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BERICHT/045: Maßgeblich - Wechsel und Wandel ... (SB)


"Maß und Messen" im Salon Sophie Charlotte

Die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften hat am 19. Januar 2019 ihre Türen geöffnet


In der Welt der Metrologen herrscht seit November letzten Jahres gespannte Erwartung. 143 Jahre nach Beginn der Ära der modernen Metrologie hat sich die 26. Generalkonferenz für Maße und Gewichte darauf geeinigt, daß die sieben physikalischen Basiseinheiten auf neue Füße gestellt werden sollen. Das Urkilogramm als letztes Artefakt der sieben Größen hat ausgedient und wird vermutlich irgendwann ins Museum geschickt. So wie die Masse fortan durch eine Kombination von Naturkonstanten beschrieben wird, sollen auch die sechs weiteren Basiseinheiten Meter, Sekunde, Ampere, Kelvin, Mol und Candela durch physikalische Formeln von Naturkonstanten abgeleitet werden. Stichtag für den Beginn des neuen metrologischen Zeitalters ist der 20. Mai 2019, der Welttag der Metrologie.

Im Alltag ändert sich mit der Revision der Definition der sieben sogenannten SI-Basiseinheiten (Das Akronym SI steht für französisch "Système international d´unités") nichts, der Meter bleibt ein Meter, das Kilogramm ein Kilogramm, und so weiter. In der Wissenschaft dagegen spricht man von einer "kleinen Revolution" oder auch der "Verwirklichung einer Vision". Dieser hoch geschätzten Bedeutung geschuldet, hatte die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften (BBAW) ihren diesjährigen Salon Sophie Charlotte dem Thema "Maß und Messen" gewidmet. Einen weiteren Anlaß bot der diesjährige 250. Geburtstag des Akademiemitglieds Alexander von Humboldt, des Vermessers der Welt, der auf seiner Südamerikareise bis zu 50 Meßgeräte mitgeführt und eingesetzt hatte.

Der Salon Sophie Charlotte ist die publikumswirksamste Veranstaltung der Akademie, erklärte ihr Präsident Martin Grötschel in seiner Begrüßungsansprache und ergänzte, eigentlich handele es sich nicht um einen Salon, sondern um viele kleinere Salons. An 20 verschiedenen Spielorten im Akademiegebäude am Berliner Gendarmenmarkt und dem angrenzenden WissenschaftsForum fanden am 19. Januar zwischen 18 und 24 Uhr in rund 20 parallelen Zeitfenstern Vorträge, Gespräche, Lesungen, wissenschaftliche Experimente und vieles mehr nicht nur aus der Physik und anderen Naturwissenschaften, sondern unter anderem auch den Geistes- und Sozialwissenschaften, der Medizin und Schönen Künste statt.


Eine Sängerin und drei Sänger auf der Bühne, umsäunt vom Publikum - Foto: © 2019 by Schattenblick

Isorhythmische Motetten des 14. und 15. Jahrhunderts
Foto: © 2019 by Schattenblick

Von alters her waren Salons ein Treffpunkt des gepflegten Wortaustauschs der gehobenen Gesellschaft. Obgleich "Maß und Messen" als öffentliche Veranstaltung ausgewiesen war und trotz des kostenlosen Eintritts und der zahlreichen Gäste hatte die Akademie ein wenig diesen Saloncharakter bewahrt. So erzeugte zur Einstimmung ein Gesangsvortrag zu "isorhythmischen Motetten des 14. und 15. Jahrhunderts" von vier Mitgliedern des RIAS Kammerchors für 15 Minuten eine geradezu höfische Atmosphäre. Außerdem war rund ein Viertel der ca. 280 Sitzplätze in dem von großzügigen Arkaden gesäumten Leibniz-Saal, dem größten unter den Veranstaltungsräumen der Akademie und Treffpunkt der Auftaktveranstaltung, für Honoratioren reserviert. Man kannte sich. Von nah und fern waren Mitglieder der Akademie, der Diplomatie, der Politik und anderer gesellschaftlicher Bereiche angereist, darunter auch die promovierte Physikerin Angela Merkel, von Beruf Bundeskanzlerin, und Gattin des Akademiemitglieds und Chemikers Joachim Sauer.

"Die ganze Masse der Welt oder des Universums ändert sich, wenn sich diese Masse verändert," sagte Joachim Ulrich, Präsident der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt und Akademiemitglied, in seinem Einführungsvortrag mit Blick auf die Neudefinition der SI-Basiseinheit Masse. Das mag hochtrabend klingen, aber da niemand anderes als die Wissenschaft die Masse des Universums bestimmt, trifft die Aussage zu: Wechselt die Wissenschaft die Bezugsgröße der Masse, ändert sich die Masse von allem.

Für den ersten Vortrag, "Vom Nobelpreis zu einem neuen Kilogramm", konnte der Physiknobelpreisträger Klaus von Klitzing gewonnen werden. Er war 1985 für die "Entdeckung des quantisierten Hall-Effekts" mit dieser höchsten physikalischen Auszeichnung bedacht worden. Worum es sich bei diesem Effekt handelt, was die Entdeckung mit der Revision der SI-Basiseinheiten zu tun hat und warum niemand der Anwesenden befürchten muß, daß aufgrund der Neudefinition der Basiseinheiten seine Goldbarren über Nacht an Masse verlieren, drehte sich von Klitzings Vortrag, dabei durchaus erfolgreich den bei Wissenschaftlern leider allzu beliebten Absacker vermeidend, durch fachsprachlichen Tiefgang das Publikum letzten Endes wie entgeisterte außerirdische Besucher erscheinen zu lassen, die nichts begreifen, aber zu allem stets höflich Beifall klatschen.

Jene Analogie zu Außerirdischen ist nicht zufällig gewählt, hatte doch der Physiker Max Planck, ebenfalls Nobelpreisträger und Mitglied des Akademiekuratoriums, im Jahr 1900 zur Suche nach "Constanten" aufgerufen, die "ihre Bedeutung für alle Zeiten und für alle, auch ausserirdische und aussermenschliche Culturen notwendig behalten". Diese Suche gilt nun als abgeschlossen. "Mit der jetzigen Revision hat sich diese Vision Max Plancks verwirklicht", konstatierte Akademiepräsident Grötschel.


Ausschnitt vom Publikum - Foto: © 2019 by Schattenblick

Der als Referent geladene Joachim Sauer (1. Reihe vorn) und Bundeskanzlerin Angela Merkel
Foto: © 2019 by Schattenblick

Klaus von Klitzing, der unter anderem einen neuen elektrischen Widerstand entdeckt hatte, der heute durch die Von-Klitzing-Konstante charakterisiert ist, ist seit 1975 am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung in Stuttgart tätig und sitzt seit 30 Jahren im Kuratorium der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig. Diese 1887 gegründete Einrichtung (damals hieß sie noch Physikalisch-Technischen Reichsanstalt) ist für das korrekte Messen in Deutschland zuständig.

Messen ist aufs engste mit der Zivilisationsgeschichte der Menschheit verbunden. Die moderne Ära setzte an der Schwelle zum 19. Jahrhundert ein. 1799, zehn Jahre nach der Französischen Revolution, wurde in Frankreich erstmals das Urmeter und das Urkilogramm vorgestellt. 1875 unterzeichneten 17 Staaten, darunter das Deutsche Reich, in Paris die Meterkonvention zur Vereinheitlichung der Maße. Selbst der französische Präsident hatte an der Sitzung teilgenommen, als so bedeutend wurde sie angesehen. Dort wurde metrologische Geschichte geschrieben. Danach setzten sich das Urmeter und das Urkilogramm international durch. 1960 wurde das internationale Einheitensystem SI geschaffen, ein metrisches Einheitensystem, das nun im Jahre 2019 neu definiert wird. Dann werden Naturkonstanten unabhängig von Artefakten wissenschaftlich bestimmbar sein. "Alles, was wir messen können, kann auf diese sieben Basiseinheiten zurückgeführt werden," sagte von Klitzing.

Jene "Revolution" in der Metrik war nicht zuletzt wegen eines Effekts erforderlich geworden, für den es bis heute keine abschließende Erklärung gibt: Das Urkilogramm verliert an Masse. Es verzeichnet gegenüber den von ihm abgeleiteten Referenznormalen innerhalb von 100 Jahren einen Masseverlust von rund 50 Mikrogramm. Und, um naheliegenden Spekulationen vorwegzugreifen, mit dem Putzen des zu 90 % aus Platin und 10 % Iridium bestehenden Urkilogramms hat der Masseverlust nichts zu tun.

Weltweit gibt es drei Staaten, die offiziell noch nicht das metrische SI-Einheitensystem übernommen haben: Myanmar, Liberia und - "ach ja", so von Klitzing - die USA. Wer wollte, konnte an dieser Stelle des Vortrags eine klammheimliche Freude bei dem Referenten vernehmen, als er berichtete, daß die NASA im Jahr 1999 ihre 125 Mio. Dollar teure Sonde Mars Climate Orbiter verloren hat, die aufgrund einer zu geringen Anflughöhe in der Atmosphäre unseres Nachbarplaneten zerstört wurde. Hauptursache des Scheiterns war das Verwenden zweier verschiedener Maßsysteme (SI-Einheitensystem und das angloamerikanische System).

Von Klitzing sieht sich in der Tradition des berühmten Physikers Planck, dem er in seinem Vortrag Dank dafür aussprach, daß er ihm noch eine Entdeckung übriggelassen hatte. Der durch von Klitzing entdeckte Quanten-Hall-Effekt besagt, daß sich der Widerstand in einem stromdurchflossenen elektrischen Leiter nicht linear verändert, sondern einen fundamentalen Wert annimmt, gequantelt ist. Mit der Revision des SI-Einheitensystem wird nun der Von-Klitzing-Konstante der feste Wert von 25812,8074593 Ohm zugewiesen. Bei der Revision müssen die SI-Basiseinheiten nun so justiert werden, daß diese und andere Konstanten eingehalten bleiben. Der 75jährige von Klitzing wurde letztes Jahr in den Ruhestand versetzt. Der lebhafte, von Anfang bis Ende anekdotengewürzte Vortrag zeigte, daß "Unruhestand" die treffendere Bezeichnung wäre.


Beim Vortrag - Foto: © 2019 by Schattenblick

Prof. Dr. Klaus von Klitzing
Foto: © 2019 by Schattenblick

"Für alle Zeiten und für alle Völker!"

Die Schöpfer des metrischen Systems erhoben 1875 bei der Verabschiedung der Meterkonvention den Anspruch: "Für alle Zeiten und für alle Völker!" Die historisch gewachsene Vereinheitlichung des Systems der physikalischen Grundgrößen präsentierte sich schon damals als eine Folge der Globalisierung. Zunehmende Warenströme zwischen Kontinenten und Kulturen im 18. und 19. Jahrhundert machten es aus Sicht der Handeltreibenden (und der hinter ihnen stehenden Steuereintreiber ...) immer dringender erforderlich, die Umrechnungsverfahren zu vereinfachen. Dabei galt es sicherlich nicht nur unnötige Aufwände, sondern vermutlich auch "Mißverständnisse" auszuräumen. Allzu leicht konnte ein Streit zwischen Händlern blutig enden, nur weil der "Fuß", die "Elle" oder auch das "Korn" des einen Händlers von "Fuß", "Elle" oder "Korn" des anderen abwichen und so dessen erhofften Vorteil schmälerten.

Finger, Spanne, Elle - im Altertum oblag es einem Herrscher, seine Körpermaße zum absoluten und einzigen Maßstab zu erklären. Zuwiderhandlungen waren untersagt. Jedoch waren von den Nachfahren des Herrschers einmal festgelegte Maße selten wieder umgestoßen worden. Die Existenz zahlreicher Maße ist vor allem Ergebnis feudaler Gesellschaftsstrukturen. Noch vor zweihundert Jahren wurden in Deutschland über hundert verschiedene Fußmaße zwischen 25 cm und 35 cm Länge verwendet. Insofern wundert es nicht, daß der Deutsche Kaiser Wilhelm I. den Zusammenhalt nach innen und die wirtschaftliche und militärische Schlagkraft nach außen seines aus zahlreichen, verstreut liegenden Fürstentümern, Teilstaaten, Bünden und Provinzen zusammengefügten Deutschen Reichs mit seinen abertausend verschiedenen Maßen durch die Vereinheitlichung der Maßsysteme festigen wollte und ein starker Befürworter der Meterkonvention war. Womit nicht behauptet werden soll, daß damals im absolutistischen Frankreich weniger vielfältig gemessen wurde.

"Maß und Messen" hat viel mehr mit Menschen zu tun, als sie dessen für gewöhnlich gewahr werden. In unserem Kulturkreis gehört es zu den ersten Erfahrungen eines Neugeborenen, in eine Welt geworfen worden zu sein, die nach den Regeln des Messens funktioniert. Gewicht und Körperlänge zählen zu den "Basisdaten", die erhoben werden, um das solcherart gemaßregelte Wesen anschließend ins Leben zu entlassen.

(Der Schattenblick setzt die Berichterstattung über die Veranstaltung fort.)

Bisher im Schattenblick zu der Veranstaltung "Maß und Messen" in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erschienen:

BERICHT/045: Maßgeblich - Wechsel und Wandel ... (SB)
INTERVIEW/038: Maßgeblich - Handelsgenauigkeit ...    Prof. Dr. Klaus von Klitzing im Gespräch (SB)

23. Januar 2019


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