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REZENSION/024: Günter Merlau - Die Märchen der Gebrüder Grimm (SB)


Die Märchen der Gebrüder Grimm
Sie sind hier, sie warten nur ... von Hexen, sprechenden Tieren, Feen und Zwergen, dem Teufel und Gevatter Tod




Topmodern und aufgeklärt kennt kaum einer mehr die "Anderen", die Zwerge und Feen, Waldgeister und Gnome, die mit ihm sprechen würden und von denen er lernen könnte. Sie befreien die Gedanken, wenn man sich mit ihnen befaßt, sind aber heute bestenfalls noch in die Träume verbannt - oder, gut geschützt, im Märchen vorhanden. Als hätte die Vernunft den Geist gereinigt von Zaubergesängen und Dingen, die vor langen Zeiten die Herzen bewegten. Sie sind aus dem alltäglichen Leben und der Wahrnehmung der Menschen verschwunden, denn sie sind mit keiner Analyse und keinem Argument erklärbar oder herzuleiten. Aber sie sind da, das heißt in unserer kulturellen Tradition vorhanden, und unbedingt schützenswert, denn sie beleben die Phantasie und den Ideenreichtum, machen Mut und öffnen die Sinne zur Erforschung der Welt. Zudem blenden sie auch die elementarsten Probleme nicht aus wie Armut, Hunger, Tod, Schwäche, Gewalt, Gut und Böse, Trauer und Glück und führen verläßlich zu einem guten Ende:

Im gefährlichen Wald lebte ein Holzfäller.

"Was soll aus uns werden? Wie können wir unsere armen Kinder ernähren, da wir für uns selbst nichts mehr haben?" - "Weißt du was, Mann," antwortete die Frau, "wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dicksten ist. Da machen wir ihnen ein Feuer an und geben jedem noch ein Stückchen Brot, dann gehen wir an unsere Arbeit und lassen sie allein. Sie finden den Weg nicht wieder nach Haus, und wir sind sie los."
(Hänsel und Gretel, Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm, Nr. 015)

Das ist eigentlich ziemlich "krass", aber die Kinder lassen sich so schnell weder täuschen noch von der Zauberkunst einer Hexe irritieren und helfen sich gegenseitig, jeder auf seine Art, mit großem Einfallsreichtum beherzt aus der Klemme. Wenn das keinen Mut macht ...

Daß Märchen gerade wieder "in" sind und sich gut in den Trend einpassen, daß andere Inhalte als Phantasiewelten unter Kindern und Jugendlichen kaum noch akzeptiert werden, hat Günter Merlau auf weitreichende und schlaue Weise genutzt, indem er den hohen kulturellen Wert der Märchen fördern und erhalten will:

"Wichtig war mir, die Märchen möglichst nahe am Original zu belassen und die Bücher entsprechend wenig umzuschreiben", so Günter Merlau.
(http://www.rautemedia.de)

Zum 200. Jubiläumsjahr der Brüder Grimm veröffentlicht der Verlag "Raute Media" in Zusammenarbeit mit "Lausch - Phantastische Hörspiele" auf vier CDs ihre beliebtsten Märchen.

Unter der Regie von Erfolgs-Hörspiel-Produzent Günter Merlau entstanden die Märchen im Hamburger Studio von LAUSCH. Für die Neuauflage hat Merlau auch einige Hörspiel-Legenden ins Boot geholt - Reinhilt Schneider, Konrad Halver und Klaus Dittmann geben für Grimms Märchen Erzähler, Könige und Hexen. Die drei Schauspieler haben bereits in den 70er und 80er Jahren in Hörspielen von Europa und anderen Label mitgewirkt. Neben Ihnen spielen noch Merete Brettschneider, Martin Wolf und viele andere.
(http://www.rautemedia.de)

Die Sprechstimmen sind auf die für "Lausch" bewährte Weise professionell gewählt, so daß sie den Hörer, ob Jung oder Alt, zurück in eine alte Zeit führen, in der die Berührung mit rätselhaften Begebenheiten wieder Raum gewinnt.

Die kleinen Märchen-Hörspiele sind ein jedes für sich ausgesprochen lebendig und abwechslungsreich gestaltet. Zunächst erklingt für jedes eine Eingangsmelodie mit hohem Erkennungswert, die sich nicht in einer mehr oder weniger passenden Tonfolge zur Markierung von Anfang und Ende einer neuen Geschichte erschöpft. Das merkt man spätestens dann, wenn man eines der Märchen zum zweiten Mal gehört hat und sich ganz unwillkürlich beim Summen einer Melodie überrascht. Und weil diese auch ein wenig mittelalterlich klingen, stimmen sie auf eine Welt, wie sie vielleicht einmal war, und auf dahinterliegende Geheimnisse und Schrecken ein, von denen man vielleicht nur zu erzählen wagt. Die Melodie führt dann sachte weiter, tritt mal mehr, mal weniger hervor und verstummt manchmal ganz, um dann wieder aufzuleben oder als dramatischer Rhythmus einen Höhepunkt der Handlung zu begleiten. Die unterlegten Geräusche gestalten liebevoll das Geschehen mit. Nie wirken sie platt dazugemischt. Ganz sacht ist der eisige Wind zu ahnen, als sich der Schnee auf das Grab von Aschenputtels Mutter legt; das Pferd im Galopp wird von dem Klirren der Tonscherben in König Drosselbart begleitet...

Ähnlich versiert sind Erzählerin und Erzähler - Reinhilt Schneider und Konrad Halver - eingesetzt. Sie sind nicht einfach Schauspieler, die einen Text wohlgeschult vortragen können oder ein Märchen vorlesen, damit die Kinder besser einschlafen. Nein, man kann sich zurücklehnen und wird flugs in Gefilde geführt, die man als Erwachsener bereits zu kennen meinte, die man nun aber neu - wie ein Kind, das zum ersten Mal zuhört - mitgerissen durchlebt. Während der Erzähler zurücktritt und mehr dem Fortlauf der Geschichte und den Spielszenen das Feld überläßt, begleitet die Erzählerin das Geschehen nicht nur, sondern scheint es mitzuerleben, ohne sich allerdings in den Vordergrund zu drängen. Das Märchen entwickelt sich vor des Zuhörers Augen und Ohren, plötzlich scheint sogar das Ende ungewiß. Erzählerin respektive Erzähler gehören hier nicht weniger zur Geschichte als die handelnden Personen und ihr Geschick. So hat man es bei einem zunächst als so einfach empfundenen Stoff wie bei einem Märchen unversehens mit mehreren Ebenen zu tun. Zum Erzähler und dem von ihm erzählten Rahmen wie dem Fortlauf der Handlung kommen die dramaturgisch wohlgesetzten Spielszenen hinzu, die zumeist - aber nicht immer - der wörtlichen Rede in der Vorlage entsprechen. Fast erschrickt man, als sich bei Frau Holle die Stimme des Brotes aus dem Backofen erhebt. Man weiß nicht genau, was das eigentlich Spannendste ist, das es mitzuteilen hat: Daß Brot selbstverständlich sprechen kann? Daß es ein Anliegen hat? Oder ist es die Bitte, die es vorbringt?

Und während sich die ganze traurige, spannende, erschreckende oder bis ins Mark bedrohliche Geschichte entfaltet, gibt es zumindest den Erzähler oder die Erzählerin, an denen man sich noch festhalten kann. Sie verbinden mit der eigenen Welt und sind wie der vertraute Schürzenzipfel der Großmutter, nach dem man unwillkürlich greift, oder die Tischkante, die man umklammert hält, während das Grauen oder die Boshaftigkeit grausamer Stiefmütter aus den Lautsprechern schallt. Sie sind zum einen die Rückversicherung zur vertrauten Welt, die Garantie, daß es vielleicht noch ein gutes Ende geben wird, und zum anderen das Tor zu einer Region, das man als Kind und vielleicht doch auch als Erwachsener gar zu gerne aufstoßen würde.

Auch schon die Covergestaltung unterstützt die Einführung in eine andere Welt: Daß es sich um Märchen handelt, sieht man sofort. Die Bilder bestechen durch ihre leichte Strichführung und klare Farbgebung, die weniger Mühe vermuten lassen, als sicherlich in ihnen steckt. Sie erinnern an klassische Vorlagen und zeigen die ganz typischen, charakteristischen Szenen: Schneewittchen mit den sieben Zwergen, von denen jeder ein anderes Gesicht macht; Frau Holle mit ihrem dicken Bettzeug im Fenster; die Bremer Stadtmusikanten, die sogar Räuber bis in Mark und Bein erschrecken; Aschenputtel mit den hilfreichen Tauben.

Es bleibt noch, diese vier CDs unbedingt zu empfehlen. Sie bestätigen, daß Hörspiele eine literarische Form sein können und nicht nur ins Kinderprogramm oder in die Unterhaltungssparte von Science Fiction und Krimis gehören. Wilhelm Karl Grimm (1786 - 1863) und Jakob Ludwig Carl Grimm (1785 - 1863), die engagierten Herausgeber der "Kinder- und Hausmärchen", würden sich sicher in ihrem Anliegen und in ihrer Arbeit bestätigt sehen. - Und so leben sie noch heute.


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Produktion von Lausch, Phantastische Hörspiele
Die Märchen der Gebrüder Grimm
erschienen am 23.09.2011
Regie/Drehbuch-Autor/Bearbeier: Günter Merlau
Produktionsassistenz: Janet Sunjic
Illustration: Birgit Busche-Brandt

9 Hörspiele auf 4 CDs:
Schneewittchen, 34 Min.
Hans im Glück, 16 Min.
EAN 4260209720338

Aschenputtel, 24 Min.
Hänsel und Gretel, 30 Min.
EAN 4260209720314

Die Bremer Stadtmusikanten, 12 Min.
Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen, 34 Min.
EAN 4260209720291

Frau Holle, 14 Min.
Dornröschen, 15 Min.
König Drosselbart, 19 Min.
EAN 4260209720307

Sprecher: Reinhilt Schneider, Konrad Halver, Klaus Dittmann, Merete Brettschneider, Martin Wolf, Günter Merlau, Katja Brügger, Dorothea Hagena u.a.


27. September 2011