Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → FAKTEN

BERICHT/020: Offener Bücherschrank als soziales System (forsch - Uni Bonn)


forsch 2/2009 - April 2009
Bonner Universitäts-Nachrichten

Bonner "Gemeinschaftsmöbel"

Studienobjekt: Offener Bücherschrank als soziales System


Sie stehen an der Poppelsdorfer Allee, am Beueler Rheinufer, in Duisdorf und nun auch im Universitätsklinikum: die "Offenen Bücherschränke". Die pfiffige Idee dazu hatte die Mainzer Studentin Trixy Royeck; die Bürgerstiftung Bonn wählte dieses Projekt in einem Wettbewerb aus und unterstützt es. Dank vieler Stammkunden funktioniert das unkonventionelle Versorgungssystem nach dem Motto Buch aussuchen, mitnehmen und lesen, wieder zurückstellen - oder behalten und neue Bücher einstellen. Professor Dr. Michael-Burkhard Piorkowsky und seine Studierenden haben sich sogar wissenschaftlich mit dem Phänomen "books outdoor" befasst.


*


"Bestärkt, dazu eine Studie zu machen, hat mich ein Gespräch mit einem Kollegen, der meinte: Das ist ein Markt! Aber keins der üblichen wirtschaftlichen Modelle passt hier", sagt der Haushalts- und Konsumökonom Professor Piorkowsky. "Und ich befasse mich gern mit Unkonventionellem." Hier herrsche nicht das Prinzip von Angebot und Nachfrage. Es sei auch keine klassische Tauschbörse, weil man ja auch Bücher entnehmen könne, ohne dafür welche einzustellen. Wenn das allerdings alle täten, würde das System nicht funktionieren.

Für die Studierenden war es eine Übung in empirischer Sozialforschung: Sie entwarfen Fragebögen und einen Einsatzplan, führten 250 Interviews und beobachteten, was am Bücherschrank an der Poppelsdorfer Allee so vor sich geht - zwei Wochen lang in zwei Schichten pro Tag, werktags wie am Wochenende. "Erst waren sie zögerlich", schmunzelt der Dozent, "auch weil sie meinten: Da kommt halt jemand, stellt drei Bücher hinein und nimmt drei heraus. Aber so ist das ganz und gar nicht."

"Wir waren überrascht - das System hat tatsächlich eine faszinierende Eigendynamik", bestätigt Kerstin Hilt. "Wir hatten auch nicht damit gerechnet, dass so viele verschiedene Alters- und alle Einkommensgruppen den Bücherschrank nutzen. Und die Leute haben so bereitwillig mitgemacht, dass wir zum Schluss sogar zu wenig Fragebögen hatten", ergänzen Sandra Bichler und Olga Reger. Gemeinsam dokumentierten sie die Ergebnisse und stellten sie beim letzten Dies academicus öffentlich vor.

Wildfremde Menschen kommen an diesem Gemeinschaftsmöbel ins Gespräch - über Buchempfehlungen "Kennen Sie das hier? Das ist toll", bis zum System an sich. Viele nutzen den Schrank schon, seit er 2003 aufgestellt wurde, und haben ihn zufällig entdeckt.


Keine festen Regeln - aber "korrekte" Nutzung bevorzugt

Obwohl es keine festen Regeln gibt, wird auf "korrekten" Gebrauch geachtet: Wer zu viele Bücher auf einmal mitnimmt, wird von anderen gerügt, manche Nutzer kommen regelmäßig und räumen den Schrank in Eigeninitiative auf. Männer und Frauen nutzen ihn etwa gleichermaßen - aber Frauen stellen eher als Männer Bücher (wieder) hinein. Mehr zu geben als zu nehmen, ist bei den Senioren verbreitet, bei Auszubildenden und Studenten ist es umgekehrt. Gerne werden über den Schrank auch politische Ideologien oder Weltanschauungen verbreitet. Ärgerlich finden die Nutzer Vandalismus, Verschmutzungen und wenn beschädigte Bücher hier entsorgt werden. "Alles in allem zeigt das Projekt, dass alternative Systeme nach dem Solidaritätsprinzip durchaus realistisch sind", sagt Professor Piorkowsky. Viele der Befragten können sich ein solches Geben und Nehmen auch mit anderen Waren wie CDs, DVDs und Spielen bis hin zu Elektrogeräten vorstellen. Professor Piorkowsky meint: "Warum sollte das nicht auch funktionieren? Ich weiß von einem solchen Transfersystem in Jerusalem - und dort wird nicht nach Kräften gerafft, weil's ja umsonst ist, sondern sehr sorgfältig ausgewählt."


Neu: Offener Bücherschrank im Klinikum

Neben den "books outdoor" gibt es nun einen ersten Offenen Bücherschrank im Innenbereich, ebenfalls von dem Designer Jürgen Greve gestaltet: Die HNO-Klinik des Universitätsklinikums auf dem Venusberg hat dieses neue Angebot für ihre Patienten, Besucher und Mitarbeiter initiiert. Erster Spender war die Universitätsbuchhandlung Bouvier. Auch ursprünglich für die Entsorgung vorgesehene Bücher einer Bücherei aus Wachtberg landeten durch die Aufmerksamkeit eines zehnjährigen Jungen nicht in der Recyclinganlage, sondern ausgewählte Exemplare fanden ihren Platz in dem neuen "Offenen Bücherschrank". Was weiter daraus wird, ist nun wie bei den anderen Schränken der Initiative aller Nutzer überlassen.

UK/FORSCH


*


Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 2, April 2009,
Seite 27
Herausgeber:
Rektorat und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Abt. 8.2 - Presse und Kommunikation
Poppelsdorfer Allee 49, 53115 Bonn
Tel.: 0228/73 76 47, Fax: 0228/73-74 51
E-Mail: forsch@uni-bonn.de

forsch erscheint viermal pro Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2009