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REZENSION/022: Royston Maldoom - Tanz um dein Leben (SB)


Royston Maldoom


Tanz um dein Leben

"Don't accept anything! Don't stand still!"



Im Jahre 1989 bringen 11 Gruppen katholischer und protestantischer Jugendlicher aus verschiedenen Brennpunkten Nordirlands mitten in einem gewaltsamen, bereits seit mehr als 25 Jahren währenden politisch generierten Konflikt zwischen den Konfessionen gemeinsam die Carmina Burana von Orff auf die Bühne des Stranmillis College Theatre in Belfast. Der Choreograf: Royston Maldoom.

1991 tanzen 140 Litauer, Russen und Polen zwischen fünf und vierzig Jahren im Sportpalast von Vilnius vor mehr als 4000 Zuschauern das Requiem von Verdi. Der Anlaß: Am 13. Januar desselben Jahres waren 14 unbewaffnete Zivilisten bei einem Putschversuch moskautreuer Kräfte gegen die von Litauen erklärte Unabhängigkeit von Spezialeinheiten der sowjetischen Armee erschossen worden. Auch hier ist der Choreograf Royston Maldoom.

1994 präsentieren Bosnier und Kroaten in einem Keller in Zagreb Sarajewo Circle, das Stück des jungen Dino Zonic, der darin die Erlebnisse der Menschen in der kriegszerstörten Stadt verarbeitet, vor kleinem Publikum. Später wird das Stück auch in Sarajewo gezeigt, in Wien und Linz, in London, am Broadway und in Irland. Royston Maldoom engagiert sich nicht nur als Tänzer und Choreograf, sondern transportiert auch Nähmaschinen durchs Kriegsgebiet nach Samobor.

1996 tanzen in Addis Abeba 120 Straßenkinder die Carmina Burana, die in Äthiopien den Namen Adugna (Schicksal, Geschick) erhält (unter demselben Namen wird sich später die Adugna Dance Company gründen) und machen damit auf ihre Lebenssituation aufmerksam, demonstrieren aber auch auf eindrückliche Weise, was in ihnen steckt. Der Choreograf: Royston Maldoom.

In Irland bringt er schwer geistig und körperlich behinderte Kinder zusammen mit Schulverweigereren auf die Bühne, in Wetherby tanzen jugendliche Gefängnisinsassen 2003 nach der Symphonie der Klagelieder des polnischen Komponisten Górecki. "Die Proben", so Maldoom, "waren ein Albtraum. Die Jungs schienen ihre Frustration und ihren Ärger nur durch Beleidigungen und körperliche Gewalt ausdrücken zu können." Aber danach:

Bei unseren letzten gemeinsamen Zigaretten schilderten sie, was sie während des Projektes erlebt hatten: Erstaunen, Mißtrauen und schließlich Freude, als ihnen aufging, dass ich sie nicht aufgeben würde. Sie hatten Kontakt zu jemandem gehabt, der als Künstler lebte, atmete und fühlte - und meine Kompromißlosigkeit hatte sie angeregt. "Wir wollten Ihnen bis zur letzten Minute beweisen, daß Sie uns genau wie alle anderen aufgeben würden. Aber das haben Sie nicht getan", sagten sie.

[...] Und durch den Tanz hatten sie zueinander eine Art von Vertrauen gefaßt, das 'drinnen' sehr selten war. Sie hatten Freude an Goréckis Musik gefunden und wollten mehr davon hören, auch für zeitgenössischen Tanz und Tänzer hatten sie eine gewisse Bewunderung entwickelt. Die Jungen sprachen von ihren Hoffnungen für die Zukunft. Doch ganz egal, was diese ihnen bringen würde, sie hatten nun einen Augenblick, eine Erinnerung, eine Erfahrung, die sie wertschätzen konnten.
(S. 260/61)

Dies sind nur einige der Projekte, von denen der heute 67jährige Brite Royston Maldoom in seiner jetzt im Fischer Verlag erschienenen Autobiografie Tanz um dein Leben - meine Arbeit, meine Geschichte erzählt. Er versteht sich als "68er", Politik und Tanz gehen für ihn ganz selbstverständlich zusammen. Dabei bezieht er seine Erkenntnisse weniger aus der Erarbeitung theoretischer Schriften als aus der lebendigen Begegnung mit Menschen verschiedenster Herkünfte und Kulturen.

Das Tanzen und Choreografieren war ihm nicht in die Wiege gelegt, eigentlich gehörte seine Liebe der Arbeit und dem Leben auf dem Land. Als er jedoch, eher zufällig und weil er die Freunde nur wegen des anschließend geplanten Kneipenganges ins Kino begleitet, den Tänzer Rudolf Nurejew auf der Leinwand erlebt, erfährt sein Leben eine ebenso plötzliche wie tiefgreifende Wendung. Mit über 20, einem Alter, in dem man es in diesem Genre eigentlich zu nichts mehr bringen kann, beginnt er mit der Ausbildung zum Tänzer. Er gehört nicht zu den Überfliegern, es wird ihm nur mäßiges Talent und ein ungünstiger Körperbau bescheinigt, was anderen zufällt, muß er sich in strapaziösen Analysen erarbeiten. Es sind diese Erfahrungen von Kampf, Niederlage und eigenem Scheitern, die ihn prädestinieren, mit anderen ebensolche Erfahrungen zu teilen und zu überwinden.

Vielleicht hat gerade dieser tägliche Kampf mit meinem Körper dazu beigetragen, dass ich auch heute noch in der Lage bin, selbst hart gebeutelten und häufig widerspenstigen Anfängern die Grundlagen einer Bewegung zu vermitteln. Ich ermutige meine Tänzer immer wieder, Versagen ohne Angst und Scham anzunehmen, und sträube mich gegen die gängige - aber hemmend wirkende - pädagogische Auffassung, nach der es enorm wichtig ist, die Schüler zu loben und ihnen stets positive Rückmeldung zu geben.
(S. 52)

Per Zufall kommt Maldoom Ende der 70er Jahre nach einer internationalen Karriere als Choreograf in Schottland mit dem Amateurtanz in Berührung und findet nach anfänglichen Reibungen Freude daran:

In dieser Zeit veränderte sich nicht nur meine Arbeit auf bedeutsame Weise, sondern auch meine Einstellung zum Tanz im allgemeinen. Tanz konnte weite Teile der Gesellschaft zusammenbringen. Ich fragte mich, ob nicht auch traditionelle hierarchische Strukturen dadurch aufgebrochen werden konnten...
(S. 112)

Die Arbeit fasziniert ihn so sehr, daß er zum Protagonisten einer ganzen Bewegung wird: der Community Dance Bewegung.

Seit über 40 Jahren arbeitet er in den Krisenherden dieser Welt, vorzugsweise mit denen, die die Gesellschaft aussortiert hat. Sein Mittel: Der Tanz. Seine Botschaft: Tanz kann Grenzen überwinden. Sein Prinzip: Risiken eingehen. Sein Credo: Leidenschaft und ein unerschütterlicher Glaube an "das außergewöhnliche Potential in jedem Menschen". (S. 62)

Die Notlagen sind hier nicht, wie so oft in ähnlich gelagerten Projekten, Vorwand und spektakuläre Kulisse zur Präsentation von Künstlern, die ihr Engagement werbewirksam und selbstverständlich ohne Honorar an eine mitfühlende Weltöffentlichkeit bringen, der es ebenfalls genügt, sich mit dem Kauf einer Eintrittskarte oder DVD aus der Affäre zu ziehen.

Für Maldoom ist der Tanz in dieser Mischung aus zeitgenössischem und Ausdruckstanz in ganz besonderer Weise geeignet, Grenzen zu überwinden, solche im eigenen Körper, zwischen Nachbarn, zwischen Völkern. Tanzen fordere den Menschen körperlich, emotional, kognitiv, intellektuell, spirituell und sozial.

Alles in allem ist wohl die soziale Komponente der wichtigste Faktor im Community Dance. Mit dem Tanz wachsen wir gemeinsam. Wir lernen, anderen den Raum zu geben, sie zu respektieren und unseren eigenen Raum zu finden. [...] Wir lernen zu vertrauen, andere zu halten und zu heben und, was genauso wichtig ist, einander zu berühren. Durch das Berühren und Tragen anderer können wir uns wohler fühlen mit bestehenden Unterschieden. Das gilt vor allem in Konfliktsituationen, in denen Tanz Harmonie und Akzeptanz fördern kann. Wie kann man an Vorurteilen gegen jemand festhalten, den man berührt und gehalten hat, auf den man sich körperlich eingelassen hat?
(S. 273)

Berühmt geworden ist Maldoom in Deutschland vor allem durch den Film Rhythm is it! (2004), der seine Choreografiearbeit mit 250 Kindern und Jugendlichen aus 25 Nationen dokumentarisch begleitet und mit der Aufführung von Le Sacre du Printemps mit den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle Höhepunkt und Abschluß fand. In seiner Autobiografie erfährt man aber vor allem Wesentliches aus seiner Arbeit und seinem Leben davor, einem Leben, so der Autor, in dem er nie einem Plan folgte, wohl aber seiner inneren Stimme. Auf ca. 300 Seiten schildert er mitreißend, unterhaltsam und mit Eigenwitz eine wechselvolle Kindheit, harte Lehr- und Wanderjahre auf der Suche nach sich selbst, oft ohne Job und ohne Obdach, erste Erfolge in Tingeltheatern - und immer wieder die Auseinandersetzung mit Menschen anderer Kulturen. Wir begleiten Royston Maldoom nach London, Schottland und Irland, nach Südafrika und Äthiopien, nach Hongkong und Peru, wir erleben Erfolge und Niederlagen, erfahren von Freundschaften und Heimatlosigkeiten.

Dazwischen und thematisch geschickt gesetzt, so daß Fragen, die einem beim Lesen kommen, beantwortet werden, Kapitel mit Reflexionen etwa über die transformatorische Macht des Tanzes, über Leidenschaft und die Notwendigkeit zum Risiko, den Anspruch an die eigene Arbeit, den fatalen Einfluß außengenerierter negativer Selbstbilder, die heilende Kraft von Mißerfolgen oder die einschränkende Wirkung von Zuordnungen.

Eine junge Choreographin fragte mich einmal, wie sie die älteren Menschen in einem generationsübergreifenden Tanzprojekt integrieren solle. "Du hast schon verloren", sagte ich ihr, "das geht nämlich nicht. Sobald du die Älteren als eine Gruppe wahrnimmst, die man integrieren muß, steckst du sie in eine Randkategorie. Deine Maßstäbe sind Teil des Problems."
(S. 180)

Das Schreiben des Buches, so sagt Maldoom, sei auch eine Möglichkeit gewesen, über sein Leben und seine Arbeit zu reflektieren.

Inzwischen hat der Tanz weltweit Eingang in die Jugendarbeit gefunden, dem Tanz in Schulen ist ein ganzes Kapitel gewidmet; der Film hat einen sicherlich nicht unbeträchtlichen Anteil dazu geliefert. Neue und dauerhafte Projekte sind entstanden wie Tanz die Toleranz, Can Do Can Dance oder kontinuierliche Zusammenarbeiten wie beispielsweise mit dem Grone Netzwerk Hamburg. Auch darauf gibt das Buch einen Ausblick.

Tanzen ist zu einer Massenbewegung geworden. Aus dem Gemeinschaftstanz ist ein öffentlicher und öffentlich geförderter Tanz geworden. Und wie bei allen Massenbewegungen besteht auch hier die Gefahr, daß ursprünglich emanzipatorische Inhalte und Ziele konterkariert und für affirmative Zwecke mißbraucht werden. Waren Vertreter wie Royston Maldoom ursprünglich angetreten, Menschen zu befreien, "sie den Kopf heben zu lassen", gerät Tanzen in Form von TV-Tanz-Events zum medial fortgesetzten Konkurrenzkampf (Strictly come dancing in England oder Let's dance in Deutschland), als Fitnessprogramm zur Gängelung zu schwer befundener Mitbürger, in Form von Tanzplänen zum Prestigeobjekt ehrgeiziger Politik, zur Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Künstler oder zur bloßen Beschäftigungs- und Befriedungsmaßnahme für erziehungsresistente oder schulschwierige Jugendliche. Jedenfalls ist immer da, wo Tanz staatlich gefördert und funktionalisiert wird, wo Tanzbeauftragte wie in England oder Deutschland das Steuer übernehmen, Vorsicht angesagt, wo Berufsförderung im Vordergrund steht und nicht Kreativität, wo Disziplin und Zuverlässigkeit wichtiger werden als Selbstbewußtsein, wo die Fähigkeit zu gemeinschaftlichem Handeln zu bloßer sozialer Kompetenz, zum sogenannten 'soft skill' wird.

Royston Maldoom betont, daß seine Arbeit in erster Linie und notwendig eine künstlerische sei. Er versteht sich nicht als Sozialarbeiter, seine Methode ist keine Lehrbuch- und Seminarpädagogik: "Es gibt viele Bücher und Anleitungen mit ausgefeilten Theorien und Methoden (insbesondere für die Arbeit mit Kindern), doch sie können niemals erklären, wie wichtig Leidenschaft und Persönlichkeit in diesem Prozess sind". (S. 194/195) Mit anderen Worten: Es braucht nur ein einfaches Rezept, das aber erfordert den ganzen Menschen. Darunter ist Veränderung nicht zu haben.

Royston Maldoom versteht sich nicht als Einzelkämpfer. In dieser Hinsicht ist er völlig uneitel. Die Arbeit mit anderen, Gleichgesinnten, das weltumspannende Netzwerk, das ist es, was ihm am Herzen liegt und, dem Tanz allgemein und dem Community Dance im besonderen den Platz zu erobern, den er verdient und der ihn den anderen Künsten gleichstellt.

In Litauen und auf dem Balkan habe ich erlebt, über welche Heilungskräfte der Tanz verfügt und wie er das Leben bereichern kann. Ich habe gesehen, wie Tanz ethnische, kulturelle und religiöse Schranken in Südafrika und Nordirland durchbrochen hat, wie sich in Gefängnissen und Schulen in Großbritannien und anderen Teilen Europas persönliche Fähigkeiten erweiterten und Verhaltensweisen positiv veränderten. In Äthiopien vollziehen sich durch den Tanz vor meinen Augen tiefgreifende Veränderungen im Leben von Straßenkindern.

Menschen mit geringem Selbtwertgefühl halten sich in den Tanzworkshops oft mit ihren Bewegungen zurück, gestehen sich nur wenig Raum zu, können ihre Gliedmaßen nicht völlig strecken oder den Kopf nicht heben. Durch die kontrollierten, wohltuenden Bewegungen des zeitgenössischen Tanzes in einem sicheren und unterstützenden Umfeld lernen sie häufig, sich freier zu bewegen und mehr Platz im Raum einzunehmen. Tanz hat einen Einfluss auf unsere Sicht der Welt, die Wahrnehmung von uns selbst und anderen.
(S. 40)

Mit seiner Autobiografie, die in enger Zusammenarbeit mit der Choreogafin und Tanzpädagogin Jacalyn Carley, selbst Autorin mehrerer Bücher, entstand, ist Royston Maldoom ein bewegendes, berührendes Buch gelungen, informativ, engagiert, positioniert, gut erzählt. Es ist ein Buch über den Kampf mit sich selbst und den Widrigkeiten eines schwierigen Alltags, es ist Reisebericht, zeitgeschichtlicher Kurzausflug, tanzpädagogische Reflexion. Es bietet Diskussionsstoff und regt zur Nachdenklichkeit an. Es ist ein positives und Mut machendes Buch, spannungsreich wie das Leben seines Protagonisten, eine Lektüre für alle, die sich für den Tanz und die Arbeit mit Menschen interessieren. Besonders ans Herz gelegt sei es denen, die in pädagogisch motivierter Tanzarbeit mit Kindern und Jugendlichen nur mäßigen Erfolg haben oder gar trotz größter Bemühungen scheitern und die sich fragen, warum?

Man mag das Ansinnen, die Welt mit Tanz verändern zu wollen, als naiv empfinden, die Frage nach den Machtverhältnissen stellt Royston Maldoom nicht.

Wenn ich jetzt auf diese Zeit zurückblicke, fällt mir außerdem auf, dass ich damals damit begonnen habe, Choreografien zu entwickeln, die Teilnehmer nicht nur vor körperliche Herausforderungen stellten, sondern ihr Augenmerk auch auf aktuelle Themen lenkten. "Ihr seid Bürger dieser Welt", erklärte ich ihnen, "habt eine Verantwortung, spielt eine wichtige Rolle - nicht nur in eurem eigenen Leben, sondern auch für andere." [...] Aus elf Jahren habe ich die Fähigkeit mitgenommen, nicht das Trennende zwischen Mensch zu betonen, sondern das Verbindende hervorzuheben. Dieses Wissen gab mir die Sicherheit, auch in unsicheren und konfliktreichen Situationen meine Arbeit fortführen zu können.
(S. 140/141)

13. April 2010


Royston Maldoom
Tanz um dein Leben
Meine Arbeit, meine Geschichte
In Zusammenarbeit mit Jacalyn Carley
aus dem Englischen von Nora Petra Lachmann
2. Auflage März 2010
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010
315 Seiten, gebunden, 36 Fotos, 22,95 Euro
ISBN 978-3-10-047390-5