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INTERVIEW/037: Schwund mit den Wurzeln - seismische Signale ...    Klaus-Rüdiger Mai im Gespräch (SB)


Klaus-Rüdiger Mai: Gehört Luther zu Deutschland?

Ein Gespräch zum Essay und über die brennenden Fragen der Zeit

von Christiane Baumann


Klaus-Rüdiger Mai verfügt als Historiker und Schriftsteller über ein Œvre, das überrascht. Er schreibt über die Musiker-Dynastie die Bachs ebenso wie Biographien über Luther und Dürer. Aus seiner Feder stammen spannende historische Romane und Krimis. Für den unter dem Pseudonym Sebastian Fleming erschienenen Roman Die Kuppel des Himmels über den Erbauer des Domes von Florenz, Donato Bramante, wurde ihm von dessen italienischer Geburtsstadt Fermignano die Ehrenbürgerschaft verliehen. Nicht zuletzt kann er mit Essays wie Lob der Religion aufwarten, für den er 2015 den Holländischen Preis für das beste religiöse Buch erhielt. Nun hat er wieder einen knapp zweihundert Seiten umfassenden Essay vorgelegt, der heute in die Buchläden kommt: Gehört Luther zu Deutschland? ist der Titel, der hintergründig anmutet und sich bei genauem Ansehen als essayistisches Seitenstück zu seinen Biographien erweist, in dem Konturen einer Geschichtsphilosophie erkennbar werden.


Cover des Essays Gehört Luther zu Deutschland? - © by Herder Verlag

© by Herder Verlag

Schattenblick (SB): Ihr Text ist eine einzige Provokation. Ihre Befunde zur Lage in Deutschland lassen aufhorchen: Rechthaberei statt Meinungsfreiheit, Bildungsabbau und Wohlstandsverwahrlosung, Kinderarmut, mangelndes Geschichtsbewusstsein, politische Romantik anstatt rationaler Politik. Sie fühlen sich im besten römischen Sinne als Bürger durch die Regierenden bedroht und rufen die mündige Bürgerschaft um Beistand an, nehmen damit das im Römischen Imperium "vornehmste Freiheitsrecht" der Bürger wahr, wie es in Ihrem Essay heißt. Was hat Sie bewogen, einen Traktat, der in seiner Gesellschaftsanalyse das Potenzial für einen Thriller hat, zu schreiben?

Klaus-Rüdiger Mai (KM): Verantwortung, der ich mich nicht entziehen kann. Verantwortung für das, was wir ererbt, was mir meine Eltern mitgegeben haben, wie für das, was wir unseren Kindern hinterlassen. Wenn unser Land plötzlich nicht mehr durch demokratische Diskussion und Entscheidung, sondern durch die Selbstermächtigung einer Bundeskanzlerin verändert wird, wenn einflussreiche politische Kräfte ein neues Deutschland durch die Hintertür einführen wollen, ohne erstens hinreichend zu erklären, wie sie sich dieses neue Deutschland vorstellen, und sie zweitens den Souverän nicht befragen, ob er sich von seinem "alten" Deutschland verabschieden möchte, dann befinden wir uns nicht mehr auf dem Boden der Demokratie. Ich habe bereits in den achtziger Jahren in einer Analyse eines linken, französischen Soziologen gelesen, dass die Politiker aller im Parlament vertretenen Parteien einander näher stehen als ihren Wählern. Das hat mich damals überrascht. Ein Blick auf das Imperium Romanum sollte uns in mehrfacher Hinsicht zu denken geben. Das Konzept der Bürgergesellschaft hat Rom groß gemacht. Es beruhte auf der Disziplin und der Verantwortung der Bürger für ihre res publica. Jeder Bürger Roms hatte das Recht, alle anderen Bürger zum Widerstand aufzurufen, wenn die Regierung sein Bürgerrecht verletzte. Dafür musste der Bürger im Gegenzug konsequent für die römische Gesellschaft eintreten. Das reichte bis zur allgemeinen Wehrpflicht. Man kann es nicht deutlich genug sagen: Der Erfolg des Imperium Romanums beruhte auf der Freiheit seiner Bürger, die freien Willens - also in Freiheit - für ihr Gemeinwesen, wenn es sein musste, auch mit ihrem Leben einstanden und die Belange ihrer Gesellschaft öffentlich verhandelten. Diesen Gedanken, dass die Freiheit aller die Freiheit jedes Einzelnen voraussetzt, finden Sie in der Antike in der provocatio ad popolum, im Christentum, wenn Jesus sagt: "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan." (Mt. 25, 40), in der Magna Charta der Engländer, in Sir Edward Cokes berühmt gewordenem Ausspruch: "for a man's house is his castle" und schließlich auch im Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels.

SB: Im Kommunistischen Manifest?

KM: Marx und Engels formulierten als Ziel eine Gesellschaft, worin "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Wenn die Freiheitsrechte des Einzelnen verletzt werden, dann existiert keine Freiheit mehr. Zu den Freiheitsrechten gehören essentiell die Meinungsfreiheit und das Recht, die öffentlichen Angelegenheiten mitzubestimmen. Aufgabe der Regierung ist es, die Freiheitsrechte der Bürger zu garantieren, indem sie unter anderem die Hoheitsrechte des Staates durchsetzt und nicht suspendiert. Gerade in wichtigen existentiellen Fragen darf die Politik nicht von den öffentlichen Plätzen in Berliner, Brüsseler oder Istanbuler Hinterzimmern flüchten. Und gut lutherisch gesagt, kann ich nicht anders, als die öffentlichen Angelegenheiten öffentlich zur Diskussion zu stellen. Es geht mir nicht darum, Recht zu haben, sondern darum, dass diese wichtigen Fragen öffentlich verhandelt werden. Die literarische Form des Essays habe ich gewählt, weil sie Gedankenspiele zu einem Thema ermöglicht. Übrigens: In der Renaissance wurden intellektuell faszinierende Debatten zur guten und zur schlechten Regierung geführt. Dantes Zeitgenosse Ambrogio Lorenzetti malte hierzu sogar für das Rathaus von Siena zwei Bilder: "Die gute Regierung" und "Die schlechte Regierung" - man kann sich die staatspolitischen Vorstellungen im wahrsten Sinne des Wortes anschauen.

SB: Sie behaupten, dass Deutschland und Europa an der Schwelle großer Veränderungen stehen, dass Europas Moderne, die einst mit Luther eingeläutet wurde, jene Epoche des Humanismus und der aus ihm sich entfaltenden Aufklärung, sich dem Ende zuneigt. Sie prognostizieren aufgrund Ihrer Analyse soziale Unruhen. Aus Ihrer Sicht ist der Kampf um die "menschliche Wohlfahrt und Würde", wie sie Immanuel Kant bezeichnet, in Deutschland eröffnet. Woran machen Sie so existenzielle Befunde fest?

KM: Wir sind bereits mitten in den Veränderungen. Das große gesellschaftliche Paradigma, das mit der Neuzeit, verkürzt gesagt mit der Reformation beginnt, endet in unseren Tagen. Historisch gesehen ist der Paradigmenwechsel ein völlig normaler Vorgang. Auch wenn die politischen Eliten hierzulande gern in Heinrich August Winklers Traum von Deutschlands langem Weg nach Westen schwelgen, bleibt jedwede Vorstellung, die Geschichte auf Ziele und Fluchtpunkte hin ordnet, ein ideologisches Konstrukt, das sich übrigens in schöner Regelmäßigkeit selbst blamiert. Der englische Autor Hans Kundnani hat mit seinem scharfsichtigen Aperçu Recht, dass Winklers langer Weg nach Westen die deutsche Entsprechung von Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte ist. Aber die Geschichte endet nicht, solange Menschen existieren, und eine Ankunft im Paradies ist auf Erden nicht vorgesehen. Die Menschen leben in Paradigmen, die gekennzeichnet werden von großen Weltanschauungen, die Glaubens-, Wert- und Moralvorstellungen enthalten, von einer Struktur des Zusammenlebens, der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen. Wenn die Paradigmen nicht mehr variiert oder ausentwickelt werden können, dann kommt es zu großen grundsätzlichen Veränderungen, die sozusagen die ganze bisherige Welt auf den Kopf stellen, wie wir es beispielsweise beim Übergang von der Spätantike zum Mittelalter und vom Spätmittelalter zur Neuzeit beobachten können. Ich möchte nur zwei Beispiele herausgreifen. Martin Luther hatte das Ich im Glauben entdeckt, dadurch aber auch das Individuum. In der Folge wird sowohl das Individuum als auch das Subjekt vollkommen neu definiert. Immanuel Kant nennt das die kopernikanische Wende im Denken. Dieses Individuum, das notwendig ist, um Freiheit, Privatheit, Individualrechte und allgemeine Menschenrechte zu definieren, droht angesichts der Digitalisierung zum Datenstaub pulverisiert zu werden, so wie das Individuum zur Humanschnittstelle umfunktioniert wird. Der Wechsel von der Gutenberggalaxie, die bestimmend war für unsere stupende technische und wissenschaftliche Entwicklung, in das World Wide Web, vom Analogen zum Digitalen verändert komplett unsere Weltanschauung, zumal zum ersten Mal virtuelle Welten wichtiger zu werden scheinen als reale Welten. Wir könnten weiter über Ankerbegriffe reden wie Fortschritt und Wachstum. Noch ahnen wir diese Entwicklung mehr, als dass wir sie präzise beschreiben können. Es wird darauf ankommen, genau diese Arbeit zu leisten. Sie wird aber nur gelingen, wenn man das Ausmaß, die Fundamentalität, ja die Radikalität dieser Entwicklung voraussetzt und nicht in einer Art geistigen Biedermeiers verharrt. Wir haben die Chance, diese Prozesse im Sinne der Bürger zu bestimmen, wenn wir sie in ihrer ganzen Tragweite verstehen. Eine bestimmte Entwicklung muss eben nicht zwangsläufig eintreten. Die Menschen können ihre Geschicke und ihre Geschichte bestimmen. Dass sie das in größter Harmonie vermögen, ist damit allerdings nicht gesagt. Zu jedem Prozess existieren Alternativen. Dem Erkenntnisprozess werden aber große Widerstände entgegengesetzt.

SB: Sie sehen die Demokratie und die Freiheit in Deutschland in Gefahr. Aus Ihrer Sicht nehmen der Staat und die von den Bürgern legitimierte Regierung ihre hoheitlichen Aufgaben und damit ihre Verantwortung, unsere christlich-humanistischen Werte zu schützen, nicht mehr wahr?

KM: Es ist ganz offenkundig, dass aus unseren christlich-humanistischen Werten sich die Menschenrechte und die Demokratie entwickelten. Der Humanismus hat den Bogen zur Antike geschlagen, auch zur griechischen und römischen Demokratie. Die christliche Kirche hat das Römische Recht transferiert und dadurch Europa verrechtlicht, während Luther mit dem Ich im Glauben das Individuum entdeckte und mit der epochalen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen die Grundlage für die universellen Menschenrechte schuf. Durch das von ihm aus dem Humanismus gewonnene Prinzip sola scriptura (Schriftprinzip) hat er nicht nur die Grundlagen für die historisch-kritische Methode, sondern auch für die Kritik, die ein essentieller Bestandteil europäischen Denkens ist, geschaffen. Geben wir unsere humanistisch-christlichen Werte preis, dann entziehen wir der Demokratie und der Freiheit die Grundlage, dann zerstören wir unsere Art zu leben. Aus diesem Grund ist es wichtig, Tendenzen entgegenzutreten, die die deutsche Geschichte auf zwölf Jahre reduzieren und die großen Deutschen von Martin Luther bis Immanuel Kant historisch entsorgen, indem man sie a-historisch zu Antisemiten erklärt. Wer wird Luther und Kant in der ideologischen Skandalisierung folgen? Lessing? Friedrich Nicolai? Moses Mendelssohn? Und weiter: Goethe? Schiller? Herder? Wir sollten unser großes Erbe weder geringschätzen, noch verschleudern, weil wir es für die Zukunft benötigen. Wer seine Geschichte verrät, hat keine Zukunft.


Beim Vortragen auf der Kanzel der Friedenskirche - Foto: © by Günter Krawutschke

"Wer seine Geschichte verrät, hat keine Zukunft." Klaus-Rüdiger Mai während der Lesung in der Friedenskirche
Foto: © by Günter Krawutschke

SB: "Gehört Luther zu Deutschland?" - für mich hat das nie in Frage gestanden, denn er gehört ja zu unserer kulturellen Identität, die allerdings mit der Last zweier Weltkriege und dem geteilten Deutschland tiefe Kratzer bekommen hat. Unverkennbar ist Ihre Polemik, denn da ist ja dieser Satz in der Welt, vom Islam, der zu Deutschland gehöre ...

KM: Es ist ein Kennzeichen des Verlustes an Freiheit, dass Polemik inzwischen als negativ gilt. Dabei bedeutet Polemik nichts anderes als Meinungsstreit, als der Kampf um die bessere Argumentation. Der Wettbewerb der Ideen, der Streit der Meinungen, Ansichten und Vorschläge, das Ringen um Alternativen sind aber Herz und Geist der Demokratie. Ein positives Verhältnis zur Polemik gehört zu ihren Grundhaltungen. In dem Sinne bin ich polemisch. Im Grunde benötigen wir einen Mechanismus der ständigen Redemokratisierung, der mit der Begrenzung der Amtszeit für Bundeskanzler und Bundesminister auf zwei Legislaturperioden beginnt. Luthers großer Auftritt auf dem Reichstag in Worms wird gewöhnlich um ein wichtiges Detail reduziert, denn bevor er die großen Sätze über das Gewissen sagt, zitiert er an die Adresse Kaiser Karls V. gerichtet Jesus: "Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert." (Mt. 10,34) Und damit meinte er den Streit der Meinungen, der aus Luthers Sicht ohne Zwang geführt werden muss. Im Grunde hat die Bundeskanzlerin bei mir die Frage, ob Luther noch zu Deutschland gehört, ausgelöst. Wenn sie einerseits sagt, dass der Islam selbstverständlich zu Deutschland gehört, im gleichen Atemzug dazu auffordert, den Mut aufzubringen, sich zum Christentum zu bekennen, das Christentum also nicht mehr selbstverständlich zu Deutschland gehört, denn alles, wofür man Mut benötigt, ist nicht selbstverständlich, stellt sich in der Tat die Frage: Gehört das Christentum, gehört Luther noch zu Deutschland? Hat Martin Luther überhaupt noch einen Platz in Deutschland? In der evangelischen Kirche?

SB: Sie gehen mit der evangelischen Kirche im Kontext des Luther-Jubiläums hart zu Gericht, werfen ihr Selbstgefälligkeit und Selbstbeweihräucherung ebenso vor wie ein Hort der Parteihäuser geworden zu sein, in dem die Ideologie über die Religion zu triumphieren scheint. Haben wir Zustände wie zu Luthers Zeiten?

KM: Mit der evangelischen Kirche gehe ich gar nicht ins Gericht, denn die Kirche ist die Gemeinschaft der Christen. Hier leben viele Menschen großartig ihren Glauben, arbeiten Pastoren und Pastorinnen mit viel Engagement. Persönlich empfinde ich eine gute Predigt als Reinigung. Meine Kritik gilt dem Rat der EKD, gilt einem Linksprotestantismus, der sich für Luther zu schämen scheint und sich lieber auf dem Feld der Politik als auf dem des Glaubens tummelt. Wenn ein muslimischer Religionslehrer sich in Pakistan neben einem Spielplatz in die Luft sprengt, um möglichst viele christliche Kinder mit sich in den Tod zu reißen, die Taliban anschließend noch einmal bekräftigen, dass Christen für sie das Ziel mörderischer Anschläge sind und die Reformationsbeauftragte auf die originelle Idee verfällt, den Terroristen mit Liebe und Gebeten zu begegnen, dann ist das pure Heuchelei. Wo begegnet die Reformationsbeauftragte denn den Terroristen? Eltern verlieren ihre Kinder, die gerade noch sorglos spielten, und die Bischöfin gönnt sich erhabene Gefühle. In Luthers Schrift "Ob Kriegsleute auch im seligen Stande sein können" von 1526 kann man nachlesen, warum Pazifismus kein Christentum ist. Was ich kritisiere, ist, dass der Rat der EKD zu sehr die Politik und zu wenig den Glauben in den Mittelpunkt seiner Tätigkeit stellt. Politik gehört nicht in die Kirchen! Es geht auch nicht an, auf gelebtes Christentum in der Öffentlichkeit oder auf christliche Inhalte zu verzichten, weil man damit religiöse Gefühle der Muslime verletzen könnte. Die Trennung von Staat und Kirche ist ein hohes Gut und niemand in der Kirche sollte es in Frage stellen, indem er sich aus einem falschen Amtsverständnis heraus in die Politik einmischt. Dafür existieren in der Demokratie Parteien. Wird von der Kanzel eine bestimmte politische Richtung gepredigt, spaltet das die Gemeinde und wird dadurch das Gottes- zum Parteihaus gemacht. Das großartige - und zutiefst lutherische - an der evangelischen Kirche ist doch, dass sie stets in der Spannung zwischen Glauben und Institution, zwischen Religiosität und Apparat lebt. Keine einhundert Jahre nach der Reformation empfanden viele Lutheraner die lutherische Orthodoxie, die sich gebildet hatte, als ein Ärgernis, weil sie zu sehr Obrigkeit sein wollte und sich in alle weltlichen Bereiche einmischte. In dieser Zeit kam das Wort von der Mauerkirche auf und viele Christen sehnten sich nach einer Alternative, nach der Herzenskirche. Wenn also die Balance zwischen lebendigem Glauben und Apparat gestört ist, bedarf es einer Veränderung, bedarf es einer Entpolitisierung und einer neuen Hinwendung zum Glauben.


Der Autor während der Lesung in der Friedenskirche - Foto: © by Günter Krawutschke

"Alle Entscheidungen haben von den Bürgern Europas auszugehen." Klaus-Rüdiger Mai
Foto: © by Günter Krawutschke

SB: Für mein Verständnis trägt Ihr Essay viel Utopisches in sich. Aber ohne Frage legen Sie schlüssig dar, dass die "tektonischen Platten unserer Gesellschaft" in Bewegung geraten sind, also wieder einmal Geschichte stattfindet, die wir gestalten können und sollten. Doch welche Alternativen zu Globalisierung, zur EU, zur "Herrschaft des medial-finanz-wirtschaftlich-politischen Komplexes", wie sie ihn bezeichnen, gibt es überhaupt? Wie kann eine "neue Reformation", wie Sie sie fordern, aussehen, zumal Sie betonen, dass die Ökonomie keine Frage primär lösen wird, also eher die Ethik?

KM: Die Ethik ist der Ausgangspunkt. Martin Luther lehrt uns, vom Menschen aus zu denken. Das wirkt auf den ersten Blick erst einmal banal, hat aber große Konsequenzen. Wir müssen vom Individuum, von seinen Rechten, seinen Pflichten, von seiner Freiheit ausgehen. Martin Luther hat den modernsten Freiheitsbegriff, indem er Freiheit, Verantwortung und Gewissen zusammendenkt. Im Essay zeige ich, wie der Globalisierung die Regionalisierung entgegen gestellt werden muss. Europa, dieser wunderbare Kontinent, muss sich wieder finden - und zwar in seiner Vielfalt und Regionalität. Die EU-Bürokratie will alles an sich ziehen und Europa in einen Zentralstaat verwandeln - das ist aber antieuropäisch. Wer wirklich europäisch denkt, der tritt für ein förderales und regionales Europa ein. Die Menschen leben in ihren Regionen. Sie sind Europäer, weil sie Katalanen und Bayern, weil sie Piemonteser und Tiroler sind und nicht umgekehrt. Schauen Sie sich die Entwicklung der letzten Jahre an. Die EU-Bürokratie und der Euro haben so viel Hass in Europa erzeugt, einen Hass, den wir doch alle für längst überwunden hielten. Den neuen Nationalismus hat Brüssel hervorgebracht, er ist ein Kind der EU. Umso mehr lokale, regionale und nationale Kompetenzen auf Brüssel übertragen werden, umso weniger demokratische Teilhabe bleibt den Menschen, den Bürgern Europas. Die Stärkung der EU-Bürokratie geht einher mit der sukzessiven Entmachtung des Souveräns, weil das Repräsentationsprinzip überdehnt wird. Der Ratspräsident sagt ja selbst, dass er am liebsten im Hinterzimmer mit ein paar Leuten entscheidet. Die res publica scheint er als unangenehm, als störend zu empfinden. Was übrigens gern übersehen wird, ist, dass gerade das Internet eine neue Regionalität ermöglicht. Die Grundmaxime lautet schlicht: alle Entscheidungen haben in Europa, von den Bürgern Europas auszugehen. Wo man hingegen in Brüssel hinschaut, stößt man auf Geheimnisse wie die TTIP-Verhandlungen und Geheimabkommen wie Anfa, als wäre der europäische Bürger der Feind, dem man die wesentlichen Entscheidungen vorenthalten muss, weil sie ihn betreffen. Martin Luther hat aus der Provinz der römischen Zentrale das Konzept der Regionalität entgegengehalten. Auch hier können wir von Luther lernen. Was als Ablassstreit begann, war auch eine Auseinandersetzung zwischen Region und Zentrale. Aus der deutschen Provinz kam der entscheidende Puls zur Moderne, nicht aus der Bürokratie.

SB: Sie nehmen den mündigen Bürger in die Verantwortung, sich nicht zu "Konsumsklaven" oder "Datenabgasen im Internet" und letztlich zum Spielball der Geschichte herabwürdigen zu lassen. Auch wenn Sie einen Essay und kein Arbeitsprogramm oder Manifest geschrieben haben, eine gute Kritik sollte immer auch einen produktiven Vorschlag enthalten. So drängt sich die Frage auf, welche Handlungsspielräume hat der Einzelne überhaupt?

KM: Vom Einzelnen hängt alles ab. Lässt er es zu, dass die Mächtigen immer mächtiger werden und die Demokratie zur Oligarchie verkommt, dann verkleinern sich seine Handlungsspielräume. Was ich sagen will, ist: Niemand wird den Bürgern Handlungsspielräume eröffnen oder auch nur offen halten, das müssen die Bürger schon selbst tun. Das ist unbequem, das ist zuweilen gefährlich, aber unerlässlich. Da nur ein wirtschaftlich freies Subjekt auch ein politisch freies Subjekt sein kann, gilt es, neue wirtschaftliche Formen und Regelungen zu finden. Ich benenne ohne Anspruch auf Vollständigkeit ein paar Punkte: Das Verhältnis zwischen Real- und Finanzwirtschaft ist in ein grobes Ungleichgewicht geraten. Das gilt es kräftig zu korrigieren. Wirtschaftliche Entflechtungen sind notwendig. Kooperative Eigentumsformen müssen auf allen Gebieten gefördert werden. Soziale Medien, die Eigentum weniger sind, stellen einen Widerspruch in sich dar. Da der Gebrauch von Suchmaschinen und von sozialen Medien inzwischen zum Leben wie Wasser und Strom gehören, müssen diese Medien und Internetdienste als Daseinsfürsorge betrachtet und in vielfältige Eigentumsformen überführt werden, die von Kooperativen bis zu regionalen Zweckverbänden reichen. Ich habe Beispiele hierfür im Buch angeführt. Wir müssen es lernen, außerhalb des Paradigmas zu denken.

SB: Sie operieren mit dem Begriff "ungewisses Deutschland", was auf den Verlust an kultureller Identität ebenso anspielt wie auf die ungewisse Zukunft. Wie können wir Luther in diesem Prozess für uns produktiv machen?

KM: Der Begriff "Ungewisses Deutschland" spielt auf ein Buch gleichen Titels an, das der Franzose Pierre Viénot 1932 geschrieben hat, um den Franzosen Deutschland zu erklären. Erstaunlicherweise ist es noch immer lesenswert. Ungewiss meint aber auch, dass - und hier liegt das eigentliche Problem - Deutschland sich selbst ungewiss ist. Uns vergewissern können wir aber, wenn wir uns, unsere Entwicklung begreifen und Wertvorstellungen entwickeln - und an diesem Punkt hilft uns Martin Luther, in dem er uns an unsere Verantwortung für "unser Hauswesen", für Gottes Schöpfung gemahnt, die Freiheit zum Ankerwert macht, vom Menschen aus denkt, dessen Leben er als Leben in seiner Region begreift, und Bildung als den Wert erkennt, der über unsere Zukunft entscheidet. Wer Bildungsstandards absenken will, hat die Zukunft bereits aufgegeben. Wer wie die Bremer Bildungssenatorin die Hauptaufgabe der Bildung in der Integration von Zuwanderern sieht, programmiert bereits die Bangladeschisierung Deutschlands. Es ist doch vielmehr so, dass die Möglichkeiten humanistischer Bildung, zu deren Kanon die klassischen Sprachen, europäische Fremdsprachen, Naturwissenschaften, Kommunikationslehre, Informatik, Literatur, Theater, Kunst, Musik, Geografie, Geschichte, politische Ökonomie, Philosophie und Religion, Medienkritik als Quellenkritik gehören, überhaupt nicht ausgeschöpft sind. Mit Martin Luther gedacht: Die Zukunft dieses Landes werden nur gebildete Bürger sichern und Freiheit und Bildung bedingen einander, denn nur gebildete Menschen können wirklich frei sein.

Klaus-Rüdiger Mai
Gehört Luther zu Deutschland?
Herder Verlag, Freiburg, Basel, Wien 2016,
207 Seiten
19,99 Euro,
ISBN: 978-3-451-34846-4

Mehr zu Klaus-Rüdiger Mai im Schattenblick:

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REZENSION/030: Klaus-Rüdiger Mai - Martin Luther, Prophet der Freiheit (Christiane Baumann)
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REZENSION/005: Klaus-Rüdiger Mai - Albrecht Dürer. Das Universalgenie der Deutschen (Biographie) (SB)
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12. April 2016


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