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BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)


Wachkoma - die vermeintliche Selbstverständlichkeit einer Zustandsbeschreibung und Kategorisierung hinterfragen

Zugewandte Gesprächsatmosphäre beim Workshop mit Petra Gehring

Workshop-Gesprächsrunde - Ernste Fragen im Gespräch begehbar - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ernste Fragen im Gespräch begehbar
Foto: © 2011 by Schattenblick

Wachkoma. Wachkoma? Wach? Koma? Schon der Begriff "Wachkoma", so gebräuchlich er auch sein mag, bietet Anlaß und Gelegenheit zu Fragen und kontroversen Diskussionen. Wie kann ein Adjektiv wie "wach", das sich etymologisch im 16. Jahrhundert aus dem Substantiv "Wache" entwickelt hat, den Zustand des Wachens zu beschreiben versucht und im allgemeinen Sprachgebrauch mit frisch und munter sein assoziiert wird, mit dem Begriff "Koma", der medizinischen Bezeichnung für den schwersten Grad eines als Bewußtseinsstörung klassifizierten Zustandes, in dem ein Mensch durch äußere Reize nicht mehr zu wecken ist, in Verbindung gebracht werden? Dies ist nur eine der vielen interessanten und weiterführenden Fragen, die auf dem Workshop "Wachkoma: Kleine Zeichen oder keine Zeichen? Nachdenken über den Umgang mit einem Zustand" im Rahmen des Kongresses "Die Untoten" auf Kampnagel gestellt und in angenehmer Atmosphäre von den Teilnehmenden berührt und in Bewegung gebracht wurden.

Geleitet oder vielmehr moderiert wurde der Workshop von Petra Gehring, Philosophie-Professorin an der Technischen Universität Darmstadt, die seit vielen Jahren im Bereich der Theorie und Kritik der Biowissenschaften wie auch der Geschichte und Metaphysik des Lebensbegriffs forschend tätig ist und sich durch zahlreiche Publikationen und Buchveröffentlichungen einen Namen gemacht hat. Schon in ihren einleitenden Worten machte Frau Gehring deutlich, daß es in diesem Workshop, der sich in erster Linie an Menschen wendet, die im persönlichen oder beruflichen Bereich Erfahrungen mit Wachkoma-Patienten gesammelt haben, keineswegs um Expertenfragen, sondern einen persönlichen Erfahrungsaustausch gehen solle. Dies entspräche, so die Professorin, ihrem Verständnis von Wissenschaft, die sich eben nicht im Elfenbeinturm der Erkenntnis abspiele, sondern unmittelbar mit den Menschen zu tun habe in einem ganz praktischen Sinne.

Petra Gehring - raus aus dem Elfenbeinturm der Erkenntnis - Foto: © 2011 by Schattenblick

Petra Gehring (3.v.l.) - raus aus dem Elfenbeinturm der Erkenntnis
Foto: © 2011 by Schattenblick
Eine Kernfrage des Workshops wurde in dessen Titel schon vorweggenommen: Gibt es im Umgang mit sogenannten Wachkoma-Patienten eine Verständigung, gibt es "kleine oder keine Zeichen"? Wie ist die Situation dieser Menschen beschaffen, welche Probleme stellen sich für Angehörige und Pflegende? Da der Workshop im Rahmen des Kongresses "Die Untoten" stand, nahm Frau Gehring gleich zu Beginn auch zu diesem Begriff Stellung. Sie verhehlte nicht, daß ihr die Vorstellung, Menschen im sogenannten Wachkoma mit dem Begriff "Untote" in Verbindung zu bringen, nicht sehr behagt. Ihrer Meinung nach ist es sehr fragwürdig, den Zustand des Wachkomas, den sie schlicht als einen ganz anderen bezeichnete, irgendwo zwischen Leben und Tod anzusiedeln. Die Annahme, ein Wachkoma-Patient befände sich auf dem Wege zum Tod, bezeichnete Frau Gehring als zumindest stark interpretiert. Das Argument, ein Wachkoma-Patient wisse nicht, wo er sich befände, sei nicht stichhaltig; dies träfe schließlich auch auf schlafende Menschen zu, ohne daß sie deshalb als "untot" bezeichnet werden würden.

Unter den Teilnehmenden befanden sich Menschen, die mit dem Thema sehr vertraut sind, weil sich ein ihnen nahestehender Mensch im Wachkoma befindet oder befunden hat, aber auch Interessierte, die von Berufs wegen, durch die Pflege und Betreuung von Menschen im Wachkoma, mit diesem Problembereich oftmals nicht minder intensiv befaßt sind. Der Schattenblick nahm die Chance, an diesem Workshop teilzunehmen, gern und mit großem Interesse wahr, weil sich hier im Unterschied zu dem Trubel und der Geschäftigkeit, die die übrigen, zumeist als zeitlich engbefristete Vorträge konzipierten Veranstaltungen umwehte, in ruhiger Gesprächsatmosphäre die seltene Gelegenheit zu echter Nachdenklichkeit in Hinsicht auf die hier angesprochenen und thematisch den gesamten Kongreß betreffenden Fragestellungen bot.

So berichtete beispielsweise einer der Teilnehmer, ein Pflegedienstleiter aus einer Spezialeinrichtung für Wachkoma-Patienten, daß er nach einer Notfallintervention bei einem seiner Patienten zu hören bekam: Was machen Sie da eigentlich? Lassen Sie sie doch sterben! Von einer solchen Position aus ist es nicht etwa nur ein kleiner Schritt bis hin zum "unwerten Leben", eine solche Position beinhaltet die Unterscheidung zwischen lebenswertem wie - unwertem menschlichen Leben, und zwar in einem keineswegs theoretischen oder historischen Kontext, sondern mit womöglich tödlichen Konsequenzen. Dem steht der von dem Teilnehmer bezogene Standpunkt, daß das sogenannte Wachkoma eine völlig gleichberechtigte menschliche Existenzform sei, diametral gegenüber. Ihr wurde - zumindest in diesem Gesprächskreis - ebensowenig widersprochen wie der Auffassung, daß wir Menschen, die wir uns für "normal" halten, lernen können bzw. müßten, mit Menschen im Wachkoma zu kommunizieren und daß wir davon profitieren würden.

Von sachkompetenter Seite wurde auf Nachfrage zur Begriffsklärung verdeutlicht, daß das Wachkoma nicht mit dem künstlichen Koma verwechselt werden dürfe. Während das künstliche Koma ein durch kontinuierlich verabreichte Schmerzmittel immer wieder "künstlich" hergestellter und der Narkose bei einer OP vergleichbarer Dämmerschlaf sei, bei dem der Betroffene nichts mehr mitbekommen würde, stellt das sogenannte Wachkoma einen Zustand dar, in dem sich der Betroffene von sich aus, d.h. ohne medikamentöse Zufuhr, befindet. Der Begriff "Wachkoma", so die auf eigener Berufserfahrung beruhende Einschätzung eines Teilnehmers, sei mißverständlich. Es sei ein Zustand, in dem die Menschen aus Sicht Dritter wach sind. Sie halten die Augen offen und blicken umher, allerdings ohne zu fixieren. Sie atmen selbständig und wirken keineswegs schlafend. Es gäbe eine breite Skala von sehr unterschiedlichen Reaktionen, mit denen sich die Menschen in ihrer Umgebung befassen können - Reaktionen auf Schmerzen, aber auch Antworten auf Fragen und Berührungen. Es gäbe "sehr wache" Menschen im Wachkoma wie auch solche, die weniger reaktionsfreudig seien.

Die Frage, wie sich diese Situation für Betroffene anfühlen und darstellen mag, könne ein bißchen unheimlich werden bei dem Versuch, sich in den anderen "hineinzudenken". Dessen Zeichen seien wie eine Fremdsprache, in die wir uns hineinfühlen können. Dieser Aspekt bot Anlaß zu einem direkten Erfahrungs- und Meinungsaustausch zwischen den Teilnehmenden. Denken wir über diese Menschen, sie seien "nur ein Körper", oder halten wir es sogar für möglich, daß die Betroffenen ihrerseits darüber nachdenken könnten, wie es den Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung wohl geht?

Diese Frage ist mit den Erfahrungen, die dem sogenannten Locked-in-Syndrom zugrundeliegen, im Grunde bereits beantwortet, und so wurde dieser Zustand von Patienten, die sich ihrer selbst wie auch ihrer Umgebung voll bewußt sind, ohne dies physisch signalisieren zu können, an dieser Stelle zur Sprache gebracht. Und es gibt Menschen, die aus dem sogenannten Wachkoma wieder aufgewacht sind und darüber berichtet haben. Die Vorstellung, daß die in diesem Zustand verlebte Zeit grauenhaft, von extremer Langeweile gekennzeichnet und als großes Leid erfahren worden sei, deckt sich keineswegs mit den Berichten Aufgewachter. Viele Wiedererwachte treffen sich einmal im Jahr, um ihre speziellen Erfahrungen auszutauschen. Nicht wenige sprechen von dieser Zeit als einer geistigen, nicht materiellen Erweiterung, und so kristallisierte sich immer mehr die Frage heraus, ob die geschilderten oder auch nur vermuteten Probleme der Wachkoma-Patienten nicht zu einem großen Teil auf der Seite der Umgebung und nicht bei ihnen selbst liegen könnten.

Petra Gehring merkte an, daß wir im Umgang mit Wachkoma-Patienten viel über die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir alle leben, erfahren könnten. Ein teilnehmendes Ehepaar, das seit bereits fünfzehn Jahren seinen im Wachkoma liegenden jüngsten Sohn umsorgt und betreut, wußte zu berichten, daß die vielen Freunde, die anfänglich sogar in ihrem Garten campiert hätten, weil sie alle glaubten bzw. den Versuch unternehmen wollten, ihren Freund "zurückzuholen", schnell verschwunden seien. Nach einem Jahr hätte es noch ein paar Anrufe zu seinem Geburtstag gegeben, und dann bald nichts mehr.

Der Teilnehmerkreis - Zugewandtes Zuhören in trauter Runde - Foto: © 2011 by Schattenblick

Zugewandtes Zuhören in trauter Runde
Foto: © 2011 by Schattenblick
Eine Kommunikation mit einem Menschen im Wachkoma zu entwickeln, erfordert unterdessen sehr viel Interesse, Mühe und Geduld. Einer der selbst in der Pflege tätigen Teilnehmer berichtete von der Schwierigkeit, in Erfahrung zu bringen, ob er denjenigen beim Umbetten in eine ihm angenehme Lage gebracht habe oder nicht. Was sich in der sprachlichen Verständigung, ein entsprechendes Interesse vorausgesetzt, schnell abklären läßt, kann bei Wachkoma-Patienten bedeuten, auf ihre Vitalparameter zu achten, also darauf, ob Puls- und Atemfrequenz sich verändern, ob eventuelle Spastiken sich verstärken. "Was kann ich verändern an dem, was ich getan habe?" lautet die Fragestellung, deren Beantwortung immer und immer wieder eine große Mühe und Zugewandtheit erfordert. "Ich kann lernen", so der Teilnehmer, "diese Zeichen zu lesen". Allerdings könnten die Zeichen auch irritierend und zweifelhaft sein; so scheint nicht jedes Augenzwinkern, mit dem häufig eine Kommunikation hergestellt wird, auch als ein Signal gemeint gewesen zu sein.

Menschen, die viel Erfahrung in dem Bemühen um eine solche Verständigung in der Pflege wachkomatöser Menschen gesammelt haben, könnten, wenn sie den Raum betreten, "spüren", wie es dem Betroffenen gehe. Diesen Erfahrungen zufolge scheint es Wahrnehmungen zu geben, so der Teilnehmer, von denen "wir nicht wissen, wie wir sie wahrnehmen". So würden erfahrene Pflegende auch spüren können, ob ein Mensch im Wachkoma liege oder hirntot sei; im letzteren Fall würden viele sagen: "Der ist nicht mehr da." Die Anwesenheit von persönlich betroffenen Angehörigen von Wachkoma-Patienten und Menschen, die beruflich in ihrer Pflege tätig sind, trug in diesem Workshop zur beiderseitigen Verständigung bei. So schilderten die Eltern des bereits in jungen Jahren ins Wachkoma gefallenen Sohnes, daß sie vielfach den Pflegekräften vermitteln mußten, daß es viel besser sei, bei jedem Handgriff ihrem Sohn zu sagen, was mit ihm gemacht werde.

Eine weitere Teilnehmerin, als Krankenschwester mit der Pflege und Betreuung von Wachkoma-Patienten betraut, beschrieb die häufig gemachte Beobachtung, daß Patienten erst einmal einschliefen, wenn Besuch gekommen ist, was für die Besucher oftmals irritierend sei. "Wieso schläft er ein? Möchte er nicht, daß wir da sind?" so die Frage einer verunsicherten Mutter. Auch das anwesende Elternpaar berichtete, daß ihr Sohn nach ihrer Ankunft regelmäßig rund zehn Minuten tief und fest schlafen und erst danach wieder "da" sein würde. Die Erklärung der Pflegenden lautete, daß dies ein Zeichen der Entspannung sei und bedeute, daß die Vertrautheit der Angehörigen als Sicherheit empfunden werde - "jetzt kann ich abschalten" -, was im Umkehrschluß allerdings auch bedeuten würde, daß die Situation in Abwesenheit der Angehörigen nicht immer als entspannt empfunden werde.

Von Angehörigen und Pflegenden gleichermaßen wurde bekräftigt, wie richtig und wichtig es sei, mit den betroffenen Menschen zu sprechen, auch wenn (scheinbar) keine Reaktionen erfolgten. Wenn Menschen berichten würden, an was sie sich zuletzt und zuerst erinnern könnten, nachdem sie beispielsweise in ein künstliches Koma versetzt wurden, würde immer die Kontinuität akustischer Reize erwähnt werden - was man zuletzt bzw. nach dem Wiedererwachen zuerst gehört habe. Wachkoma-Patienten vorzulesen und mit ihnen zu sprechen, das komme bei ihnen, so die einhellige Meinung aller Anwesenden, "irgendwie an". Berichten zufolge lasse sich zudem keineswegs ausschließen, daß die Betroffenen ein vollständig erhaltenes Sprachverständnis haben könnten.

Die allgemein vorherrschende wie auch im Medizinbetrieb anzutreffende Annahme, Wachkoma-Patienten würden mit ihrer Umwelt nicht in Kontakt treten (können), wurde von keinem der Anwesenden bestätigt. Eine Teilnehmerin berichtete von einem Betroffenen, der in den sieben Monaten, die er in diesem Zustand verbracht habe, dreimal geweint habe. Das seien sehr, sehr traurige Momente gewesen. Im Umkehrschluß bedeutet dies aber auch - so stellte sich im Gespräch heraus -, daß die Möglichkeit, daß der Betroffene in der übrigen, weitaus überwiegenden Zeit sehr wohl zufrieden mit seinem Leben und seiner Situation gewesen sein könnte und keinen Grund zum Weinen gehabt hätte, alles andere als abwegig ist. Dreimal in sieben Monaten zu weinen deutet keineswegs auf einen extremen Leidensdruck hin, wie es von anderen Menschen so häufig vermutet wird schon allein deshalb, weil sie selbst sich ein solches Leben nicht vorstellen können.

Eine weitere Teilnehmerin wird deshalb wohl für sehr viele Angehörige gesprochen haben, als sie berichtete, daß sie zunächst, als sie ihre Mutter zum ersten Mal in diesem Zustand sah, überhaupt nichts mit ihr anfangen und nicht einmal begreifen konnte, daß dieser Mensch, dieser Körper der vertraute Angehörige sein soll. Diese Verbindung (wieder) herzustellen, ist eine keineswegs leichte Angelegenheit, birgt jedoch zugleich das Potential zu weitaus grundsätzlicheren Fragestellungen in sich. Ist die Kommunikation zwischen Menschen, die sich als "normal" empfinden und definieren zu können glauben, wirklich so viel leichter, eindeutiger und sinnerfüllter? Wie ist es generell um die Verbindungen, die Menschen im engsten Familien- oder Freundeskreis, ja selbst in ihren intimsten Beziehungen miteinander eingehen, bestellt? Sind die Verständigungsprobleme, die zwischen Menschen im sogenannten Wachkoma und "normalen" bestehen, tatsächlich so einzigartig oder wird das zwischenmenschliche Dilemma wechselseitiger Erwartungen und prekärer Nutznieß-Verhältnisse, kurzum: der sozialen Fessel, an dieser Stelle bestenfalls besonders deutlich?

Eine weitere sehr ernste Frage betraf die nach dem Sterben der Wachkoma-Patienten. Woran sterben sie überhaupt? Aus fachkundigem Munde war schon zu Beginn klargestellt worden, daß das Wachkoma keine Krankheit ist, die zum Tode führt. Wäre dem anders, wie könnten Menschen aus dem Wachkoma wieder erwachen und ein, von bestimmten Spätfolgen abgesehen, "normal" anmutendes Leben führen? Das Wachkoma ist, so einer der Teilnehmer, ein "eigentlich völlig stabiler Zustand", und so lasse sich die Frage nach der Todesursache bei einem Menschen, der im Wachkoma stirbt, nur damit beantworten, daß er an denselben Todesursachen stirbt wie jeder andere Mensch auch, also an Lungenentzündung, einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, Krebs oder einem Herz-Kreislauf-Versagen. Das Wachkoma selbst, dies kann nicht deutlich genug unterstrichen werden, ist keine Krankheit, und eine tödliche schon gar nicht.

Menschen, die in jungen Jahren ins Wachkoma fallen, haben häufig völlig intakte Organe. Und so muß, so furchterregend dieser Gedanke auch sein mag, die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß ihre keineswegs geringe Lebenserwartung aus Sicht anderer und vor allen Dingen der beteiligten Institutionen, Ärzte, Krankenkassen und weiteren gesellschaftlichen Interessengruppen als ein Problem definiert und gehandhabt wird. Vor diesem Hintergrund sind die Patientenverfügungen durchaus zweifelhaft. Eine der Teilnehmerinnen vertrat die Ansicht, daß längst nicht so viele Menschen eine Patientenverfügung machen würden, wenn in den Medien anders darüber berichtet werden würde. Angesprochen und diskutiert wurde in dieser Runde auch, ob es nicht ohnehin sehr fragwürdig sei, Verfügungen darüber zu hinterlassen, was in einer Situation, die sich niemand vorab vorstellen könne, getan werden solle mit möglicherweise lebensverkürzenden Konsequenzen.

Bei Patientenverfügungen komme dann noch hinzu, berichteten Teilnehmer, daß sie in der Regel gar nicht berücksichtigt werden, wenn ein Notarzt gerufen wird. Er wird sofort handeln und nicht erst nach einer Patientenverfügung suchen. In einem Rettungswagen stellt sich diese Situation noch krasser dar, da die Rettungssanitäter in jedem Fall verpflichtet sind, Hilfe zu leisten. Wenn ein Mensch in einer Notfallsituation erst einmal an die Geräte angeschlossen wurde, sind im Grunde "Fakten geschaffen" geworden. Welcher Mensch wollte, selbst dann, wenn sich im Nachhinein herausstellt, daß dies in einer Patientenverfügung von dem Betroffenen so festgelegt wurde, die künstliche Beatmung wieder abschalten? In diesem Zusammenhang machte Petra Gehring deutlich, wie ungenau der Begriff der "Apparatemedizin" eigentlich ist. Was meinen wir, wenn wir sagen, wir möchten nicht "an Apparate" angeschlossen werden?

Eine Krankenschwester argumentierte daraufhin, daß es aus diesem Grund ratsam sei, eine Patientenverfügung sehr genau und detailliert auszuarbeiten und auch immer wieder zu aktualisieren. Eine andere Teilnehmerin beschrieb, wie ein naher Angehöriger zu Hause gestorben war in Begleitung professioneller Helfer und der entsprechenden Apparate, weshalb das Fazit gezogen wurde: Zu Hause zu sein ist der Punkt. Mit einem Formular wie einer Patientenverfügung wird diese Frage nicht zu lösen sein. Anläßlich dessen wurde daran erinnert, daß früher sehr viel mehr Menschen zu Hause gestorben sind und daß todkranke Menschen häufig selbst entscheiden und sagen konnten: Hol' mir den Arzt oder nicht. Heute scheint es dieses "oder nicht" nicht mehr zu geben, fast reflexartig greifen Angehörige in einer Krisensituation zum Telefon und rufen den Notarzt. Als Alternative wurde die Möglichkeit dargestellt, auf der Basis vorheriger Absprachen mit dem Betroffenen selbst und - eventuell - unter Zuhilfenahme einer ambulanten Unterstützung den sterbenden Menschen in seinem vertrauten Zuhause zu belassen.

Zum Abschluß des Workshops wurde der Begriff "Untote" noch einmal thematisiert. Petra Gehring führte dazu aus, daß es sich dabei eigentlich um Mythen von Wesen handeln würde, die nicht sterben könnten. Dies seien unglückliche Wesen, die erlöst werden müßten, um zu sterblichen Wesen zu werden. Demnach wäre die Sterblichkeit etwas, was den Untoten vorenthalten werde. Nixen und Vampire, um zwei Beispiele für Untote zu nennen, würden diesem Verständnis zufolge nicht im vollen Wortsinn leben, weil sie keine Sterblichen sind. Wie Frau Gehring darlegte, sind dies sehr europäische Vorstellungen von Leben, Ewigkeit und Glück. Sie gipfelten in der Behauptung, der Tod sei die Bedingung der Möglichkeit, glücklich zu sein in einem extremen Sinn. Ideen- und kulturgeschichtlich sind diese Vorstellungen keineswegs alternativlos. Petra Gehring rückte neben diese hierzulande verbreitete Einschätzung den historischen oder auch interkulturellen Vergleich. So bietet die antike Ethik vielfältige Vorstellungen zum guten Leben und Sterben. Und buddhistische Ideen legen ihren Fokus auf ewige Fortexistenz und Wiedergeburt. Das europäische Denken, das lebenszugewandter und unwiederbringlicher Existenz das Glück abzugewinnen bestrebt ist, ist also ein Stück gewordener Kultur. Und ganz andere Vorstellungen vom Glück sind möglich.

Die Zeit, nebenbei gesagt ein Begriff, der ohne die in unserem Kulturkreis dominierende Vorstellung einer Ewigkeit nicht bestehen würde, auch wenn er strenggenommen nicht mehr als Zählen bedeutet, reichte an diesem Tag und zu dieser Stunde nicht aus, um einer weiteren Diskussionsrunde den Zuschlag geben zu können. Die Zeit war um, der Workshop zu Ende, und so wenig, wie angesichts der vielen angesprochenen, eigentlich tabubehafteten Fragen, Erlebnisbereiche und Problemstellungen ein Fazit zu ziehen war, blieb doch, unbezweifelbar unter den Teilnehmern, das aus den zurückliegenden Stunden gezogene Wissen zurück, daß ein Gespräch über all diese Dinge möglich ist und daß sich die Frage nach seiner Nützlichkeit ganz einfach nicht stellt.


Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)

Innendekoration 'Die Untoten' mit menschlichen Schädeln - Faszination des Morbiden - Foto: © 2011 by Schattenblick

Seltsamer Kontrast - die Faszination des Morbiden
Foto: © 2011 by Schattenblick

20. Mai 2011