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BERICHT/039: Griechischer Wein - den Feind mit seinen eigenen Waffen schlagen ... (SB)


Quo vadis Griechenland?

Vortrag des kroatischen Philosophen Srecko Horvat zu Varoufakis' Mittelfinger

Themenspecial "This is not Greece" beim Internationalen Sommerfestival auf Kampnagel in Hamburg am 7. und 8. August 2015



S. Horvat in Großaufnahme - Foto: © 2015 by Schattenblick

Srecko Horvat
Foto: © 2015 by Schattenblick

Am 20. September wurde mit der vorgezogenen Parlamentswahl der nächste Akt der Unterwerfung Griechenlands unter das politische wie wirtschaftliche Diktat der sogenannten Geldgeber vollzogen. Diesen Vorgang als "Fake" zu bezeichnen, ließe sich damit begründen, daß die neue griechische Regierung völlig unabhängig davon, wer aus diesem Urnengang als Sieger hervorging, in keiner Weise einen Handlungsspielraum hat, der ihr etwas anderes erlauben würde als die Vollstreckung des am 13. Juli auch von griechischer Seite angenommenen dritten Memorandums. Damit wurde in der Europäischen Union, die ihre moralischen wie hegemonialen Ansprüche darauf stützt, die Hüterin der aus ihrer Kulturgeschichte hervorgegangenen modernen Demokratie zu sein, ein erster Mitgliedstaat in ein De-facto-Protektorat verwandelt. Griechenland stellt ein mahnendes Beispiel auch für alle übrigen Regierungen und EU-Staaten dar, die ebenfalls abgestraft und ihrer Souveränität beraubt werden könnten, wenn sie in ähnlicher Krisenlage den Anforderungen aus Brüssel und Berlin nicht Folge zu leisten bereit sein sollten.

Tarnung und Täuschung spielen bei einem solchen, bislang in der westlichen Welt beispiellosen Vorgang eine große Rolle, gilt es doch, Proteste, die sich womöglich bis zu Aufständen ganzer Bevölkerungen auswachsen könnten, vorab einzubinden und zu kanalisieren, um einen weitgehend reibungslosen Abbau sozialer wie demokratischer Errungenschaften zu gewährleisten. Im Falle Griechenlands stellt die Entwicklung seit dem Wahlsieg Syrizas vom Januar aus Sicht der Troika bzw. der Institutionen offenbar eine nicht hinnehmbare Destabilisierung oder Infragestellung ihrer Dominanz dar. Eine ergebnisoffene Diskussion auf gleicher Augenhöhe, wie mit den drängenden Gegenwarts- und Zukunftsfragen zu verfahren sei im Angesicht der Krise, gehörte offensichtlich nicht zu den Optionen einer Brüsseler Administration, die um jeden Preis verhindern wollte, daß der von der Regierung Tsipras angekündigte alternative Kurs zur Austeritätspolitik Erfolge zeitigen und damit ihre eigene als alternativlos dargestellte Sparpolitik ad absurdum führen könnte.

Bei den Bestrebungen, den einmal eingeschlagenen Kurs beizubehalten, unerwünschte Solidarisierungseffekte anderer krisenbetroffener Staaten zu vermeiden und sicherzustellen, daß sich die Bevölkerungen innerhalb der EU auch weiterhin gegeneinander ausspielen lassen, haben sich viele Medien als verläßliche Partner erwiesen. Nach dem Wahlerfolg Syrizas machten diffamierende Darstellungen über die Griechen im allgemeinen und die neue Regierung im besonderen mehr noch als zuvor auch in bundesdeutschen Medien die Runde. Fast schien es so, als sei ein Wettstreit ausgebrochen, welche Medienschaffenden die originellsten und wirkmächtigsten Ideen zu produzieren imstande seien, wenn es gilt, die Notlage der griechische Bevölkerung als selbstverursacht darzustellen und Syriza zu diskreditieren.


Kreativ und originell, wenn es gegen Griechenland geht?

Am 7. und 8. August fand während des Internationalen Sommerfestivals der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel ein Themenspecial der besonderen Art statt. Unter dem Titel "This is not Greece" ging es an diesen beiden Tagen laut programmatischer Ankündigung nicht um das Für und Wider der Austeritätspolitik, sondern darum, einen analytischen Blick auf die Diskurse selbst zu werfen und diese um griechische Perspektiven aus Kunst, Philosophie und Film zu ergänzen. Über die von den wichtigen deutschen Medien nahezu ausnahmslos vollzogene Desinformations- und Diffamierungskampagne zu Lasten Griechenlands bzw. der Griechinnen und Griechen ließ sich in der Auftaktveranstaltung schnell ein Konsens herstellen. Als rühmliche Ausnahmen waren Journalisten wie Harald Schumann, Robert Misik und Georg Diez zugegen, die aus erster Hand schilderten, wie es in der Griechenlandkrisenberichterstattung in den Redaktionen namhafter Medien zugeht, die auf die von Merkel und Schäuble vorgegebene Linie eingeschwenkt waren, die Austeritätspolitik auf Gedeih und Verderb fortzusetzen. [1]

Als einem besonders plakativen Beispiel medialer Diffamierung, um nicht zu sagen Hetze, wurde dem - wenn auch inzwischen bereits wieder in Vergessenheit geratenen - Mittelfingerskandal um den ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis eine eigene Veranstaltung gewidmet. Mit dem Philosophen und Buchautor Srecko Horvat, Direktor des "Subversiven Festivals", das zwischen 2008 und 2013 alljährlich in der kroatischen Hauptstadt Zagreb stattfand, konnte ein kompetenter Referent zu diesem Thema gewonnen werden.

Horvat gilt als eine der zentralen Persönlichkeiten der neuen undogmatischen Linken Kroatiens und hat internationale Bekanntheit erlangt durch das von ihm mitbegründete Festival, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, kritischen Stimmen ein Forum zu bieten und auf den demokratischen Diskurs Europas Einfluß zu nehmen. Im Mai 2013 hatten am letzten Event dieser Reihe neben Varoufakis auch der Syriza- Vorsitzende und inzwischen wiedergewählte griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras ebenso teilgenommen wie Slavoy Zizek, Oliver Stone und rund 300 linke Aktivisten, Intellektuelle, Gewerkschafter und Vertreter sozialer Bewegungen, und hier soll Varoufakis auch - lange vor seiner Zeit als Finanzminister - die skandalauslösende Geste gemacht haben.

Als er die Einladung zu dieser Veranstaltung erhalten hatte, war Varoufakis noch Finanzminister gewesen, weshalb die ursprüngliche Idee gewesen sei, die Zusammenhänge und Hintergründe des Mittelfingerskandals zu beleuchten, so Horvat. Inzwischen hätte sich die Situation in Griechenland jedoch sehr verändert. Wie viele andere Linke auch sei er den Juli über in Griechenland gewesen. Nun fände er es wirklich schwierig, zu Griechenland etwas zu sagen, was nach seinem Empfinden auch für all die Leute gelte, die gerade dort gewesen sind, und zwar umso mehr, je länger ihr Aufenthalt währte. Um den sogenannten Mittelfingerskandal zu erhellen, wäre zunächst zu klären, wie es überhaupt dazu gekommen war, daß Varoufakis und Tsipras am Zagreber Festival teilgenommen hatten.


Varoufakis auf dem Subversiven Festival von 2013

Wie Srecko Horvat 2013 in einem Interview erklärt hatte, war das Subversive Festival auch gegründet worden, um in Kroatien über Jugoslawien und die Periode des Sozialismus kritisch und produktiv zu diskutieren. [2] Die Festivalorganisatoren hatten sich dem am 1. Juli 2013 vollzogenen EU-Beitritt der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik entgegengestellt. Wie ein großer Teil der kroatischen Bevölkerung hatten auch sie die EU als Teil des Problems und nicht der Lösung angesehen, woraus sich der inhaltliche Bogen zu Wissenschaftlern wie Yanis Varoufakis, die an alternativen Lösungskonzepten zu den Vorgaben aus Brüssel arbeiteten, fast schon von allein ergeben hatte.

Varoufakis hatte auf dem Festival in einer von 30 bis 40 Interessierten besuchten Veranstaltung sein 2012 auch auf deutsch erschienenes Buch "Der globale Minotaurus" [3] vorgestellt. In einem FAZ-Interview hatte Srecko Horvat zu der Frage, ob Varoufakis währenddessen den Deutschen nun den Stinkefinger gezeigt habe oder nicht, im März dieses Jahres folgendermaßen Stellung genommen: [4]

Nein, das muss ein für alle Mal gesagt werden: Varoufakis reckte nicht "den Mittelfinger gegen die Deutschen". Bei dieser Präsentation in Zagreb sprach Varoufakis über eine Zeit, über den Mai 2010, als Griechenland den deutschen Steuerzahlern noch keinen einzigen Euro schuldete. Sein Argument lautete, Griechenland hätte damals gegenüber den privaten Gläubigern in Konkurs gehen sollen, statt sich von den europäischen Partnern einen riesigen Kredit geben zu lassen. Der Finger wurde also aus dem Zusammenhang gerissen und absichtlich so interpretiert, als hätte sich der griechische Finanzminister gegen die Rückzahlung der Schulden an Deutschland ausgesprochen und Deutschland den Finger gezeigt.

Wie Varoufakis im Vorwort seines im Januar 2015 auf deutsch erschienenen Buchs mit dem programmatischen Titel "Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Euro-Krise" [5] geschrieben hatte, zielte dieser darauf ab, den Euro zu retten, weil dessen Scheitern seiner Ansicht nach für ganz Europa verheerend sein würde. Angesichts des unsinnigen Beharrens der EU-Institutionen auf dem eingeschlagenen und angeblich alternativlosen Weg der Krisenbewältigung habe er Anfang 2010, weil er diesen "toxischen Fatalismus" nicht hinnehmen wollte, mit der Ausarbeitung seines Vorschlags begonnen. Die Ideen, die er als Finanzminister der Regierung Tsipras in die Verhandlungen mit den EU-Oberen einbrachte bzw. hätte einbringen wollen, wenn es denn zu echten Gesprächen gekommen wäre, wären im Rahmen der geltenden EU-Verträge zu realisieren gewesen.


Yanis Varoufakis im Porträt - Foto: by Jörg Rüger (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons

Der damalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis am 5. Februar 2015 in Berlin
Foto: by Jörg Rüger (Own work) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via Wikimedia Commons


Ein skandalisierter Mittelfinger

Der Mittelfingerskandal wurde demnach in den ersten Wochen und Monaten der Syriza-Regierung um einen Politiker entfacht, der auf der Basis seiner wirtschaftswissenschaftlichen Expertise für eine Politikalternative in der EU einstand und damit die Position derjenigen stärkte, die die Union von innen heraus prinzipiell für reformierbar und deshalb auch erhaltenswert erachteten. Daß die Europäische Union durch linke und emanzipatorische Kräfte neu bestimmt und gestaltet werden könne und müsse, stellte - und stellt offenbar noch immer - die innerhalb Syrizas mehrheitlich vertretene Position dar.

In seinem Vortrag hatte Srecko Horvat anfangs zwar erklärt, die Diskussionen innerhalb Syrizas ebenso außer acht zu lassen wie die Fragen nach einem Austritt Griechenlands aus der Eurozone oder der EU. Gegen Ende seiner Ausführungen revidierte er jedoch diese Einschätzung und nahm Stellung zu diesen wichtigen Themen. Zu Syriza hätte es von Anfang an unterschiedliche Einschätzungen gegeben, so Horvat. Während einige sagten, daß das seit fünf Jahren bestehende Bündnis zu keinem Zeitpunkt eine echte Chance gehabt hätte, vertraten andere die Auffassung, daß gerade Syriza auf einen Wandel innerhalb der EU hätte hinwirken und daß die europäischen Institutionen zu einer für beide Seiten akzeptablen Lösung hätten gezwungen werden können. Diese Kontroverse spiegele Widersprüche und Kontroversen, die es auch innerhalb der europäischen Linken gäbe.

Innerhalb Syrizas sei lange Zeit der Glaube vorherrschend gewesen, eine andere Politiklinie auch gegenüber der EU durchsetzen zu können. Nach den Ereignissen im Juli sei jedoch die EU-kritische Position, repräsentiert durch die Linke Plattform und Politiker wie Costas Lapavitsas, der den Austritt Griechenlands aus dem Euro-Raum befürwortet, stärker geworden. Horvat stellte den Standpunkt von Stathis Kouvelakis vor, einem Mitglied der Linken Plattform, aus der sich am 21. August mit 25 ehemaligen Syriza-Abgeordneten eine neue Partei mit dem Namen "Volkseinheit" (LAE, Laiki Enotita) konstituierte. Sie verfehlte bei den Parlamentswahlen vom 20. September mit 2,9 Prozent die griechische Drei-Prozent-Hürde und damit den Einzug ins Parlament nur knapp. Kouvelakis zufolge bestehe eines der größten ideologischen Probleme Syrizas darin, an der Strategie festzuhalten, daß Europa von innen heraus verändert werden könne und es deshalb unverzichtbar sei, in der EU zu bleiben. [6]

Horvat stimme seiner Einschätzung zu, daß Syriza mit der Annahme des dritten Memorandums den Bruch mit ihrem Thessaloniki-Programm, demzufolge es keine weiteren Privatisierungen öffentlicher Einrichtungen sowie Reformen des Arbeitsmarktes und des Finanzsystems geben sollte, vollzogen hat. Der Referent vertrat jedoch nicht die von Kouvelakis gezogene Schlußfolgerung, daß die einzige Lösung für Syriza nun in einer anti-europäischen Strategie bestünde, die nicht nur auf den Austritt aus der Euro-Zone, sondern aus der EU abziele. In diesem Punkt teile er (Horvat) die Auffassung von Costas Lapavistas, dem ehemaligen griechischen Minister für wirtschaftlichen Wiederaufbau und Umwelt, der von der Regierung Tsipras den Ausstieg aus der Eurozone gefordert hatte und inzwischen in die neue Volkseinheit überwechselte.


Staatsstreich in Versuch und Vollendung

Zur Mittelfingergeschichte erklärte Srecko Horvat, daß sie noch immer wichtig sei, weil die Linke von ihr etwas lernen könne. Doch der Reihe nach. Zunächst sprach der Referent zwei Punkte an, die ihm besonders wichtig waren. Seine erste These lautete, daß es im Januar und Februar in den Medien einen versuchten Staatsstreich gegen Griechenland gegeben und daß im Juli, so sein zweiter Punkt, ein wirklicher Staatsstreich stattgefunden habe. Der Referent erinnerte an einen Ausspruch des Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk, der wenige Tage nach der Vereinbarung über das dritte Kreditpaket vor einer möglichen revolutionären Entwicklung gewarnt habe. Horvat schlug vor, ihm genau zuzuhören, weil er die Linke ernster nähme als sie sich selbst. Wörtlich hatte Tusk erklärt: [7]

Wovor ich wirkliche Angst habe ist diese ideologische oder politische Ansteckung, nicht die finanzielle Ansteckung, durch die griechische Krise. Mir erscheint die Atmosphäre schon ähnlich wie in den Jahren nach 1968 in Europa. Ich spüre eine, vielleicht nicht revolutionäre Stimmung, aber doch so etwas wie eine verbreitete Ungeduld. Wenn Ungeduld nicht zu einer individuellen, sondern zu einer sozialen Emotion wird, dann ist das meist der erste Schritt zu Revolutionen.

Nach dem Wahlsieg Syrizas hatten Tsipras und Varoufakis eine Rundreise durch die Hauptstädte der EU-Staaten begonnen, um für ihren neuen Politikkurs zu werben. Das erhoffte Bündnis mit der europäischen Sozialdemokratie kam jedoch nicht zustande. Was statt dessen begann, war eine mediale Diffamierung und Dämonisierung der Syriza-Politiker zum Zwecke eines, wie Horvat es nannte, medialen Staatsstreichs, der zwar nicht zum Sturz der neuen Athener Regierung führte, jedoch den Boden mitbereitete für das, was dann im Juli vollendet werden konnte.


S. Horvat vor der eingeblendeten Youtube-Startseite des Videos 'Yanis Varoufakis - No GRexit but default within the Eurozone' - Foto: © 2015 by Schattenblick

Staatsstreich im EU- und NATO-Mitgliedsland Griechenland
Foto: © 2015 by Schattenblick

In diesem Zusammenhang könnte auch der Mittelfingergeschichte ein gewisser Stellenwert zugebilligt werden. Ein von Jan Böhmermann unter dem Titel "V for Varoufakis" produziertes und am 25. Februar veröffentlichtes satirisches Video [8] hatte den Stein ins Rollen gebracht. Zu 99 Prozent habe man sich darin über Varoufakis lustig gemacht, so Horvat. Die Schlußszene hätte jedoch eine Video-Einspielung vom Festival in Zagreb enthalten, wie Varoufakis den Deutschen den Mittelfinger zeigte - was dann der unmittelbare Auslöser des Skandals wurde. Zwei Wochen später wurde Varoufakis, zugeschaltet zur Talkshow von Günther Jauch, von diesem danach befragt, woraufhin er erklärte, die Aufnahme mit dem gestreckten Mittelfinger sei manipuliert worden.

Wie Horvat berichtete, habe niemand aus dem Festivalteam diese Einspielung vorher gekannt, sie sei erst im Januar 2015 von Böhmermann heruntergeladen worden, der ein "wahres Genie" sei, weil er diesen Mitschnitt gefunden habe. Nicht von ungefähr begann der Hype in Medien und sozialen Netzwerken genau in der Zeit, in der Varoufakis und Tsipras in ganz Europa Verbündete für ihren Anti-Austeritätskurs zu gewinnen suchten. Nach diplomatischen Geflogenheiten ist ein Finanzminister, der anderen den Stinkefinger zeigt, nicht vertrauenswürdig, fuhr Horvat fort, und Schäuble habe nach dem Skandal mehrfach gesagt, daß man Varoufakis nicht trauen könne. All dies habe auch dem Zweck gedient, Spannungen zwischen der griechischen und der deutschen Bevölkerung zu erzeugen bzw. zu verschärfen.


Hilft die These vom Semio-Kapitalismus wirklich weiter?

Aus Sicht des kroatischen Philosophen belegen der Mittelfingerskandal wie auch die vielen anderen medialen Bezugnahmen auf Krawatten, Lederjacken und Motorräder im Zusammenhang mit Tsipras und Varoufakis die These, daß wir in einer Gesellschaft leben, die von Zeichen bestimmt werde, was Horvat in einem Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung im März folgendermaßen erläutert hat [9]:

Wir sehen uns hier mit einer neuen Form des Kapitalismus konfrontiert, die am besten als "Semio-Kapitalismus" beschrieben werden könnte. Das ist ein Kapitalismus, der durch die Akkumulation und Interpretation von Zeichen funktioniert. Nehmen wir das folgende Beispiel: Sobald Syriza in Griechenland an die Macht kam, konzentrierten sich die meisten Kommentare, auch die der seriösen Medien, darauf, dass Tsipras keine Krawatte umgebunden hat und Varoufakis eine Lederjacke trägt. Das war ein klares Zeichen, dass die gegenwärtige griechische Regierung zumindest ungewöhnlich sei.

Die These vom Semiokapitalismus mag an dieser Stelle überstrapaziert erscheinen, zumal schwer plausibel zu machen ist, inwiefern Zeichen und Symbole je etwas anderes sein könnten als Zeichen und Symbole, die immer erst durch den Akt der Deutung zu dem werden können, was sie dann sind. Was aber könnte die Solidaritätsbewegung nach Ansicht des Referenten aus dem Mittelfingerskandal lernen? Wenn wir in einer Ära des Semiokapitalismus leben, wovon Horvat ausgeht, würde dies bedeuten, daß es statt einer Akkumulation von Waren eine Akkumulation von Zeichen gäbe. Und da es für sie keine Äquivalente in der realen Welt gäbe, könnten sie auch gegen das System genutzt werden, so die Argumentation des Referenten.

Böhmermann habe dies mit seinem nächsten Video auch getan. [10] In ihm wird die bereits bekannte Einspielung vom Zagreb-Festival gezeigt, aber in einer Version, in der Varoufakis den Finger nicht hochhält. Und Böhmermann schilderte, wie dieses Fake entstanden sei, als sie Anfang Februar an dem Varoufakis-Song gearbeitet, dafür Originalmaterial von Varoufakis gesucht und schließlich das Video vom Subversiven Festival gefunden hätten. Alessandro Del Prete, der dieses gedreht haben will, behauptete hingegen, es sei "absolut kein Fake". [11] Das ZDF wiederum erklärte, daß es sich bei dem zweiten Böhmermann-Video um Satire gehandelt hätte [12], wohingegen dieser dessen Echtheit beansprucht. [13]

Für die von Horvat und anderen an Günther Jauch gerichtete Kritik, er habe den Mittelfinger aus dem Zusammenhang gerissen und nicht darüber aufgeklärt, daß die Aufnahme zwei Jahre alt ist und nicht aus der Zeit stammt, in der Varoufakis Finanzminister war, ist die Frage, ob es sich um ein Fake gehandelt hat, eher nebensächlich. Wären die akuten Probleme in Griechenland nicht so ernst und die Rückschlüsse, die von den Protestbewegungen und Oppositionsparteien in allen europäischen Ländern über die behauptete und tatsächliche Beschaffenheit der EU zu ziehen wären, nicht so dringend, könnte dem Fake-Finger-Fake-Unsinn noch ein gewisser Unterhaltungswert abgerungen werden. Während Horvats Vortrag jedenfalls sorgten die Einspielungen der jeweiligen Videos für langanhaltende Heiterkeitsausbrüche. Liefe die linke Solidaritätsbewegung nicht Gefahr, wenn sie sich ein Beispiel nähme an Medientechniken der Desinformation, Diffamierung oder auch Suggestion, um die Zeichen zu ihren Gunsten und Zwecken einzusetzen und damit zu kämpfen, den eigenen Anspruch, der aktuellen Entwicklung und den sie vorantreibenden Kräften kompromißlos entgegenzutreten, preiszugeben?


Blick auf das Parlamentsgebäude inmitten Athens - Foto: by Gerard McGovern [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons

Das heutige griechische Parlament am Syntagma-Platz - von der Wiege zur Grabstätte der europäischen Demokratie?
Foto: by Gerard McGovern [CC BY 2.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0)], via Wikimedia Commons


Staatsstreich in Griechenland wie 1973 in Chile

Der im Juli, als die ganze Bevölkerung wegen des Referendums mobilisiert war, in Griechenland durchgeführte Staatsstreich habe, wie Horvat ausführte, auch auf europäischer Ebene stattgefunden. Repräsentanten der EU hätten die griechische Bevölkerung massiv gedrängt, bei dem Referendum nicht mit einem Nein zu stimmen und hätten ihren Einfluß sogar auf die Formulierung der Referendumsfrage ausgedehnt. So sei zu keinem Zeitpunkt davon die Rede gewesen, die Bevölkerung danach zu fragen, ob Griechenland die Euro-Zone verlassen sollte oder nicht, sondern immer nur danach, ob die Fortsetzung der Austeritätspolitik befürwortet werde oder nicht.

So war die Situation vor dem Referendum und dem dann folgenden ökonomischen Staatsstreich, der eine große Ähnlichkeit, so Horvat, zu den Ereignissen in Chile vor dem Putsch gegen den sozialistischen Präsidenten Allende von 1973 aufgewiesen habe. Der damalige US-Präsident Richard Nixon hatte, als absehbar wurde, daß Allende die Wahlen gewinnen würde, bei einem Treffen mit Außenminister Kissinger und dem CIA-Direktor erklärt, daß sie zwei Möglichkeiten hätten - entweder einen harten, militärischen Staatsstreich oder einen weichen, den Nixon mit den Worten umschrieben hatte: Laßt die Wirtschaft aufschreien! Der Rest der Geschichte Chiles sei ja bekannt.

In Griechenland wurde die Regierung zusätzlich zu dem Druck, der gegen Syriza seit ihrem Wahlerfolg im Januar ohnehin aufgebaut worden war, von der Europäischen Zentralbank gezwungen, die Banken für über zwei Wochen zu schließen. Das sei der erste Schritt des Staatsstreiches gewesen. Stellen Sie sich doch nur einmal vor, so forderte der Referent die Zuhörenden auf, was hier in Deutschland los gewesen wäre, wenn die Banken zwei Wochen lang geschlossen hätten? Eine Massenhysterie, die Menschen würden Schlange stehen, um irgendwo noch Geld zu bekommen, und so weiter. Varoufakis habe diese Maßnahme als Terrorismus bezeichnet, der definitionsgemäß darauf abziele, Angst und Schrecken zu verbreiten, und genau das habe die EZB mit dieser Maßnahme bezweckt, um die Wählerinnen und Wähler in Griechenland davon abzuhalten, bei dem Referendum mit Nein zu stimmen.

Ein weiterer Schritt des Staatsstreiches habe anschließend darin bestanden, daß die Parlamentsabgeordneten, obwohl die Bevölkerung mit klarer Mehrheit eine Fortsetzung des Austeritätskurses abgelehnt hatte, genötigt wurden, die neuen Vereinbarungen zu unterzeichnen innerhalb von 24 Stunden, was niemals ausgereicht hätte, um die eintausend Seiten umfassenden Papiere auch nur durchzulesen. Die Errichtung eines Privatisierungsfonds, um die bislang in Staatsbesitz verbliebenen Einrichtungen auch noch zu entäußern, gehörte natürlich auch dazu. Nach seinem Rücktritt als Finanzminister hatte Varoufakis die Erklärung des Eurogipfels vom 12. Juli als "Kapitulationsurkunde Griechenlands" bezeichnet und Punkt für Punkt kommentiert. [14]


Raus aus Euro-Zone und EU?

Die bei der "This is not Greece"-Veranstaltung angestoßene Diskussion um einen möglichen Austritt Griechenlands aus der Euro-Zone, wie beispielsweise von Costas Lapavitsas vorgeschlagen, oder aus der EU, wie Stathis Kouvelakis es befürwortet, geht an dem politischen Spielraum der inzwischen wiedergewählten Syriza-geführten Koalitionsregierung völlig vorbei. Am Ende seines Vortrags sprach Srecko Horvat davon, daß beide Austrittsoptionen auf denselben Grundvoraussetzungen beruhen würden, womit er einen für die Protestbewegungen wichtigen Punkt aufgriff, der auf die Frage abzielt, ob eine Rückkehr zum Status Quo der Vorkrisenzeit unter Aufrechterhaltung kapitalistischer Verwertungsstrukturen überhaupt eine gangbare und sinnvolle Option sein könne.

Horvart verwahrte sich dagegen, nach dem Referendum mit Blick auf Syriza von einem großen Verrat und einer Kapitulation zu sprechen, was moralische Kategorien seien. In Übereinstimmung mit Costas Lapavitsas sei er der Auffassung, daß man nicht gewinnen könne, wenn man moralisch argumentiere. Aktuell könne man an der Linken sehen, daß sie - und hier benutzte der Referent einen Begriff Walter Benjamins - an Melancholie erkrankt sei. Selbst diejenigen, die an Syriza glaubten, hielten an der Idee von Verrat und Kapitulation fest, anstatt zu verstehen, wie Marx es gesagt habe, daß die Revolution ihre Poesie aus der Zukunft und nicht aus der Vergangenheit nehme. Horvat bezog sich auf folgende Stelle aus dem Vorwort des achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte: [15]

Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft. Sie kann nicht mit sich selbst beginnen, bevor sie allen Aberglauben an die Vergangenheit abgestreift hat. Die früheren Revolutionen bedurften der weltgeschichtlichen Rückerinnerungen, um über ihren eigenen Inhalt zu betäuben. Die Revolution des neunzehnten Jahrhunderts muß die Toten ihre Toten begraben lassen, um bei ihrem eignen Inhalt anzukommen.

Wer wollte dem widersprechen, daß die Verwirklichung der Utopie eines herrschaftsfreien Lebens den Bruch mit Vergangenheit und Gegenwart voraussetzt, um zu verhindern, daß eine Revolution von ihren Gegnern eingeholt und zu einer Qualifizierung der Verfügungsgewalt des Menschen über den Menschen und seine Umwelt genutzt wird?


Srecko Horvat während seines Vortrags - Foto: © 2015 by Schattenblick

Von Marx lernen? Die Revolution kann ihre Poesie nur aus der Zukunft schöpfen.
Foto: © 2015 by Schattenblick


Griechenland nach der Wahl

Zu Syriza meinte Horvat, es sei Fakt, daß sie ihre Europastrategie nicht zum Erfolg bringen konnte. Er glaube jedoch nicht, daß dies schon das Ende von Syriza sei. Diese Einschätzung hat sich nach ihrem abermaligen Wahlerfolg bei den durch den Rücktritt von Tsipras erzwungenen Neuwahlen vom 20. September bewahrheitet. Fakt ist aber auch, daß Syriza nun ein härteres Spar- und Privatisierungsprogramm realisieren wird als alle anderen Regierungen vor ihr. In der Diskussion hatte der Referent abschließend noch darauf hingewiesen, daß es in Griechenland längst breite Graswurzel- und Protestbewegungen gäbe und die Bevölkerungsmehrheit, die beim Referendum mit OXI (Nein) gestimmt habe, die eigentliche Avantgarde sei, auf die auch Syriza sich zurückzubesinnen hätte.

Nach den jüngsten Ereignissen sieht es allerdings nicht danach aus, daß die Befürworter der Pro-EU-Parteilinie, die innerhalb Syrizas nach der Abspaltung der Linken Plattform dominierender denn je sein dürfte, Ratschläge dieser Art befolgen würden. Der Wirtschaftswissenschaftler Heinz-Josef Bontrup nahm nach der Wiederwahl Syrizas zu der Erklärung des alten und neuen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras "wir heben die Sonne der Hoffnung über Griechenland" in ernüchternder Weise Stellung: Die Aussichten seien stockduster, die Kürzungspolitik werde weitergehen, vom sogenannten Rettungspaket werden allein Banken, Gläubiger und Vermögende profitieren, während sich das Elend des einfachen Volkes noch verschlimmern werde. [16] In Griechenland, aber auch der gesamten EU stehen, wenn man denn so wollte, die Zeichen auf Sturm, einem Sturm allerdings, dem mit einer "Sonne der Hoffnung" nicht zu begegnen sein dürfte.


Fußnoten:


[1] http://schattenblick.de/infopool/bildkult/report/bkrb0037.html

[2] http://www.neues-deutschland.de/artikel/822072.die-eu-ist-fuer-kroatien-eher-teil-des-problems-als-der-loesung.html

[3] Yanis Varoufakis: "Der globale Minotaurus. Amerika und die Zukunft der Weltwirtschaft", Verlag Antje Kunstmann, 2012

[4] http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/eurokrise/griechenland/festival-organisator-horvat-der-finger-wurde-aus-dem-zusammenhang-gerissen-13487196.html

[5] Yanis Varoufakis, Stuart Holland, James K. Galbraith: Bescheidener Vorschlag zur Lösung der Eurokrise. Verlag Antje Kunstmann, München. Erschienen Januar 2015

[6] http://www.jacobinmag.com

[7] http://misik.at/2015/07/die-verunsicherte-revolution/

[8] V for Varoufakis, von Jan Böhmermann, NEO MAGAZIN ROYALE, ZDFneo, veröffentlicht am 25.02.2015 (YOU TUBE)

[9] http://www.sueddeutsche.de/kultur/debatte-um-varoufakis-es-herrscht-krise-und-europa-redet-ueber-mittelfinger-1.2401051

[10] Varoufakis and the fake finger, von Jan Böhmermann, NEO MAGAZIN ROYALE, ZDFneo, veröffentlicht am 18.03.2015 (YOU TUBE)

[11] http://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.video-bei-jauch-echt-varoufakis-stinkefinger-kameramann-sagt-kein-fake.071bf1f6-2ad2-4fa3-b90b-311634a6123a.html

[12] http://www.spiegel.de/kultur/tv/jan-boehmermann-zdf-sagt-varoufake-ist-satire-a-1024396.html

[13] http://www.spiegel.de/kultur/tv/stinkefinger-von-giannis-varoufakis-jan-boehmermann-zu-varoufake-a-1024386.html

[14] http://www.neues-deutschland.de/artikel/978365.ein-karthagischer-frieden.html

[15] https://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1852/brumaire/kapitel1.htm

[16] https://www.jungewelt.de/2015/09-22/045.php


Beiträge zum Themenspecial "This is not Greece" im Schattenblick
www.schattenblick.de → INFOPOOL → BILDUNG UND KULTUR → REPORT:

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25. September 2015


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