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BERICHT/017: "Die Untoten" - Das zweite Gesicht des Schönheitskultes (SB)


Maskentanz der Identitäten

Sander L. Gilman im Bühnenbild 'Krankenhaus' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sander L. Gilman im Bühnenbild "Krankenhaus"
Foto: © 2011 by Schattenblick

In der Modellierung des menschlichen Gesichts durch plastische Chirurgie erhält der Begriff "untot" einen höchst aktuellen Bezug. Erfüllten Schönheitsoperationen bislang den Zweck, die Uhr des Alterns um einige Jahre zurückzustellen, im besten Sinne so, daß die ärztliche Manipulation nicht zu erkennen war, so ist nun das Ideal einer Alterslosigkeit en vogue, der man den chirurgischen und pharmazeutischen Aufwand, mit dem sie erwirtschaftet wurde, durchaus ansieht. Der New Yorker Schönheitschirurg Douglas Steinbrech spricht von einer "neuen Mentalität", laut der der Arzt seine Arbeit nicht richtig gemacht habe, wenn das Gesicht nicht "ein wenig gemacht" aussähe. Nicht mehr bloße Verjüngung, sondern die Herstellung eines bestimmten Alters und dessen Aufrechterhaltung seien der dominante Trend in der Schönheitschirurgie, berichtet Eva Wiseman in der britischen Sonntagszeitung The Observer. [1] Das "year-zero face" ziere denn auch Frauen, deren biologisches Alter deutlich jünger sei als das von Chirurgenhand geformte Gesicht. Dessen glänzende Stirn, hochgeschwungene Wangenknochen und aufgeblasene Lippen bilden ein Ensemble figürlicher Erstarrung, das eher einer Skulptur ähnelt als einem von willkürlicher Mimik und natürlichen Eigenarten bestimmten Gesicht. Die künstlich geschaffene Physiognomie des Gesichtes in ihrer idealisierten Form gewinnt dem Leben gerade das ab, was es nicht auszeichnet, eine kontrollierte Alterslosigkeit, in der gesellschaftlich bestimmte Schönheitsvorstellungen ein Leben und Tod enthobenes Dasein eben untoter Art fristen.

Der letzlich vergebliche Versuch, sich dem biologischen Wandel zu entziehen, hat eine kosmetische Industrie geschaffen, deren bloße Inanspruchnahme schon ein Merkmal arrivierten Distinktionsstrebens zu sein scheint. Indem Mann und Frau zeigen, daß sie sich kostspielige chirurgische Eingriffe und pharmazeutische Präparate leisten können, demonstrieren sie die Zugehörigkeit zu einer Klasse schöner und langlebiger Menschen, der die biologische Formbarkeit ihres Körpers nicht mehr zu versteckender Makel, sondern zu inszenierendes Privileg ist. So greift der Warencharakter zu konsumierender Produkte auf den Körper eines angeblichen Mängelwesens über, das sich mit Hilfe apparativer und prothetischer Maßnahmen aller Art über das Eigenleben bloßen Wildwuchses hinwegsetzt. Individualität soll sich weniger über natürliches Wachstum als über das sozialdarwinistische Enhancement des Leibes zugunsten maximaler Attraktivität und Dauer definieren. Der einzelne erhebt sich zum Meister seines Schicksals nicht, indem er sich der Verallgemeinerung der zur Geltung gelangenden Normen physischer Fitness und Schönheit widersetzt und sein Gegenüber mit monströsem Nasenerker, ausladenden Ohren oder anderen Normabweichungen schockiert. Er erfüllt seine persönliche Bestimmung dann am besten, wenn er das erwünschte Aussehen selbst unter Schmerzen adaptiert und so Zeugnis davon ablegt, daß ihm der Vollzug der biologischen Bedingungen gesellschaftlicher Reproduktion über alles geht.

Folie mit Ankündigung des Vortrags 'Are Faces Us?' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

Scharaden für das Auge des Betrachters

Mit dem US-amerikanischen Kulturwissenschaftler Sander L. Gilman wurde auf dem Kongreß "Die Untoten" ein ausgewiesener Experte für die Geschichte der Medizin im allgemeinen und die der menschlichen Physiognomie im besonderen aufgeboten. In seinem Vortrag referierte Gilman über die Anfänge der plastischen Chirurgie und führte das Publikum an die Gründe heran, die Ärzte dazu veranlassen, sich mit medizinischen Veränderungen des menschlichen Antlitzes bis hin zur heute möglichen Wiederherstellung verunstalteter Gesichter durch eine Transplantation zu befassen.

Welches Gesicht wird als schön, welches als häßlich empfunden? Jeder erblickt im Spiegel sein authentisches Abbild, allerdings anhand der Maßstäbe, die seine Zeit und Kultur für die kategoriale Zuordnung seines Aussehens vorgeben. Die Vorstellungen von der Normalität des Gesichtes änderten sich Gilman zufolge von Epoche zu Epoche, von Land zu Land. Zwar hatten auch die Menschen früherer Zeiten die Möglichkeit, über kosmetische Manipulationen ihr Aussehen zu verändern, doch chirurgische Eingriffe zu diesem Zweck sind relativ jungen Datums.

Gilman, Verfasser des Standardwerks "Making the Body Beautiful. A Cultural History of Aesthetic Surgery", schildert die Geschichte der modernen Plastischen Chirurgie anhand eines ihrer Begründer, des Berliner Arztes Jacques Joseph. Er hatte in Leipzig Medizin studiert und war als Hilfsarzt bei dem bekanntesten Orthopäden seiner Zeit, James Israel, angestellt. Joseph wurde 1895 von einem jungen Mann aufgesucht, der stets wegen seiner großen Nase angestarrt wurde und so sehr dem Spott ausgesetzt war, daß er sich, depressiv geworden, aus dem gesellschaftlichen Leben fast vollständig zurückzog. Sein dringlichster Wunsch war, von seiner Verunstaltung befreit zu werden. Joseph sah im Problem seines Patienten eine Möglichkeit, seine chirurgische Kunst weiterzuentwickeln, und half ihm mit einer operativen Verkleinerung der Nase. Er entfernte einen Teil des Nasenbeins vom Inneren der Nasenhöhlen aus, indem er ein von ihm entwickeltes Instrument, das heute noch verwendet wird, durch die Nasenlöcher einführte.

Es handelte sich um die erste kosmetische Nasenoperation, jedoch nicht um den ersten chirurgischen Eingriff zur Verkleinerung der Nase. Diese wurden bereits Anfang des 19. Jahrhunderts durchgeführt, doch schnitt man das Organ damals von außen auf, um an das Nasenbein zu gelangen. Derartig behandelte Patienten hatten dann zwar eine kleinere Nase, aber auch eine deutlich sichtbare Narbe, so daß das Problem der als zu groß empfundenen Nase auf das einer nun gut sichtbaren Narbe verlagert wurde. Die verkleinerte Nase war für alle Betrachter, deren abfälliger Blick das eigentliche Problem der Betroffenen darstellte, als künstlich zu erkennen, so daß Josephs Operationstechnik einen großen Fortschritt in der Plastischen Chirurgie darstellte.

Als James Israel von der erfolgreich verlaufenen Nasenverkleinerung des bei ihm angestellten Arztes erfuhr, entließ er Joseph, gerade weil dieser ihm versichert hatte, daß die Nase voll funktionsfähig gewesen sei und nur wegen des Aussehens operiert worden war. Israel sah darin ein Verstoß gegen den Hippokratischen Eid, laut dem Ärzte nichts tun dürfen, was dem Patienten schaden könnte. Um sich zu rechtfertigen, führte Joseph in einem Bericht für die Berliner Medizinische Gesellschaft 1898 die psychischen Gründe an, die ihn zu der Entscheidung veranlaßten, eine Operation an einer ansonsten intakten Nase durchzuführen:

"Von wesentlicher Bedeutung ist der psychische Aspekt der Operation. Die schwermuthsvolle Stimmung des Patienten ist völlig geschwunden. Er ist froh, nunmehr unbeachtet umhergehen zu können. Dass sich seine Lebensfreude ganz ausserordentlich erhöht hat, ist unter anderem, wie mir seine Gattin voller Freude mittheilte, daran zu erkennen, dass der Patient, der früher allem gesellschaftlichen Verkehr scheu aus dem Wege ging, nunmehr den Wunsch hat, Gesellschaften zu besuchen und zu geben. Mit einem Wort: Er ist glücklich über den Erfolg der Operation."

Gilman gelang es, seine Zuhörer zu überraschen, indem er ein Porträt des Arztes zeigte, wo dessen Gesicht von mehreren Narben gezeichnet ist, die ihm während seiner Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung während seines Studiums in Leipzig zugefügt wurden. Das Publikum ahnte schon, worauf der Referent hinauswollte. Narbe ist nicht gleich Narbe. Die aus den Duellen, in der nur die Augen und der Hals vor dem Säbel des anderen Kämpfers geschützt sind, herrührenden Narben gelten als erbrachter Männlichkeitsbeweis. Dieser "Schmiß" wurde so gerne vorgezeigt, daß der immer anwesende Arzt Pferdehaare in die Wunde stopfte, um die Narbe besonders gut sichtbar zu machen. Der auch als renommierter Judaistikforscher bekannte Gilman merkte dazu an, daß jüdische Studenten wie Jacques Joseph damals noch Mitglied in jeder schlagenden Verbindung sein konnten, bis alle Juden als nicht satisfaktionsfähig erachtet und ausgeschlossen wurden. Daraufhin gründeten die jüdischen Studenten eigene schlagende Verbindungen.

Anhand der Frage, was nun ein echtes, authentisches Gesicht ausmache und ob wohl die Narben eines Arztes, der mit seiner neuen Operationsmethode kosmetische Korrekturen ohne das Zurückbleiben von Narben ermöglichte, dazugehörten, dekonstruierte Gilman die Vorstellung von der idealen Erscheinungsform des menschlichen Riechorgans. Mit Hilfe eines Zitats Theodor Herzls karikierte er den Kult um die Nase, der in dem Postulat gipfelte, daß ein echtes, authentisches Gesicht ein operiertes zu sein hat und keines, mit dem man geboren wurde. Wie sehr die darin einfließenden Formvorstellungen von zeitgemäßen Idealen bestimmt sind, stellte Gilman anhand der Überlegungen Josephs zur goldenen Mitte dar, die sich in den Proportionen der Nase wohl nur in der Kunst und dabei namentlich in einer Zeichnung Leonardo da Vincis findet. Gilmans Frage, ob die ideale Nase in der Wirklichkeit vorhanden sei oder aus der Wirklichkeit geschaffen werde, könnte man als das Henne-Ei-Problem der Plastischen Chirurgie bezeichnen.

Vortragsfolie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Grübeleien rund um die Nase
Foto: © 2011 by Schattenblick

Die Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund der Entstehung dieser medizinischen Disziplin aufkommende Frage, was als natürliches, authentisches Gesicht zu gelten habe, mündet heute in die inflationäre, schon Kinder betreffende Anwendung einer aus ästhetischen Gründen praktizierten Chirurgie. So stellte Gilman die Frage in den Raum, ob in der Zukunft operative Eingriffe zu diesem Zweck vor der Geburt, am Fötus, möglich sein werden, würden diese doch bereits in der Herzklappenchirurgie durchgeführt. Zwar wirkt die Vorstellung pränataler Nasenverkleinerungen utopisch, doch liegt sie durchaus im Rahmen einer technischen Machbarkeit, die mehr über ihre Realisierung befindet als alle dagegen erhobenen ethischen Argumente.

Gilman stellt das nun von ihm angeschnittene Thema der Gesichtstransplantation mit dem Beispiel von Filmen wie "Das Schweigen der Lämmer" und "Face/Off", für deren Macher diese Technik noch Zukunftsmusik war, der 2005 erstmals an der von einem Hundeangriff entstellten Patientin Isabelle Dinoire durchgeführten Operation dieser Art gegenüber. Die Französin erhielt von dem Arzt Jean-Michel Dubernard, der 1998 die erste erfolgreiche Handtransplantation durchgeführt hatte, ein neues Gesicht, dessen Gewebe von einem oder einer Verstorbenen stammten. Mutmaßungen darüber, daß die Empfängerin charakterliche Merkmale der Spenderin annehmen könne, und die Möglichkeit, daß es für die Familie des Verstorbenen eine unerträgliche Tragödie bedeuten könne, Teile des Gesichts der ihnen so vertrauten Person auf dem Antlitz eines anderen Menschen zu erblicken, dokumentieren den im Unterschied zur Verpflanzung innerer Organe besonders schwerwiegenden Charakter dieser Art von Transplantation.

So erlaubt das deutsche Transplantationsgesetz aus nämlichem Grund keinen Eingriff, der das Wiedererkennen des Spenders ermöglicht. Die Gefahr, daß ein transplantiertes Gesichtsteil auch etwas von der Seele des Spenders in sich trage, wurde Gilman zufolge nicht erst 2005 erwogen. Schon nach der ersten von dem südafrikanischen Chirurgen Christiaan Barnard durchgeführten Herztransplantation 1967 wurde darüber spekuliert, ob die Seele des Spenders oder zumindest dessen Charakterzüge auf den Transplantierten übergingen. Diesem Verdacht wollte der Referent keineswegs eine grundsätzliche Absage erteilen, fühlte er sich dabei doch daran erinnert, was Jacques Joseph beobachtete, nachdem sein Patient durch die Nasenverkleinerung wie ausgewechselt wirkte.

So zog Gilman zum Abschluß seines Vortrags das Fazit, daß anhand medizinischer Möglichkeiten wie der einer Gesichtstransplantation neue Fragen über die Bedeutung des menschlichen Antlitzes, etwa in seinem Verhältnis zur Seele, zu diskutieren seien. So wichtig Gesichter für die Menschen, die hinter ihnen stecken, sein mögen, so sehr wird ihr Aussehen von gesellschaftlichen Normen und historischen Entwicklungen bestimmt. Menschen entwickelten das Bild ihrer selbst ständig, doch wären sie nicht mit diesen Bildern identisch. Wir schaffen die Bilder und diese schaffen, was wir im Spiegel erblicken - mit diesem projektiven Zirkelschluß, der an den mysteriösen optischen Effekt des sich in einem Spiegel, der sich wiederum in einem Spiegel spiegelt, in die Endlosigkeit verflüchtigenden Betrachters gemahnt, entließ Sander L. Gilman das Publikum in die vergebliche Suche nach einer letztbegründbaren Identität.

Vortragsfolie - Foto: © 2011 by Schattenblick

Preis der Schönheit
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Fleischwolf der Körperschau

Das Thema der sogenannten Schönheitschirurgie, die von allen medizinischen Indikationen der Plastischen Chirurgie zur Wiederherstellung durch Unfallfolgen oder Gewalt zerstörter Gesichter abzugrenzen wäre, bietet über die reizvolle Beschäftigung mit der Frage menschlicher Identität im Spannungsfeld zwischen Selbstbild und Außenbetrachtung viel Anlaß zu gesellschaftskritischer Reflexion. So wird die Kundschaft der Schönheitschirurgen immer jünger, und zwar nicht nur aus einem subjektiv empfundenen Mangel heraus, sondern aufgrund eines am Aussehen orientierten Konkurrenzkampfes, der die heranwachsende Generation immer früher in den Schatten des beruflichen Überlebenswettstreits taucht. Der Verkehrswert der Ware "Schönheit" wird von einer massenmedialen Produktivität bestimmt, die gesellschaftlichen Erfolg glorifiziert und sozialen Abstieg stigmatisiert. Wer in diesem Maskentanz zu den Gewinnern zählen will, bedient sich dazu möglicherweise einer Manipulation seines körperlichen Erscheinungsbildes, die nicht nur schmerzhaft und kostspielig ist, sondern bei sogenannten Kunstfehlern erheblich entgleisen kann.

Dabei fördert die Gesellschaft den sozialen Konkurrenzkampf nach Kräften, will die ungeschminkte Realität des Rattenrennens jedoch ebensowenig zu Gesicht bekommen, wie dessen Teilhaber sich nichts mehr ersehnen als ihre physische Lebenswirklichkeit gegen die anderer einzutauschen. So sorgte sich die Kommission für Jugendmedienschutz 2004 angesichts der MTV-Show "I want a famous face", deren Kandidaten mit Tupfer und Skalpell auf die Physiognomie ihres Stars getrimmt wurden, und der Überlegung, Insassen des Big-Brother-Containers chirurgisch zu verschönern, um die psychische Gesundheit der Jugend. Zwar blieb es bei der eher zahnlosen Maßnahme der Verlagerung derartiger Shows auf einen späten Sendetermin, doch sind Staat und Gesellschaft nicht immer erfreut, wenn das herbeigerufene Gespenst des Flexibilitätsdogmas auch eintrifft.

Wenn Jugendlichen beigebracht wird, ihre Leistungs- und Anpassungsbereitschaft unter allen Umständen unter Beweis zu stellen, dann wirkt jede Kritik daran, daß sie ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch künstlich erzeugte körperliche Attraktivität erhöhen wollen, hohl. Für zahlreiche Frauen und Männer ist der Gang zum Schönheitschirurgen beruflich bedingt. Wo sich insbesondere Frauen nur über ein den erwünschten körperästhetischen Normen entsprechendes Aussehen Anerkennung verschaffen können, da liefern sie sich keineswegs freiwillig einem taxierenden Blick aus, der ihre Verpackung meint. Sie werden zum dekorativen Ornament erfolgreicher Männer degradiert und verlieren ihren Wert als schmückendes Beiwerk, wenn die Gesichtszüge aus Gründen des Alters oder eines ärztlichen Kunstfehlers so entgleisen, daß das ganze Elend dieses Arrangements offenbar wird.

So sehr die Kunden der Schönheitsindustrie frei sind, ihre Kaufentscheidung zu treffen, so sehr sind sie in ihrer Wahl bedingt durch gesellschaftliche Einflüsse, die sich ihrer Kontrolle entziehen. Wenn eine TV-Show wie "Germany's Next Topmodel" verdächtigt wird, die Zahl der kosmetischen Eingriffe anwachsen zu lassen, dann kann die Aussage ihrer Macherin Heidi Klum, sie wisse nicht, was ihre Show damit zu tun haben soll, da sie selbst "für natürliche Schönheit" stehe, dazu durchaus beitragen. Das jugendliche Publikum, dem dieser Startvorteil ins Leben nicht mit in die Wiege gelegt wurde, wird erst recht versuchen, diesen Nachteil mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu überwinden. Ein Leistungsparcours, in dem das körperliche Erscheinungsbild maßgeblich über den Erfolg der Kandidatinnen entscheidet, wird nicht dadurch gewonnen, daß frau sich auf die Natur verläßt.

Die Konditionierung der Physis auf ein kulturindustriell geprägtes Ideal fordert den Beauty-Adeptinnen eine asketische Disziplin ab, die an die Selbstkasteiungen religiöser Fanatiker erinnern kann, denkt man an die im Extrem zu Anorexie und Bulämie führende Verkrampfung im Umgang mit der eigenen Ernährung. Die in diesem Bestreben eingeübte Härte qualifiziert für eine Leistungselite, die im Umgang mit ihrer Leiblichkeit weit weniger frei ist, als es ihr gesellschaftlicher Erfolg glauben macht. Der normative Zwang zu einem attraktiven Aussehen, zu Enthaltsamkeit bei leiblichen Genüssen und einem stets siegreich lächelnden Auftreten erweist sich spätestens dann, wenn die auf das Urteil im Auge des anderen ausgerichtete Reflexion der eigenen Person und die Angst, den Erwartungen nicht zu genügen, zu emotionalen Zusammenbrüchen und destruktiven Karrieren wie Drogen- oder Magersucht führt, als Versklavung auf hohem Niveau.

Die Kommodifizierung der Körper durch eine globale Mode- und Unterhaltungsindustrie ist von nicht minder gewalttätiger Art als andere Formen der Ausbeutung durch fremdbestimmte Arbeit. Indem Jugendliche glauben, auf diesem Weg eine berufliche Karriere antreten zu können, die ihnen ansonsten verschlossen bleibt, adaptieren sie eine soziale Norm, die sich gegen alle richtet, die ihr nicht genügen. Kulturindustriell verwertbar gemachte Schönheit bewirkt mithin das Gegenteil dessen, was gemeinhin mit ihr in Verbindung gebracht wird - Lebensfreude, Harmonie, Freundschaft, Liebe. Dieses Instrument sozialer Eroberung läuft in ihrer massenindustriellen Vervielfältigung zu kulturimperialistischer Aggressivität auf, hat etwa das von der US-Filmindustrie verbreitete Frauenbild in asiatischen Ländern zur Folge, daß sich junge Frauen ihr Gesicht auf eine betont westlich wirkende Physiognomie trimmen lassen, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen.

Die Fetischisierung des Aussehens zum hochdotierten Tauschwert neigt nicht von ungefähr dazu, in maskenhafter Erstarrung und stereotyper Beliebigkeit zu resultieren. Das in den Leib eingeschriebene Kapitalverhältnis bringt Spitzenprodukte der Selbstinszenierung hervor, die mit Natur so wenig zu tun haben, wie die Persönlichkeit einer durch die Initiationsriten medialer Zurichtung gegangene Celebrity etwas anderes ist als ein Reißbrettprodukt ihrer PR-Berater. Casting-Shows, in denen die Jugend fit für eine Gesellschaft gemacht wird, in der Stärke und Schönheit das Überleben garantieren sollen, sind für heute heranwachsende Generationen das, was für ihre Großväter Kasernenhof und Fabrik, für ihre Großmütter Ehebett und Küchenherd waren. Mit einer Jugend, der das Marschieren auf dem Laufsteg unter den Augen einer kalt den Wert des jeweils angepriesenen Sklavenkörpers taxierenden Meute und das Absolvieren einer nach Vermarktungszwecken vorformulierten Showstarkarriere essentielle Ziele sind, lassen sich noch ganz andere Dinge anstellen als das Vorführen des Elends gegenseitigen Niederkonkurrierens.

Der Widerspruch zwischen propagierten gesellschaftlichen Werte und ökonomischen Verwertungsinteressen ist ein kulturindustrieller Produktivfaktor ersten Ranges. Es fällt dem Leser kaum mehr auf, wenn die Anprangerung angeblich nicht zu rehabilitierender Sexualtäter in seinem Boulevardblatt mit ins Auge springenden primären Geschlechtsmerkmalen unterstrichen wird, als stehe der handelsübliche Sexismus in keinerlei Verbindung zu sexueller Gewalt. Der "geheimnisvolle Tod des Busenwunders" (Bild-Zeitung) Lolo Ferrari im Jahr 2000 dokumentierte auf exemplarische Weise, wie eine Frau, die keinen Schmerz scheute, um Männern ein appetitliches Mahl zu sein, in den Fleischwolf einer regelrecht kannibalistischen Produktivität geriet.

Da Ferrari, die ihre Brust mit fünf von insgesamt 22 plastischen Operationen monströs vergrößern ließ, so daß sie kaum mehr gerade laufen konnte und selbst beim Liegen starken Einschränkungen unterworfen war, mit 37 Jahren unter ungeklärten Umständen starb, mußten die Schönheitschirurgie entlastende Experten aufgeboten werden, die sich partout nicht vorstellen konnten, daß eine solche Deformation einen Menschen umbringt. Die Möglichkeit zu erwägen, daß der Sexualisierung der Medien Mitverantwortung für den Tod dieser Frau und anderer Opfer des Warencharakters der Physis zukommt, lag so fern wie das finale Abfeiern des auf die Belange von Busenfetischisten zugeschnittenen Körpers Lolo Ferraris nahe. So wurde nach ihrem Tod ausführlich und mit großen Illustrationen über "das pralle Leben des Busenwunders" räsoniert, die "nackt in ihrem Bett" (Bild-Zeitung) starb. Ausschlachten, so lange noch ein bißchen Saft drin ist, und einer Meute vorwerfen, die vom Verwesungsgeruch nur noch erregter wird, lautet die Devise einer Medienmaschine mit nach unten offener Verächtlichkeitsskala.

Anstatt das Wirken einer Unterhaltungsindustrie zu reflektieren, die ihre Ware verhökert wie der Schlachter die Schweinelenden, wurde die postmortale Busenshow mit sozialpsychologischen Klischees über die Entstehung eines verpfuschten Lebens und schlüpfrigen Anekdoten über die belastenden Auswirkungen der ärztlich erzeugten Kuriosität bepflastert. Lolo habe nicht nur eine brutale Kindheit gehabt, sondern sei "sexverrückt" geworden, um sich schließlich zum Gespött des Publikums zu machen und dabei noch zu glauben, ein Superstar zu sein, lautete die Diagnose eines Schmierenjournalismus, dessen Aufgabe darin zu bestehen scheint, das Fleisch zum "Tittitainment", wie der US-Globalist Zbigniew Brzezinski das Mediensoma nannte, mit dem die Massen zum widerspruchslosen Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben angehalten werden, zu liefern. Soldaten zu entsenden, um muslimische Männer Mores zu lehren und ihren Frauen die Freuden einer permissiven statt restrikiven Unterwerfungskultur nahezubringen, ist eine Sache, gegen den auf dem eigenen Körper lastenden Verwertungsimperativ anzutreten offensichtlich eine ganz andere.

Wo die Fixiertheit auf Brüste bei Frauen und Muskeln bei Männern Geschlechterrollen reaktionärsten Charakters hervorbringt und die ergebnisorientierten Ideale von Fruchtbarkeit und Kraft früherer Zeiten zur Spielwiese narzistischer Selbstbeschau werden, findet nichts als Verbrauch der eigenen Substanz statt. Während die Eliten sich an den Eisen ihres Fitnessstudios abrackern, um in Form zu kommen, wird an Maschinen anderer Art, deren Personal nicht im Traum auf den Gedanken käme, dafür auch noch zu bezahlen, Lohnarbeit verrichtet. Produziert werden die Körper nicht um ihrer selbst oder ihres Wohlbefindens willen, sondern als Signatur eines Klassenverhältnisses, dessen Überlebensratio sich in wachsenden Unterschieden der Lebenserwartung und Lebensqualität manifestiert. Die Kultivierung der Physis zum Schaustück einer biologistischen Übermenschenästhetik geht auf Kosten all derjenigen, die nicht die körperlichen Anlagen und materiellen Mittel besitzen, die propagierten Ideale per Geburt oder medizinischer Intervention zu entwickeln. So wenig Sinn die Einschränkung der Freiheit des Menschen, seine physische Verfassung zu verbessern oder zu verschlechtern, macht, so sehr ist es erforderlich, das den propagierten Körperbildern und ihrer physischen Verwirklichung zugrundeliegende Gewaltverhältnis emanzipatorisch zu überwinden.

Fußnote: [1] http://www.guardian.co.uk/lifeandstyle/2011/jan/16/year-zero-face-plastic-surgery?INTCMP=SRCH

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)
BERICHT/010: "Die Untoten" - Systemvollendet - Schlachtvieh Mensch (SB)
BERICHT/011: "Die Untoten" - Verrechtlichung der Sterbehilfe Einfallstor für genozidale Lösungen? (SB)
BERICHT/012: "Die Untoten" - Palliativmedizin zwischen Patientenautonomie und Sterbehilfe (SB)
BERICHT/013: "Die Untoten" - Hirntodlüge aus Pflegesicht (SB)
BERICHT/014: "Die Untoten" - Her- und Hinkünfte des deregulierten Todes (SB)
BERICHT/015: "Die Untoten" - Vorgriff auf den eigenen Tod in künstlerischer Inszenierung (SB)
BERICHT/016: "Die Untoten" - Sandy Stone ... aus einem bewegten Leben (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)
INTERVIEW/002: "Die Untoten" - Petra Gehring, Philosophin (SB)
INTERVIEW/003: "Die Untoten" - Thomas Macho, Kulturwissenschaftler (SB)
INTERVIEW/004: "Die Untoten" - Roberto Rotondo, Diplom-Psychologe und ehemaliger Krankenpfleger (SB)

Vortragsfolie mit Filmplakat 'Face/Off' - Foto: © 2011 by Schattenblick

Zwiespältige Zukunft
Foto: © 2011 by Schattenblick

3. Juni 2011