, regungslos. Er sah ihren schlanken Körper, den heiteren unbeweglichen Ausdruck in ihrem Gesicht, ihr smaragdgrünes Haar, das manchmal in einer Brise im Licht tanzte, in diesem Bild schien die Zeit stehengeblieben zu sein, und er hatte das schmerzliche Gefühl, etwas Großes verloren zu haben."


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Nicht selten werden die Menschen allerdings trotz erbitterter Gegenwehr selbst zu Opfern, wie in der Story "Am letzten Nachmittag" von James Tiptree, Jr. Sie erzählt von einer Gruppe Gestrandeter, die ihre Siedlung an dem einzig möglichen, jedoch leider auch einzig falschen Platz auf einem unwirtlichen Urwaldplaneten errichtet hatte.

Eine der vielfältigen Lebensarten auf dieser Welt sind riesige Wassertiere, die für ihr Fortpflanzungsritual an Land kommen. Ein Vorgang, der aufgrund der ungeheuren Größe dieser Seeungeheuer bestialisch anmutet, sich aber im wesentlichen nicht sonderlich von allen anderen Methoden einschließlich der humanoiden unterscheidet. Leider suchen diese Wesen in unregelmäßigen Abständen ihre alten Paarungsplätze wieder auf, in diesem Fall die mühsam errichtete, lebenswichtige Siedlung. - Viele Menschen mußten sterben und am Ende bleibt offen, ob alles vollständig vernichtet wurde.


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Oder die Menschen müssen schmerzhaft lernen, siegreich zu sein, wie Sydney J. van Scyoc in seiner Story "Mnara Mobilis" zu berichten weiß. Hier sind die Kolonisten dem enormen Bevölkerungsdruck und vor allem den Beton- und Asphaltwüsten ihres Heimatplaneten Erde entflohen und waren aufgrund dessen umso mehr einem Naturschauspiel ihrer neuen Welt erlegen - was sich im nachhinein als tödliche Bedrohung für sie alle erwies. Leider wußten die Siedler sich dagegen zu wehren und mußten fortan Mittel bemühen, derentwegen sie eigentlich die Erde verlassen hatten. Ein Sieg also, der einen äußerst schalen Nachgeschmack hinterläßt.


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Ja, und dann gibt es noch die nicht so zahlreichen Geschichten, die so unheimlich und so schön sind, daß man sie nur ganz leise und als Geheimtip weitergibt...

Natürlich bietet auch Science Fiction-Literatur keine Antworten und Lösungen. Das will sie auch gar nicht. Im Gegenteil. Sie beschäftigt sich bevorzugt mit neuen oder alten, nie geklärten und fortwährenden Schwierigkeiten. Nur einer Sache ist man sich als Science Fiction- Autor und -Leser gewiß: Nichts muß so sein, wie es ist.

Um meinen Worten mehr Gewicht zu verleihen, möchte ich den Beitrag schließen mit dem Ausspruch eines alten Hasen der Science Fiction, der schon Bücher geschrieben hat, als ich gerade einmal das Licht der Welt erblickte. Gemeint ist Isaac Asimov:

Die einzelnen Science Fiction-Geschichten mögen den blinderen Kritikern und Philosophen der Gegenwart so trivial wie eh und je erscheinen - aber der Kern der Science Fiction, ihre Essenz, das Konzept, aus dem sie sich entwickelt hat, ist für unsere aller Rettung entscheidend, wenn wir überhaupt gerettet werden wollen.


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Literatur:

- Science Fiction Stories Nr. 47,
Hg. Walter Spiegel;
Ullstein, S. 89-96, "Lupo weg. Menschen kommen"
von H. B. Hickey, 1970

- Science Fiction Stories Nr. 47,
Hg. Walter Spiegel;
Ullstein, S. 65-88,
"Was wohl aus den McGowans geworden ist"
von Michael G. Coney, 1970

- Science Fiction Stories Nr. 1,
Hg. Wolfgang Jeschke, Ullstein, S. 67-91
"Mnarra Mobilis" von Sydney J. van Scyoc, 1973

- Warme Welten und andere, Stories
von James Tiptree, Jr.; Heyne Verlag, 1981
darin: "Am letzten Nachmittag", S. 89-120 (c) 1975

- Isaac Asimov präsentiert:
Faszination der Science Fiction, Bastei Lübbe, 1985
darin Schlußsatz der Einführung:
"Meine Betrachtung der Science Fiction", 1981


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Akzente
Hinweise auf
- Bemerkenswertes, Erfreuliches und Wissenswertes
- Höhepunkte und Tendenzen in der Entwicklung
- neue literarische Richtungen
- gesellschaftliche Einflüsse

Erstveröffentlichung 2001

9. Januar 2007