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REZENSION/004: Yves Bonnefoy - Die gebogenen Planken (Französisch/Deutsch) (SB)


Yves Bonnefoy


Die gebogenen Planken

Gedichte. Französisch - Deutsch



"Poesie ist die Erfahrung dessen, was die Wörter überschreitet", hat Yves Bonnefoy einmal in einer berühmt gewordenen Wendung gesagt. Damit ist das Flüchtige, schwer Faßbare umrissen, das dieser Lyrik eignet - denn damit wird die Lyrik in ein unauflösliches Spannungsverhältnis zu sich selbst gebracht. Bonnefoys Lyrik wurde eine Schule des Sehens genannt, konzentriert auf die einfachen Dinge, die kostbare Momente reiner Präsenz hervorbringt. (Klappentext)


Wenn Bedeutungen flüchten ...
... hat der Leser wenig Chancen.

Das vorliegende Werk ist der dritte Band mit Lyrik des französischen Dichters Yves Bonnefoy, den Klett-Cotta als zweisprachige Ausgabe herausgibt. Das Buch kommt sympathisch daher: Es ist übersichtlich, handfest und stabil gestaltet. Das plakative Titelbild paßt zur einfachen Sprache Bonnefoys. Die reimlosen Gedichte sind auch für den Französischlernenden, der sich noch nicht so fit fühlt, von den Worten und vom Satzbau her gut zu erfassen. Problematischer ist der Inhalt. Es handelt sich hier um eine Mischung bekannter und vorstellbarer Bilder und Szenen mit Erinnerungen und Assoziationen des Autoren, die dem Leser Rätsel aufgeben, wenn er Höheres vermutet, oder die Gefahr laufen, ihn zu langweilen, wenn er versucht, dem Dichter nahezukommen und zu verstehen, was er sagen will.


Les rainettes, le soir

II

Ils s'attardaient, le soir,
Sur la terrasse
D'où partaient les chemins, de sable clair,
Du ciel sans nombre.

Et si nue devant eux
Était l'étoile,
Si proche était ce sein
Du besoin des lèvres,

Q'ils se persuadaient
Que mourir est simple,
Branche écartée pour l'or
De la figure mûre.


(S. 10)


Die Laubfrösche, abends

II

Spät noch verweilten sie, abends,
auf der Terrasse,
wo, hellen Sandes, zahllos
himmlische Wege sich verteilten.

Und so nackt vor ihnen
war das Gestirn,
so nah war diese Brust
dem Bedürfnis der Lippen,

daß Sterben ihnen
ein Leichtes schien,
ein Zweig, beiseitegeschoben
um des Goldes der reifen Feige willen.

(S. 11)


Bonnefoy präsentiert ein Ergebnis privater Reflexionen und realisiert nicht, daß der Leser, an den er sich mit der Veröffentlichung seines Werks wendet, dieses, auch wenn er sich bemüht, nicht wirklich nachvollziehen kann. So bleiben die Worte leer und das Bezweckte ungesagt. Der Leser bleibt sich selbst überlassen. Die "Erfahrung dessen, was die Wörter überschreitet", die der Klappentext nahelegt, bleibt für ihn ungreifbar und zeigt sich bei allem Ringen des Dichters um Begriffe, Bilder, (Traum-)Sequenzen, Wahrnehmungen und Zusammenhänge als unbewiesener und unrealistischer Anspruch. Das "Flüchtige, schwer Faßbare ..., das dieser Lyrik eignet" stellt sich bei genauerem Hinsehen als ein Problem des Dichters dar, der weder in der Lage zu sein scheint, noch offensichtlich einen Grund dafür sieht, eine komprimierte, deutliche Vorstellung der Inhalte zu vermitteln, die eigentlich die Substanz seiner Gedichte sein sollten. Am Klappentext läßt sich wunderbar ablesen, welche Übereinkunft Dichter, Verlag, Übersetzer und im Zweifelsfall der Leser treffen und wie sie diese Art der Dichtung erfolgreich werden lassen: Es erscheint als das Besondere, das sich nur dem besonderen Menschen erschließt.


Que ce monde demeure!

VII

Terre, qui vint à nous
Les yeux fermés
Comme pour demander
Q'une main la guide.

Elle dirait: nos voix
Qui se prennent au rien
L'une de l'autre soient
Notre suffisance.

...
(S. 48)


Sie bleibe, diese Welt!

VII

Erde, die zu uns kam
geschlossenen Auges,
als bäte sie,
daß eine Hand sie führe.

Sie spräche: Das Geringe
in unsren Stimmen, in dem sie
wechselseitig sich verfangen,
sei uns Genüge.

...
(S. 49)


Das Gedicht ist hier nur zur Hälfte zitiert, dennoch läßt sich beispielhaft ablesen, daß auch das sorgfältige Studium des Inhalts kaum Aufschluß darüber gibt, wovon die Rede ist. Es ist nahezu unmöglich, solch einem Gedicht einen Zusammenhang bzw. eine Dramaturgie abzugewinnen. Bei dem Leser erzeugt dies in der Regel eine gähnende Langeweile, die keineswegs seiner imaginativen Unfähigkeit, sondern dem Dichter zuzuschreiben ist.

Zugegebenermaßen aus dem - allerdings nicht vorhandenen - Zusammenhang gerissen, ist die folgende Passage, die treffsicher den Punkt des Gedichtes markiert, an dem der Leser sich nur noch wundert:


Wo ich geboren wurde

XII

...

Jetzt begreif ich es: Ceres war es,
die mir bei Nacht erschien, nach einer Zuflucht suchend,
als es draußen an die Pforte schlug,
ihre Schönheit war es, die da pochte, ihr Licht
und ihr Verlangen auch,...

(S. 161)


Diese Art Lyrik zu übersetzen ist nicht einfach, weil der Übersetzer, genau wie der Leser natürlich, häufig in der Luft hängt. Niemand hat sich zweifellos so sehr mit den Gedichten und ihrem Erzeuger befaßt wie die Person, die sie von der einen in die andere Sprache überträgt. Sie ist also die Prädestinierteste, wenn es um das Verständnis des Werks geht, und somit als Mittler zu sehen. An ihr zuerst, die sich mehr als andere bemüht hat, einen Zugang zu finden, kann man messen, wie verständlich die Gedichte sind. Bieten diese einfach nicht den Stoff, einen Inhalt zu übersetzen oder die Anhaltspunkte nicht, die der Übersetzer braucht, um sie im Sinne des Dichters zu übertragen, wundert es nicht, daß auch die Übersetzung einen uneinheitlichen und gebrochenen Eindruck macht. Dabei ist sie sprachlich manchmal wunderbar gelungen, griffig und vielseitig, mal wirkt sie jedoch wieder umständlich und holperig wie im folgenden Beispiel:


Sie bleibe, diese Welt!

V

Sie bleibe, diese Welt,
nicht seien die Worte
eines Tages diese grauen
Gebeine, um welche kreischend,

auseinanderfahrend,
Vögel mit ihren Schnäbeln
sich gestritten haben werden, unsere
Nacht im Licht.

...
(S. 45)


Eine allzu wörtliche Übertragung kann sehr störend wirken und auch ein Zeichen dafür sein, daß den Übersetzer die Geduld verläßt. Für den Leser lohnt es sich, sich nicht vom ersten Eindruck benebeln zu lassen, sondern sich einmal genau zu fragen, was das Gedicht eigentlich aussagt. Die zweisprachige Ausgabe ist dafür besonders geeignet, denn zum einen steht das Original des Dichters zur Verfügung und zum anderen hat sich - wie gesagt - schon ein anderer bemüht, zum Verständnis des Geschriebenen zu gelangen, und kann eine Hilfestellung bieten.


La voix lointaine

IV

Et la vie a passé, mais te garda
Vive mon illusion, de ces mains savantes
Qui trient parmi les souveniers, qui en recousent
Presque invisiblement les déchirures.

Sauf: que faire de ce lambeau d'étoffe rouge?
On le trouve dans sa mémoire quand on déplace
Les années, les images; et, brusques, des larmes
Montent, et l'on se tait dans ses mots d'autrefois.

Parler, presque chanter, avoir rêvé
De plus même que la musique, puis se taire
Comme l'enfant qu'envahit le chagrin
Et qui se mord la lèvre, et se détourne.

(S. 94)


Die ferne Stimme

IV

Und das Leben ging hin, doch lebendig erhielt dich
was in mir mit geschickten Händen
die Erinnerungen sichtet, und wo ein Riß klafft,
ihn fast unsichtbar zusammennäht.

Nur: was tun mit diesem Fetzen roten Stoffes?
Der unvergessen wiederkehrt, wenn man die Jahre,
die Bilder verschiebt; und Tränen jählings,
Tränen steigen auf, die Stimme versagt in den Worten von einst.

Zu sprechen, zu singen fast, von mehr als
Musik geträumt zu haben, dann zu verstummen
wie das Kind, das, von Kummer überwältigt,
sich in die Lippe beißt, und sich abkehrt.

(S. 95)


Abgesehen von dieser Art, den Leser an der Nase herumzuführen und sich in Selbstgesprächen zu ergehen, gibt es die eine oder andere Passage oder kleine geschilderte Szene, die einleuchtet: Man erinnert sich an ähnliches, man hat es so vielleicht noch nicht betrachtet, aber kann es nachvollziehen.


Je déplace du pied
Entre d'autres pierres
Cette large, qui couvre
Des vies, peut-être.

Et c'est vrai: de nombreuses
Sont là, qui courent
De toutes parts, aveugles
Par soudain trop de jour.

Mais vite les voici
Rédimées par l'herbe.
Je n'ai troublé qu'un peu
La vie sans mémoire.

Comme il fait beau, ce soir!
A peine si
Je sais, sur ce chemin,
Que j'existe encore.

(S. 58)


Beiseite schiebe ich mit dem Fuß
zwischen anderen Steinen
diesen breiten, der, vielleicht,
Lebendiges bedeckt.

Ja, wahrhaftig: denn zahlreich
wimmelt es dort
überall, von zuviel Helle
geblendet plötzlich.

Doch rasch schon
rettet sie das Gras
Ein wenig nur hab ich das Leben
das vergeßliche, gestört.

Wie schön das Wetter, heut abend!
Kaum, daß ich
auf diesem Weg weiß,
ob es mich noch gibt.

(S. 59)


Alles im allem ist dies Werk interessant für jeden, der sich grundsätzlich für die jüngere französische Dichtung interessiert. Darüber hinaus ist es geeignet für die Schule, da es für das Erlernen einer Fremdsprache nicht zu hohe Anforderungen stellt. So kann man die Scheu verlieren, sich mit französischer Lyrik zu befassen.

Dieser Band ist Teil der Lyrik- bzw. der Reihe zweisprachiger Lyrik bei Klett-Cotta. Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch liegen recht ausgewogen vor, bislang einmal Niederländisch und einmal Slowenisch. Die Gestaltung erinnert - ganz vertraut - an ein Kinderbuch von früher: gewohnt großes Buchformat, leichtes Papier, unprätentiöse Schrift. Es ist wie ein alter Bekannter. Der Verlag hat sich für die einzelnen Gedichte viel Platz genommen, vielleicht könnte die Schrift ein wenig größer sein. Es handelt sich insgesamt um ein ansprechendes Projekt, das Neugier auf die weiteren Bände der Reihe macht.

Das Nachwort ist zu empfehlen, wenn man sich ein wenig mehr mit dem Dichter, seinem Werk und dessen Rezeption befassen möchte. Darüber hinaus läßt sich aus ihm unschwer die Position des Übersetzers ablesen, der den Ursprung der Bonnefoyschen Lyrik im Unbewußten ansiedelt

... das Unbewußte; ein mythisches Agens, das aus dem Hinter- und Untergrund wirkt, in dem Traumata, Phantasmen, uneingestandene und vom Wachbewußtsein mit einem Verdikt belegte Gelüste ihr Unwesen treiben; allerlei chthonisches Gelichter, dem wir, im bedenklichen Zwischenreich der Libido, des désir, der "Wunschregungen", unsere Gefährdungen und, wer weiß, vielleicht unser Bestes verdanken.
(Nachwort, S. 210/211)

und auf diese Weise eine tiefere Bedeutung unterstellt, die sich dem Leser, der sich um diese bemüht, großenteils entzieht. Es empfehlen sich auch an dieser Stelle Vorsicht und Achtung im Umgang mit dem Dichter, wenn man sich nicht von dem "schwer Faßbaren" verwirren und von der Generalausflucht auf die falsche Fährte setzen lassen will:

"Je n'écris pas de poèmes", erklärt Bonnefoy 1972 in einem Gespräch mit Bernard Falciola; "ich schreibe keine Gedichte, insofern das Wort Gedicht ein abgeschlossenes, selbständiges Gebilde bezeichnet, das sich von früher entstandenen oder später entstehenden Gedichten der gleichen Art ablösen läßt. Was ich schreibe, sind vielmehr Gesamtheiten, Versammlungen, Zusammenklänge, innerhalb derer jeder einzelne Text nur ein Fragment ist. Jeder dieser einzelnen Texte gilt für mich, von Anfang an, nur in seiner Beziehung auf alle übrigen, so daß der 'Sinn' nur im Hin-und-Her, aus der Aktivierung der Echos und Reflexe zu gewinnen ist. (Nachwort, S. 211)


Yves Bonnefoy wurde 1923 in Tours geboren. Er studierte Mathematik und Philosophie in Tours, Poitiers und Paris. 1944 schloß er sich für kurze Zeit den Surrealisten an. Er lehrte am College de France. Seine sieben in Frankreich erschienenen Gedichtbände liegen mittlerweile allesamt auf deutsch vor.


4. September 2006


Bonnefoy, Yves
Die gebogenen Planken
Gedichte
französisch und deutsch
Ins Deutsche übertragen und
mit einem Nachwort von Friedhelm Kemp
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2004
Gebunden, 231 Seiten, 22,00 Euro
ISBN 3-608-93657-2