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BUCHBESPRECHUNG/053: Napoleon Bonaparte Repräsentant der Revolution und Eroberer (Gerhard Feldbauer)


Napoleon Bonaparte Repräsentant der Revolution und Eroberer

Im Kontext zu den Monarchien in Preußen, Russland oder Österreich war der Kaiser geradezu eine Lichtgestalt des Fortschritts

von Gerhard Feldbauer, 14. März 2014



Der im Dezember 2013 verstorbene Berliner Historiker Helmut Bock ist durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Vormärz, zur Revolutionsgeschichte und zur Krieg-Frieden-Problematik bekannt. In seinem jüngsten Werk "Napoleon und Preußen" widmet sich der aus der DDR kommende Autor einem brisanten Thema, an dem sichtbar wird, dass Geschichte immer widersprüchlich, oft im regelrechten Zick-Zack verläuft.

1806 befand sich Frankreich unter Napoleon Bonaparte auf dem Höhepunkt seiner Macht. Der Kaiser hatte die Armeen Österreichs, Preußens und Russlands geschlagen und beherrschte West- und Mitteleuropa. Am 14./15. Oktober des Jahres trafen seine noch vom Geist der Revolution beseelten Truppen erneut auf die reaktionäre preußische Arme und brachten ihr in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt eine vernichtende Niederlage bei.


Stockprügel gegen Tirailleurtaktik

Detailliert schildert Bock, wie die Junkeroffiziere "mit Herablassung auf die Kolonnen- und Tirailleurtaktik der Franzosen blickend", ihre Soldaten in der veralteten Linienaufstellung mit "Schimpfreden und Stockprügel" antreiben. Gegen sie marschiert Napoleons Marschall Jean Lannes, vor der Revolution Färberlehrling. Es scheint, dass einzig der preußische Kompanieführer Hauptmann Gneisenau, noch bevor der erste Schuss fällt, "schwer und ahnungsvoll" die Katastrophe heraufziehen sieht.


Deutschland hinkte Frankreich um Jahrhunderte hinterher

Nach England war auch in Frankreich nach der Revolution die Großbourgeoisie zur herrschenden Klasse aufgestiegen. Unter Bonaparte trat sie - ein völlig natürlicher Prozess - an, ihre Vorherrschaft auf dem Kontinent geltend zu machen. In Deutschland traf Napoleon auf gesellschaftliche Zustände, die der Entwicklung Frankreichs um Jahrhunderte hinterherhinkten. Napoleon war für Deutschlands Bürgertum nicht nur der Eindringling, sondern zunächst vor allem "der Repräsentant der Revolution, der Verkünder ihrer Grundsätze, der Zerstörer der alten Feudalgesellschaft" (Friedrich Engels). Er brachte den "Code Civil" in die eroberten Länder, ein Gesetzbuch, das im Prinzip die Gleichheit anerkannte. Das neu geschaffene Königreich Westfalen wurde zu einer Art liberalem Musterland in Deutschland. Die Leibeigenschaft und die Privilegien des Adels wurden aufgehoben, Gewerbefreiheit eingeführt. Mit der Auflösung von etwa 200 deutschen Kleinstaaten wurden die schlimmsten Auswüchse der politischen Zersplitterung beseitigt. Im Juli 1806 bildeten 16 deutsche Staaten den von Napoleon dominierten Rheinbund. Es folgt die offizielle Auflösung des "Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation".


Zwielicht preußisch-deutscher Erhebung

Doch nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt treten die Eroberungsgelüste der französischen Bourgeoisie, als deren Vollstrecker der Korse handelt, deutlicher hervor. Im Frieden von Tilsit verliert Preußen über die Hälfte seines Staatsgebietes. Lenin bezeichnet diesen Raub später als "die größte Erniedrigung Deutschlands", die "eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung" herbeiführte (Werke, Bd. 27, Berlin/DDR, S. 149). Lenin ist hier allerdings (auch Bock geht darauf nicht ein) immer aus dem Zusammenhang heraus zitiert worden. Er bezog sich auf den Tilsiter Frieden, um die Zustimmung zum Abschluss des Brester Friedensvertrages zu erreichen.

Im Kapitel "Zwielicht preußisch-deutscher Erhebung" macht der Verfasser Schluss mit der Legende: "Der König rief und alle, alle kamen". Den nationalen Aufschwung leiten gegen den Widerstand des erzreaktionären Friedrich Wilhelm III. Stein/Hardenberg mit ihren Reformen in Staat und Verwaltung, Gneisenau, der Theoretiker des Volkswiderstandes (Engels) und Scharnhorst im Heereswesen ein. Aus der Fülle der Themen, die Bock ausführlich abhandelt, seien in diesem Kontext erwähnt: Die Rolle Ferdinands von Schill im Befreiungskampf, der Beitrag von Klassik, Romantik und anderen Geistesströmungen zum Entstehen des Nationalbewusstseins, oder die Meuterei, die General York von Wartenburg mit der Konvention von Tauroggen begeht.

Napoleon scheitert in den unendlichen Weiten Russlands, wo das Volk seine eigenen Interessen hinten an stellt, mit der nationalen Unabhängigkeit aber gleichzeitig die reaktionäre Zarenherrschaft verteidigt. Die Vernichtung der Grande Armée läutet das Ende der französischen Hegemonie in Europa ein. Statt sich nach Frankreich zurück zu ziehen, stellt der Korse sich im Oktober 1813 bei Leipzig der Koalition von Russland, Österreich, Preußen und Schweden und wird ein weiteres Mal geschlagen.


Sieg der feudalen Reaktion über das bürgerliche Frankreich

Am Beispiel des Wiener Kongresses arbeitet Bock heraus, dass die feudale Reaktion über das bürgerliche Frankreich siegt und damit die Konterrevolution triumphierte. In ihrer Propaganda ist der Repräsentant der Bourgeoisie nur noch "das korsische Ungeheuer". Während seiner Herrschaft 100 Tage im Frühjahr 1815 wird er zum "Feind der Menschheit" verketzert. Das europäische Geschmeiß der Könige und Fürsten, das um die Beute streitet, zittert, es könnte Napoleon gelingen, der Revolution noch einmal Leben einzuhauchen. Die Volksmassen, die ihm in Frankreich zujubeln, hoffen das sehnlichst und glauben ihm, wenn er erklärt, er sei gekommen, um die "Prinzipien der Großen Revolution zu schützen." In der Tat lässt er eine liberale Verfassung ausarbeiten und durch Volksabstimmung beschließen. Er wird bei Waterloo ein letztes Mal geschlagen, weil die französische Bourgeoisie längst konterrevolutionär geworden war, ihre einstigen Ideale verraten und den Kaiser fallen gelassen hatte. So steckt in dem, was Napoleon nach seiner letzten Niederlage sagte, viel Wahrheit: "Die Mächte führen nicht Krieg mit mir, sondern mit der Revolution. Sie haben in mir immer deren Vertreter, den Mann der Revolution gesehen." In Frankreich stellen die 1792 gestürzten, im Volk verhassten Bourbonen den Ausgleich mit der Großbourgeoisie her und kehren unter Ludwig XVIII. auf den Thron zurück.


Ein großer Schritt vorwärts in der Epoche des Übergangs zum Kapitalismus

Bock wendet sich der Frage zu, ob es für den Verlauf des Geschichtsprozesses günstiger gewesen wäre, wenn Napoleon gesiegt, die europäischen Feudalreaktionen gestürzt und an ihrer Stelle die Bourgeoisie an die Macht gebracht hätte? Stimmen großer Geister hätten das besser gefunden. Heine äußerte: Bei Waterloo siegte "die schlechte Sache des verjährten Vorrechts". Aufschlussreich seine "Grenadiere", die er dem Schicksal Napoleons widmete. Goethe sprach von der Ablösung der bürgerlichen Vorherrschaft Napoleons durch die feudale Vormacht des Zaren. In Preußens Hauptstadt brach die Magd Rahel Varnhagens in den Schreckensruf aus: "Der Adel hat gewonnen".

Bereits 1830 warfen neue Revolutionäre ihr Barrikaden auf und gedachten des auf St. Helena Verstorbenen: Vive Napoleon, vive La France. Das bezeugt, dass die Napoleonzeit insgesamt ein großer Schritt vorwärts war, in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.



Helmut Bock: Napoleon und Preußen. Sieger ohne Sieg
Karl Dietz Verlag Berlin 2013. 303 S., Euro 24,90 (D)
ISBN 978-3-320-02300-3

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. März 2014