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REZENSION/002: Jürgen von Stackelberg - Französische Lyrik (Französisch/Deutsch) (SB)


Jürgen von Stackelberg, Hg.


Französische Lyrik

50 Gedichte



Eine Lyrik-Anthologie in drei Bänden

Französisch - Deutsch
Italienisch - Deutsch
Spanisch - Deutsch


Von der Übersetzung zur Übertragung und zurück

Bei dem hier behandelten Band handelt es sich um eine zweisprachige Anthologie von 50 französischen Gedichten, die der Herausgeber Jürgen von Stackelberg eigens für diesen Zweck neu übersetzt hat. In seiner Vorbemerkung legt er neben einigen Anmerkungen zur Auswahl ausführlich seine Gründe für die reimlose Übertragung dar, mit denen wir uns hier im wesentlichen befassen möchten. Grundsätzlich sei dazu noch angemerkt, daß, so vielfältig die Motive sein mögen, sich mit fremdsprachiger Lyrik zu beschäftigen, so unterschiedlich auch der Umgang mit ihr ausfällt. Eine Übersetzung ist in jedem Fall, hilf- oder im weitesten Sinne aufschlußreich für den Leser.

Raute

Natürlich klingen gereimte Übersetzungen schöner, doch es führt kein Weg daran vorbei: wer reimt, fügt hinzu! Er kann sich nie und nimmer so exakt an die Vorlage halten, wie man das in Prosa kann."
(S. 11, Vorbemerkung)

Nein, ganz einfach nein. Da ist der Rezensent aber ganz anderer Meinung: Ein Gedicht kann man nicht durch eine rein inhaltliche Übersetzung erfassen. Inhalt und Form sind eng verwoben, das eine ohne das andere unvollständig - ein Gedicht entspricht nicht einem leicht rhythmisierten, in Zeilen gefaßten Prosatext. Ohne den Reim wäre das Gedicht im Französischen nie so entstanden, wie es uns jetzt vorliegt, die Prosaübersetzung beraubt das Gedicht eines bedeutenden Teils. Sicher, eine Übertragung in eine andere Sprache, eine andere Geschichte und Kultur im Grunde, kann immer nur eine Annäherung sein, doch wäre diese doch so akribisch wie möglich zu betreiben. Ohne den Reim wird man auch nie die Mühe mit erfassen können, die sich der Dichter gemacht hat, das, was er zu sagen wünscht, in eine verdichtete, ansprechende, ausdrucksstarke Form zu bringen. Er hat um die Worte, den Inhalt, die Form und damit gerade um den Reim gerungen - es sei denn dieser fehlt sowieso.

Man kann die Reimform nicht nur als eine im Grunde zu vernachlässigende Zeiterscheinung sehen. Neben Elementen wie Silbenzahl, Zeilenanordnung und Sprachrhythmus stellt sie die Anforderung an den Dichtenden, unter zugespitzten Bedingungen präzise zu fassen, was er sagen will. Es sei denn, er wünscht lediglich mit verfeinerten Worten und schönem Klang zu glänzen. Davon gehen wir hier jetzt zunächst einmal nicht aus. Die Gedichtform an sich stellt eine erhöhte Herausforderung an die Sprachfähigkeit des Dichtenden dar - gewissermaßen einen Maßstab -, und damit verbunden natürlich an die des Übersetzenden, der sich unter Umständen der Frage gegenübersieht, ob er denn die eigene Sprache genügend beherrscht, um die gewünschte Übertragung leisten zu können.

Es führt, noch einmal kurz gesagt, das enge Bedingungsgefüge, das die Form darstellt, unter Umständen zu Kompromissen und Aussagen, die an dem vorbeigehen, was ursprünglich ins Visier genommen wurde; manches Gedicht machen sie so neben den Irrungen und Wirrungen des Dichters auf diesem Wege einfach unverständlich. Auch das gilt es als Gesamtkonstruktion mit zu berücksichtigen. Dichtung kann ganz stark eine Stimmung wiedergeben, die dann nicht fehlen darf. Im Grunde gilt es, sich in die Lage des Dichters hineinzuversetzen, in seine Situation, in das, was er sagen wollte, in das, woran auch er möglicherweise gescheitert ist und kann damit selbst scheitern. Der Übersetzer gibt immer nur wieder, was er versteht und was seinem persönlichen Stand entspricht. Auch ohne Reim haftet der Übersetzung durch die Interpretation ein gewisses Maß an Beliebigkeit an.

Daß aus Reimübersetzungen ein Eigenprodukt entsteht, also eines, das mit dem Original, wenn es weit kommt, nur noch in Teilen zu tun hat, hängt eher am Selbstverständnis des Übersetzers, respektive Dichters. Die Frage lautet so manches Mal nicht Reim oder nicht, sondern hängt möglicherweise an einer mangelnden Kenntnis der deutschen Sprache, die der Übersetzer nicht gezielt einzusetzen und zu entwickeln vermag. Auch ein im Original reimloses Gedicht wird sich in diesen Fällen in der Übersetzung erheblich vom ursprünglichen unterscheiden. So wie beispielsweise aus einem geschundenen Herzen ein gestohlenes wird wie im Titel der Übertragung von Thomas Eichhorn von Arthur Rimbauds "Le Coeur supplicié":


Das gestohlene Herz

Am Heck mein trübes Herz muß speien,
Mein Herz mit Knaster zugedeckt:
Dort schmeißen sie mit ihren Breien,
Am Heck mein trübes Herz muß speien:
Dieweil sie vor Gelächter schreien
Und jede Zote ihnen schmeckt,
Am Heck mein trübes Herz muß speien,
Mein Herz mit Knaster zugedeckt!

Soldatenzoten, Phallusschlangen
Erfüllten mir das Herz mit Dreck!
Am Steuer sieht man Fresken prangen,
Soldatenzoten, Phallusschlangen.
Hört, Zauberfluten, mein Verlangen,
Nehmt meines Herzens Schmutz hinweg!
Soldatenzoten, Phallusschlangen
Erfüllten mir das Herz mit Dreck!

Wenn sie den Priem zum Schluß zerkauen,
Was dann, o Herz, das man mir stahl?
Bacchantisch werden sie verdauen,
Wenn sie den Priem zum Schluß zerkauen;
Mein Magen wird sich krampfen, grauen,
Mein Herz erniedrigt und voll Qual:
Wenn sie den Priem zum Schluß zerkauen,
Was dann, o Herz, das man mir stahl?

(zitiert nach "Das Trunkene Schiff" - Jens Harzer liest Gedichte von Arthur Rimbaud, NOA NOA Hör-Buchedition)


Le Coeur supplicié

Mon triste coeur bave à la poupe ...
Mon coeur est plein de caporal!
Ils y lancent des jets de soupe,
Mon triste coeur bave à la poupe ...
Sous les quolibets de la troupe
Qui pousse un rire général,
Mon triste coeur bave à la poupe,
Mon coeur est plein de caporal!

Ihtyphalliques et pioupiesques
Leurs insultes l'ont dépravé;
A la vesprée, il font des fresques
Ithyphalliques et pioupiesques,
O flot abracadabrantesques,
Prenez mon coeur, qu'il soit sauvé!
Ithyphalliques et pioupiesques
Leurs insultes l'ont dépravé!

Quand ils auront tari leurs chiques,
Comment agir, ô coeur volé?
Ce seront des refrains bacchiques
Quand ils auront tari leurs chiques,
J'aurai des sursauts stomatiques
Si mon coeur triste est ravalé!
Quand ils auront tari leurs chiques,
Comment agir, ô coeur volé?

(S. 112)


Das geschundene Herz

Mein tristes Herz sabbert aufs Heck ...,
mein Herz voll billigen Knasters.
Sie schwappen Suppenreste darüber,
mein tristes Herz sabbert aufs Heck ...
Unterm Spottgerede der Bande,
das allgemein Lachen erregt,
sabbert mein tristes Herz auf das Heck,
mein Herz voll billigen Knasters!

Ithyphallisch und landsermäßig
hat ihre Beschimpfung es vermiest;
abends hauen sie dann auf den Putz,
ithyphallisch und landsermäßig.
Oh ihr abracadabresken Fluten,
nehmt mein Herz, es sei errettet!
Ithyphallisch und landsermäßig,
hat es ihre Beschimpfung vermiest.

Sind ihre Pfrieme ausgelutscht,
wie soll ich handeln, oh gestohlenes Herz?
Es gibt wieder Bacchanten-Gegröle,
sind ihre Pfrieme ausgelutscht!
Mir stößt's aus dem Magen auf,
mein tristes Herz ist vermiest!
Sind ihre Pfrieme ausgelutscht,
wie soll ich handeln, oh gestohlenes Herz?

(S. 113)


Das gepeinigte Herz

Mein trauriges Herz sabbert aufs Heck ...
Mein Herz ist randvoll mit Knaster!
Sie kippen Suppe darüber weg,
Mein trauriges Herz sabbert aufs Heck ...
Unterm Spott der Mannschaft hier an Deck,
Dem Gelächter voller Laster,
Sabbert mein trauriges Herz aufs Heck;
Mein Herz ist randvoll mit Knaster!

Ithyphallisch und soldatenrauh
Hat ihr Gespött es krank gemacht;
Jeden Abend machen sie Radau,
Ithyphallisch und soldatenrauh,
Oh, du wundersame Meeresau,
Nimm mein Herz fort aus dieser Nacht!
Ithyphallisch und soldatenrauh
Hat ihr Gespött es krank gemacht!

Sind erst ihre Prieme ausgekaut,
Was tun, oh gestohlenes Herz?
Dann werden wieder Sauflieder laut,
Sind erst ihre Prieme ausgekaut:
Daß der Magen sich in Krämpfen staut,
Taucht man mein schweres Herz in Schmerz!
Sind erst ihre Prieme ausgekaut,
Was tun, oh gestohlenes Herz?

(Übertragung MA-Verlag)


Die Unterschiede der Übertragungen sind deutlich und, vergleicht man sie mit der französischen Vorlage, teils inhaltlichen und teils formalen Kompromissen geschuldet. Ein paar kurze Anmerkungen an dieser Stelle sollen ausreichen, um das Problem zu beleuchten. Der interessierte Leser mag sich dann mit Hilfe der Anthologie ein eigenes Bild verschaffen:
Die erste Variante von Thomas Eichhorn, mit Triolett-Reim, Silbengleichheit der Reimzeilen und stimmigem Rhythmus (entspricht im wesentlichen Rimbaud, wobei man im Französischen Aussprachevarianzen in Anspruch nehmen kann, die es im Deutschen so nicht gibt), greift doch etwas aus ("am Steuer sieht man Fresken prangen"). Die zweite, von Jürgen von Stackelberg, hat ihre rhythmischen Stolpersteine (mal laut lesen) und auch inhaltlich fragliche Stellen. Die dritte, MA-Verlag, Triolett-Reim und Silbengleichheit der sich reimenden Zeilen, allerdings ohne Angleichung des Zeilenrhythmus, hat inhaltliche Schwächen. Deutlich wird das an einer Anspielung, einem französischen Wortspiel wie mit dem Verb "ravaler", das Bedeutung und Zusammenhang nach sowohl als "bewerfen", "verächtlich machen" und als "verschlucken" verstanden werden kann. Es bietet also breiten Interpretationsraum und im Deutschen das Problem, daß diese drei Anklänge nicht mit einem einzigen deutschen Wort zu fassen sind.

Ein gutes Beispiel dafür, warum wir hier von Annäherungswerten sprechen. Die Worte müssen, sind sie streng wörtlich übersetzt, nicht treffen, und es gilt dann andere zu finden. Es geht um das Gesamtprodukt und die hohen Anforderungen, die ein Gedicht mit seinen strengen Gesetzen stellt. Was im Französischen einen strengen Rhythmus verlangt, muß im Deutschen seine Entsprechung nicht unbedingt auf die gleiche Weise finden. Vieles ist genausowenig direkt übertragbar wie ein Idiom. Natürlich muß es nicht der gleiche Reim sein, wenn man in der Übertragung reimt, wie der Herausgeber meint. In der Folge hieße das nämlich, daß auch der Satzbau der gleiche, jedes Wort in der gleichen Folge und die Betonung dazu gleich sein müßte, man es also gleich besser im Französischen läßt. Gut, dem folge ich gern. Da es nun aber gerade um die Übertragung ins Deutsche, besonders für jene geht, die des Französischen nicht mächtig sind, sollte man dem Leser den größtmöglichen Annäherungswert an das Original aus seiner, der deutschen Sicht bieten.

Das folgende Gedicht von Victor Hugo ist ein gutes Beispiel für eine Situation und Gefühlslage, die das Französische recht dringlich zu fassen vermag. Hugo schildert, wie es ihm in den Sinn kommen mag, in kurzen, unprätentiösen, nicht verschönerten, sondern bildhaften Sätzen und dabei noch - in weitem Sinne - mit gleichbleibender Silbenzahl.

Demain, dès l'aube, à l'heure où blanchit la campagne,
Je partirai. Vois-tu, je sais que tu m'attends.
J'irai par la forêt, j'irai par la montagne,
Je ne puis demeurer loin de toi plus longtemps.

Je marcherai les yeux fixés sur mes pensées,
Sans rien voir au dehors, sans entendre aucun bruit,
Seul, inconnu, le dos courbé, les mains croisées,
Triste, et le jour pour moi sera comme la nuit.

Je ne regarderai ni l'or du soir qui tombe,
Ni les voiles au loin descendant vers Harfleur,
Et quand j'arriverai, je mettrai sur ta tombe
Un bouquet de houx vert et de bruyère en fleur.

Les Contemplations

(S. 78)


Morgen früh, wenn der Tag anbricht über den Feldern,
breche ich auf. Siehst du, ich weiß, dass du auf mich wartest.
Ich will durch den Wald, ich will über den Berg gehen,
ich kann nicht länger fern von dir sein.

Den Blick auf meine Gedanken gerichtet, will ich gehen,
ohne draußen etwas zu sehen, ohne irgendetwas zu hören,
allein, unerkannt, die Hände auf dem gebeugten Rücken verschränkt
und traurig. Der Tag wird Nacht für mich sein.

Ich werde das Gold des Abends, das herabsinkt,
nicht sehen, nicht die Segel, die heimkehren
nach Harfleur, und bin ich da, so lege ich einen Strauß
grüne Stechpalmen und blühendes Heidekraut auf dein Grab.

(S. 79)


Morgen bei Sonnenaufgang breche ich auf, erhellt der Tag die Felder.
Siehst du, ich weiß, du wartest mein.
Ich werde über die Berge gehen, und ich gehe durch die Wälder.
Ich kann nicht mehr fern von dir sein.

Ich werde gehen und die Augen auf meine Gedanken wenden,
nichts draußen sehen, ohne ein Geräusch in Acht,
allein, unbekannt, den Rücken gekrümmt und mit verschränkten Händen,
traurig, und der Tag wird sein für mich wie die Nacht.

Ich werde nicht das Gold des Abends betrachten, senkt es sich herab,
und auch nicht die Segel, die sich in der Ferne flußab wieder
nach Harfleur begeben. Und wenn ich da bin, lege ich auf dein Grab
einen Strauß grüner Stechpalme und blühender Heide nieder.

Betrachtungen

(Übertragung MA-Verlag)

Raute

Versteht man die Vorlage dieser Anthologie als einen Gesprächsbeitrag, kein endgültiges Ergebnis, sondern einen Zwischenstand, den man dann auch wieder überwindet, läßt sich die Anthologie ausgesprochen gewinnbringend einsetzen. Diese Sicht reduziert natürlich zunächst den Kreis der Interessierten. Welcher Leser akzeptiert schon, daß ein Übersetzer sagt: Das hier ist unvollkommen, es könnte so oder auch so sein. Doch wer auf ein schnelles und schnell plausibles Ergebnis abzielt, ist damit auch bedient, denn diese Art der Übersetzung läßt sich natürlich auch schnell konsumieren und abnicken. Wer lediglich für das Verständnis des Französischen die eine oder andere Hilfe benötigt, mag sehr zufrieden sein, sich nicht von beigefügten Schnörkeln und Abwegen verwirren lassen zu müssen und sich im wesentlichen dem Original zuwenden. Für die Schule ist dieses Produkt, zumal sich bei weiterem Interesse eine ganze Menge problematisieren läßt, gut geeignet und bietet günstig und kompakt einen schönen Überblick.
Und nicht zu vergessen, liegt eine solche Auswahl des Herausgebers auch für italienische (UB 18310) und für spanische Lyrik (UB 18311) vor.

Raute

Noch eine Anmerkung zum Schluß: Interessant für eine Anthologie wäre es gewesen, im Vorwort oder Nachwort zu erfahren, was das spezifisch Französische - abgesehen von der französischen Sprache und den strengeren Anforderungen an die Form - an den ausgewählten Gedichten ist. Sicher sprengt ein solches Ansinnen - vertieft in Angriff genommen - den Umfang des schmalen Bandes und Vorhabens, doch wäre dies auf längere Sicht ein lohnendes, wenn auch mühevolles Projekt. Man könnte dabei, im Gegensatz zur bescheidenen Wortübertragung, auf ganz andere Sicht- und Herangehensweisen, Lebens- und Sozialkonzepte stoßen, die im Gedicht auf engen Raum gebracht zu ergründen wären.

Aber machen wir uns nichts vor: Der Personenkreis, an den sich eine solche Anthologie ausgerechnet auch noch französischer Gedichte richten kann, ist denkbar klein; er umfaßt so etwa den Französisch-Leistungskurs der Gymnasien, vielleicht noch einen hochangelegten Volkshochschulkurs und den einen oder anderen sonstigen Interessierten. Die wenigsten dieses interessierten Kreises werden sich mit Fragen beschäftigen, wie sie hier in zwei Beispielen angedeutet wurden. Trotzdem ist jede dazu gebotene Möglichkeit nicht genug zu schätzen, denn gerade die Auseinandersetzung mit Gedichten kann ein wichtiges Element für die sprachliche Bildung in der Mutter- so wie in der Fremdsprache sein, die zunehmend fehlt.


23. Mai 2005


Französische Lyrik
50 Gedichte
Französisch/Deutsch
Übersetzt und herausgegeben von
Jürgen von Stackelberg
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2004
Universal-Bibliothek UB 18309
160 Seiten, 3,80 Euro
ISBN 3-15-018309-X