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BUCHBESPRECHUNG/008: Otis Stuart - Nurejew - Eine Biographie (Ballett) (SB)


Otis Stuart


Nurejew

Die Biographie



Über große Künstler ist vieles geschrieben worden, so auch über den weltberühmten Ballettänzer Rudolf Nurejew. Zahlreiche Bücher, Artikel und Filmdokumente berichten über sein Leben und seine Karriere.

Otis Stuart hat mit seiner Biographie ein weiteres Werk hinzugefügt. Mit ausgiebigen Recherchen, einem lebendigen, angenehmen Erzählstil und Fachkenntnis führt er in die Welt Nurejews. Zahlreiche Zitate, Kommentare und unterhaltsame Anekdoten und Skandalgeschichten konfrontieren den Leser unmittelbar mit der sehr eigenwilligen Persönlichkeit dieses großen Tänzers.

Das Buch ist in drei Teile unterteilt. Im ersten, "Rudik" betitelt, befaßt sich Otis Stuart mit der Kindheit Nurejews bis zu dessen Europa-Tournee mit dem Kirow-Theater sowie mit den Umständen, die zu Rudiks Entscheidung führten, seine Heimat zu verlassen und in Frankreich Exil zu suchen.

"Rudi", der nächste Teil, berichtet über einen weiteren wichtigen Abschnitt in Nurejews Leben, über die langjährige Partnerschaft mit der um neunzehn Jahre älteren Ballerina Margot Fonteyn. Außerdem wird hier der Umgang Nurejews mit seiner Homosexualität dargelegt und verdeutlicht, welche nicht unerhebliche Rolle diese bei der Wirkung des einmaligen Tänzers auf das Publikum spielte.

Im dritten Teil "Rudolf" beschreibt Otis Stuart den unerschöpflichen Tatendrang Nurejews, seine ungeheure Willenskraft zu lernen und nicht aufzugeben. Außerdem legt der Autor Rudolfs Umgang mit seinen Finanzen dar - aufge- wachsen unter ärmlichsten Verhältnissen wurde er später ein steinreicher Mann -, beschreibt den Verlauf von Nurejews künstlerischer Laufbahn, die nicht nur das klassische Ballett betraf, und endet mit der vernichtenden Krankheit und dem Tod des Tänzers.

Im Anhang finden sich, chronologisch geordnet, alle Choreo- graphien wie auch die Rollen, nach denen Nurejew tanzte.

Zwei wesentliche Aspekte machen das Buch zu einer lebensnahen und äußerst lesenswerten Biographie. Der Leser wird sich kaum den begeisterten Schilderungen Otis Stuarts entziehen können - es scheint kaum jemanden unter denjenigen, die Nurejew kannten, zu geben, den der Autor nicht interviewt hat. Diese Konstellation aus Begeisterung und unzähligen Anmerkungen und Zitaten von Personen, die in direktem Kontakt zu Nurejew standen, lassen dessen Welt vor den Augen des Lesers auferstehen.

Nurejews starke Persönlichkeit wird gerne in Zusammenhang mit den ungewöhnlichen Umständen seiner Geburt gebracht - er wurde mitten während einer Zugfahrt in der Nähe von Irkutsk (Sibirien) geboren. Rudolf selbst malte die Geschichte seiner Geburt immer wieder mit großem Vergnügen aus, und es heißt, daß Rudolf Hamnetowitsch Nurejew seinen Auftritt genau zur richtigen Zeit hatte.

Von Anfang an wußte der kleine Junge der
Nurejews, wie wichtig es ist, einen Auftritt
zu inszenieren. (S. 27)
Er ist auf einer Zugfahrt auf die Welt gekommen
und verbrachte den Rest seines Lebens damit, sich
mit einhundertdreißig Stundenkilometern
vorwärtszubewegen. (S. 197)

Als Tänzer wurde er weltberühmt, wohl nicht einzig seiner Virtuosität, sondern vor allem seines Charismas wegen. Sein Tanz zeigte einen Nurejew und nicht irgendeinen Tänzer. Wenn kleine, technische Mängel - die es natürlich gab, denn schließlich hatte Nurejew seine Karriere erst mit 17 Jahren als Schüler am Kirow begonnen - einem Fachmann zwar nicht entgingen, so entging keinem

... das lodernde Feuer in seinen Augen oder die merkwürdig entspannte Intensität, die darauf hinwies, daß noch aufregendere Dinge kommen sollten. (S. 120)

Obwohl Nurejew durchaus einige technische Höchstleistungen erbrachte, kannte er seine u.a. technischen Unzulänglichkeiten - beispielsweise fehlte es ihm an Sprungkraft. Dieser Umstand und auch seine zu kleine Körpergröße hätten leicht gegen ihn als "Danseur noble in der klassischen Tradition" sprechen können. Doch wußte er genau um seine Wirkung auf der Bühne und war mehr als bereit, hart zu arbeiteten. Das männliche Ballett hob er auf ein nie dagewesenes Niveau.

Mit Rudis Körper ließ sich nicht so leicht arbeiten. Er schuf ihn sich mehr oder weniger selbst. Er schuf sich seinen Körper - machte ein Werkzeug daraus, und gleichzeitig entwickelten sich seine Seele und sein Talent. Er war von Anfang an das Schlachtfeld, auf dem all dies stattfand. (S. 131)

Rudolf revolutionierte den männlichen Tanz. Vor seinem Erscheinen hatten immer die Frauen die größeren Sprünge gemacht. Ein sauberer, gestreckter fliegender Jeté beispiels- weise war einem Mann nicht möglich. Doch Rudolf gab nicht auf, und es ist einzig seiner Hartnäckigkeit zu verdanken, daß heute vielen männlichen Tänzern weit mehr möglich ist.

Rudolf gehörte zu denjenigen Menschen, die Zeit ihres Lebens ihre Wünsche und Vorstellungen durchsetzen, ohne sich dabei auch im mindesten um andere zu kümmern. Seine "Wildheit" paßte in das Bild, das das Publikum Europas von einem Russen hatte - und Rudolf war und blieb ein Russe. Allein sein Russischsein weckte die Neugier der Theaterinteressierten, und sie strömten unter anderem deswegen zahlreich in die Opern.

Um vor dem Leser ein möglichst vollständiges Bild Rudolf Nurejews entstehen zu lassen, schildert Otis Stuart nicht nur Rudiks Familiengeschichte, er setzt sie in Zusammenhang mit dem Charakter des Landes, der Leute und wesentlich auch der Ära Stalins, unter der Rudik aufwuchs. Er macht den Leser neugierig auf ein mehr an Information über die Geschichte Rußlands und ist bemüht, ein Verständnis für viele von Nurejews später so seltsam anmutenden Eigenarten aufzubauen.

Rudolf hatte eine äußerst harte Kindheit, er wuchs unter großer Armut auf und war gezwungen, seinen ersten Schulweg ohne Schuhe, getragen auf dem Rücken der Mutter und in den abgetragenen Kleidern seiner Schwestern, anzutreten. Von Anfang an war er hier ständigem Gespött ausgeliefert und letztendlich setzte er sich zur Wehr. Er reagierte mit Wut, versuchte sich "durchzuboxen", er war keineswegs bereit sich zu beugen. Otis Stuart kommentiert, daß vom Regime Stalins und den ärmlichen Verhältnissen einer derartigen Kindheit wohl keiner unberührt geblieben wäre.

Zum einen durch seine - wie es heißt - Aufsässigkeit und zum anderen durch seine homosexuelle Neigung war Nurejew seiner Regierung stets ein Dorn im Auge. Nachgewiesene Homosexualität wurde streng verfolgt und führte zur Verbannung. So suchte die Regierung Stalins nach einer Möglichkeit, Rudolf nach Sibirien zu "entsorgen". Es sollte ihnen nie gelingen. Doch dieser Umstand führte dazu, daß Nurejew in den sechziger Jahren, nach der Europa-Tournee des Kirow Theaters, nie wieder nach Rußland zurückkehrte.

Rudolfs - man kann schon sagen - Einzigartigkeit wird durch zahlreiche Zeugenaussagen untermalt. Er wird als "wildes Tier" bezeichnet, als "schlanker, wilder Pan". Es heißt, daß er alles, was er tat, mit einer Aura des Unvorherseh- baren umgab, daß seine Wirkung auf das Publikum nie darin lag, was er tat, sondern wie er es tat. Eine amerikanische Ballerina äußerte sich über Rudolfs und ihren gemeinsamen ersten Auftritt, daß ihr der Anblick dieses unglaublich attraktiven Mannes zu ihren Füßen tatsächlich den Atem raubte, und sie zum ersten und einzigen Mal in ihrer Berufslaufbahn nicht mehr wußte, wo sie sich befand.

Er braucht nur mit einer Zehe zu wackeln
und schon fängt der Puls seiner Zuschauer
an zu rasen. (S. 176)

Unzählige Äußerungen dieser Art geben ein beeindruckendes Bild des großen Tänzers wider, der mit seinem Tanz offen- sichtlich wahre Wunder bewirkte, und Otis Stuart versteht es, diese wundersame Wirkung Nurejews durch entsprechende Kommentare dem Leser zu vermitteln:

... - es war, als hätten die Caballé oder Aretha Franklin plötzlich am obersten Ende ihres Stimmbereichs eine weitere Oktave entdeckt. (S. 142)

So schmerzt es tatsächlich, Rudolfs Tod anhand des Buches mitzuerleben. Dieser nie aufgebende, nie mit seinem Können zufriedene, nicht zu beugende Mann beugte sich am Ende auch vor seiner Krankheit nicht.

Er gehörte zu denjenigen, die bereits mit Bekanntwerden der ersten Fälle von Aids betroffen waren, und wie bei jedem anderen HIV-Erkrankten, nahm die Viruserkrankung im Laufe der Zeit auch bei ihm immer heftigere Formen an. Er erwähnte seine Krankheit nie (wofür er verschiedenste Gründe hatte). Doch bezeichnend für seinen Umgang mit Aids ist sein Tip an dem Amerikanischen Danseur Clark Tippet, bei dem ebenfalls Aids diagnostiziert wurde, er solle nie aufzuhören zu tanzen.

Die Biographie von Otis Stuart ist bewegt und mitreißend geschrieben, und nach dem Lesen der Lektüre ist Nurejew gewiß kein Unbekannter mehr.


Über den Autor: Der Autor Otis Stuart wurde in Louisiana, USA geboren. Nach einem Studium der Literatur ließ er sich zum Schauspieler ausbilden. Zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften wie der "New York Times", der "Elle", dem "Ballett Review" oder auch dem "Dance Review" zeugen von seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Sein Buch "Nurejew" erschien in New York unter dem Originaltitel "Perpetual Motion" 1995, dem Todesjahr Otis Stuarts.

Otis Stuart Nurejew Die Biographie Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, April 1998 DM 22,90 ISBN 3-596-13607-5