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REZENSION/008: Sabine Kuegler - Dschungelkind (Autobiographie) (SB)


Sabine Kuegler


Dschungelkind

Hörbuch



In der Broschüre, die dem CD-Dreierpack der "Deutschen Grammophon Literatur" beiliegt, ist der Inhalt des Hörbuchs "Dschungelkind" folgendermaßen beschrieben:

Sabine Kuegler erzählt eindrucksvoll ihr Leben als Dschungelkind. Das Mädchen, das aus der Steinzeit kam.
Eine der ungewöhnlichsten Lebensgeschichten unserer Zeit
(3 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 4 Stunden)
Sabine Kueglers Geschichte beginnt, als sie mit fünf Jahren als Tochter deutscher Sprachforscher und Missionare nach West Papua kommt. Die Familie lebt mitten im Urwald mit dem Fayu-Stamm, der für Kannibalismus und unvorstellbare Brutalität steht. Erst langsam lernen die Stammesmitglieder zu lieben statt zu hassen, zu vergeben statt zu töten. Für die heranwachsende Sabine ist der Stamm jedoch Teil ihrer selbst, ihres Lebens: Sie ist keine Deutsche mehr, kein weißes Mädchen aus Europa, sie wird eine Eingeborene, die schwimmt und jagt, fühlt und handelt wie eine Fayu. Als sie mit 17 Jahren auf ein Schweizer Internat geschickt wird, ist das ein katastrophaler Einschnitt für sie. "Angst habe ich erst hier gelernt", sagt sie. Und ständig spürt sie die Sehnsucht - sie wird in den Dschungel zurückkehren, um herauszufinden: Wo gehöre ich hin? Wer bin ich eigentlich, Fayu oder Europäerin?
...soweit der Text der Begleit-Broschüre.
*

Manch einer, der sich von Sabine Kuegler akustisch in die Dschungelwelt Neuguineas versetzen lassen will, wird sich wundern, weshalb er auch nach halbstündigem Zuhören noch zuhause auf seinem Sofa sitzt anstatt in der Urwaldhütte der Familie Kuegler. Die Hörbuchversion des "Dschungelkind" hat nämlich gegenüber dem Buch ein recht auffälliges Manko. Dabei ist es nicht der leicht fremdländische Akzent der Autorin, der das Verfolgen dieser eigentlich sehr anschaulich geschriebenen Biographie erschwert. Es ist auch nicht ihre Stimmlage, sondern eher die Distanz, die sich durch die Art ihrer Betonung vermittelt. Sabine Kuegler liest nicht vor wie jemand, der anderen seine Lebensgeschichte nahebringen möchte, sondern eher wie eine Ausländerin in einem Deutschseminar, die als Leistungsnachweis den vorliegenden Text fehlerfrei zu artikulieren versucht.

Sicherlich resultiert dieses Problem zum großen Teil aus der Bemühung der Autorin, den von ihrer Lektorin sprachlich überarbeiteten Text fehlerfrei vorzutragen. Wer aber Sabine Kueglers Biographie ein wenig kennt und weiß, daß sie das Schreiben ihrer Lebensgeschichte als einen persönlichen Klärungsprozess versteht, könnte beim Hören ihrer eher unbeteiligten Sprechweise mutmaßen, daß sie sich entschlossen hat, bestimmte Abschnitte ihrer Kindheit emotional nicht mehr wiederzubeleben. Durch das Schreiben ihres Buches hat sie offenbar viele quälenden Widersprüche und offenen Fragen, in einem für sie durchaus positiven Sinne, hinter sich zurückgelassen und ihre Integration in die moderne Zivilisation wesentlich vorangetrieben. Im "Talk"-Interview mit Matthias Frank (NDRinfo) bestätigt Sabine Kuegler dies folgendermaßen:

"Frank: Wie sehr stecken eigentlich noch diese 12 Jahre Dschungelleben von 5 bis 17 noch in Ihnen drin?
Kuegler: Ich glaub', sehr stark, sehr sehr stark, bis ich das Buch geschrieben hab'. Und ich merk', es ist noch da, aber nicht mehr so schlimm, wie es war. Also ich hab' ja Jahre, wirklich jahrelang, wahnsinnig darunter gelitten.
Frank: Also das heißt, das Buch "Dschungelkind" von Ihnen ist 'ne Aufarbeitung Ihrer eigenen Geschichte, und zwar Aufarbeitung im Sinn einer psychologischen Aufarbeitung, eines Findungsprozesses?
Kuegler: Ja, ja, und interessanterweise fühl' ich mich jetzt mehr deutsch als jemals zuvor, seit ich das Buch geschrieben hab', seit ich eigentlich zum ersten Mal richtig Kontakt mit Deutschen gehabt habe." (1)

Daß Sabine Kuegler ihre Integration ausgerechnet als "Dschungelkind" gelingt, nachdem ihre Versuche als "gewöhnliche" Ehefrau und Mutter mehr oder weniger fehlschlugen, ist durchaus charakteristisch für unsere Gesellschaft. Ein Mensch, der in Schwierigkeiten steckt, und mehr noch ein Mensch, der aufgrund seiner früheren Lebensweise andere fast zwangsläufig mit unbequemen Fragen konfrontiert, wird in Deutschland nicht gerade mit Zuwendung überschüttet. Sobald es diesem Menschen jedoch gelingt, aus eben diesen Schwierigkeiten ein veräußerbares Produkt herzustellen, eine käufliche Ware, bei der die Distanz des Kunden zum Objekt der Neugierde gewährleistet bleibt, gibt es Interessebekundungen noch und noch - wenn auch nur für relativ kurze Zeit.

Für Sabine Kuegler hat die Entscheidung, mit ihrem Lebensdilemma an die Öffentlichkeit zu treten, offensichtlich ihren Zweck erfüllt. In der Danksagung ihres Buches schreibt sie:

Zuallererst möchte ich mich bei meiner Geschäftspartnerin Britta Marks bedanken, die mich überredet hat, dieses Buch zu schreiben, mich dabei unterstützte und mir den Stolz auf meine Kindheit zurückgab. (2)

Das ist, ohne jede Ironie, überaus erfreulich. Ebenso erfreulich ist, daß sie mit ihrer Biographie vielen den (Hör)buchdschungel durchstreifenden Lausch- oder Lesehungrigen reichhaltige Nahrung geboten hat. Daß Sabine Kueglers wiedergewonnener Stolz auf ihre Kindheit sich eher auf die Kindheit im Sinne eines interessanten Erfahrungsschatzes bezieht und nicht auf ihre Kindheit als Quelle bohrender, immer neu entstehender Fragen, ist naheliegend. Doch gerade dieser letzte Aspekt ist für manch einen von unschätzbarem Wert, der die moderne Zivilisation nicht als das Nonplusultra der menschlichen Entwicklung ansieht.

Wer Interesse daran hat, gerade in vermeintlich rückständigen Kulturen nach menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten zu forschen, die uns im Verlauf unserer eigenen Gesellschaftsgeschichte verloren gegangen sind, findet in Sabine Kueglers Biographie manchen wertvollen Hinweis. Was die Inspiration zu gesellschaftskritischen, unbequemen, beunruhigenden Fragen angeht, ist Sabine Kueglers Lebensgeschichte ebenfalls wunderbar ergiebig. In diesem besonders wichtigen Punkt unterscheidet sich ihre Biographie auch grundlegend von vergleichbaren Veröffentlichungen, beispielsweise "Das Land der Töchter" von der chinesischen Popsängerin Yang Erche Namu***, die von ihrer Kindheit als Angehörige der Moso berichtet, einem kleinen, matrilinear organisierten Bergvolk, das weitgehend isoliert im Südwesten Chinas lebt. Während Sabine Kuegler (ohne populärwissenschaftlichen Überbau und trotz sprachlicher Überarbeitung klar vernehmlich) das Kind von damals erzählen läßt, reichert Yang Erche Namu lediglich eine Vielzahl von Legenden, folkloristischer Beschreibungen und ewig gleicher Ethno- Klischees mit ihren Erinnerungsfragmenten an. Das ist sicher nicht zuletzt "Verdienst" ihrer Co-Autorin, der Anthropologie-Professorin Christine Matthieu. Während Sabine Kueglers sehr persönliche und klischeefreie Beschreibung ihres Lebens als "Dschungelkind" unmittelbar zum Nachdenken über die eigene Lebensweise anregt, wird der Platz für solche Gedanken beim "Land der Töchter" von vornherein durch das vorgefertigte Ethno-Raster besetzt.

Viele der von Sabine Kuegler beschriebenen Lebenszusammenhänge der Fayu machen grundlegende Unterschiede zu unserer Lebensweise und -einstellung deutlich. Daher seien abschließend, in einem kurzen Exkurs, zwei Beispiele herausgegriffen, um einen Eindruck von der Ergiebigkeit des vorliegenden Werkes in Hinsicht auf Fragen zu unserer eigenen Zivilisationsgeschichte zu vermitteln:

1. Laut Sabine Kuegler verbringen die Fayu sehr viel Zeit miteinander. Sie sitzen zusammen, erzählen sich Geschichten oder schauen einfach den Wolken nach. Dies wäre aus der hierzulande üblichen Sicht unproduktive, verschwendete Zeit. Sabine Kuegler beschreibt als eines der auffälligsten Merkmale unserer westlichen Zivilisation den beständig vorherrschenden Druck, keine Zeit zu haben. Wie ist ein solch extremer, permanenter Druck mit dem einer hochentwickelten Technologie immanenten Versprechen vereinbar, sich mittels Maschinen das Leben zu erleichtern und mehr Zeit für die eigenen Interessen zu gewinnen?

2. Wie die Autorin berichtet, sind die Stammesmitglieder der Fayu ihr Leben lang aufs engste miteinander verbunden. Dennoch (oder gerade deswegen?) taucht bei ihnen das Phänomen der spezifischen "Liebesbeziehung" zwischen Mann und Frau als Höhepunkt des Erwachsenenlebens nicht auf. Könnte die bei uns zur Idealform menschlicher Kontaktnahme hochstilisierte Zweierbeziehung eventuell gar den Versuch darstellen, den Verlust einer Verbundenheit zu kompensieren, an die wir uns inzwischen nicht einmal mehr erinnern können?

Soweit der kurze Ausflug ins Land der offenen Fragen, der bereits belegt, was noch zu sagen bleibt: Die vorlesetechnischen Mängel der Hörbuch-Version des "Dschungelkind" sind Sabine Kuegler ohne weiteres nachzusehen, hat sie doch Zuhörer und Leser, vielleicht ungewollt, mit etwas beschenkt, das im westlichen Kulturkreis viel zu selten geworden ist: mit einer wunderbaren Gelegenheit, am Nutzen, am Wert und an der Notwendigkeit unserer hochzivilisierten Lebensweise grundsätzlich zu zweifeln.

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(1) Originalzitat, NDR info, Der Talk, 21.05 Uhr, 18.07.05

(2) "Dschungelkind". Sabine Kuegler. Droemer Verlag, München 2005 Seite 345

Yang Erche Namu/Christine Mathieu
"Das Land der Töchter. Eine Kindheit bei den Moso, wo die Welt den
Frauen gehört."
Ullstein Verlag, München 2003
ISBN 3-550-07578-2

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Sabine Kuegler
Dschungelkind
Erzählt von Sabine Kuegler
3 CDs, Gesamtlaufzeit ca. 220 Min.
Deutsche Grammophon Literatur
Euro 21,-
06024 9869575 (3) ISBN 3-8291-1525-3