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BUCHBESPRECHUNG/069: "Agonistik - Die Welt politisch denken" von Chantal Mouffe (Klaus Ludwig Helf)


Chantal Mouffe: "Agonistik - Die Welt politisch denken"

von Klaus Ludwig Helf, 28. Oktober 2014


Der agonistische Wettstreit der Ideen in einem radikalen Pluralismus ist ein fundamentaler Bestandteil des Politischen

Die meisten Essays sind überarbeitete Fassungen bisheriger Veröffentlichungen von Chantal Mouffe außer dem letzten, der eigens für das vorliegende Buch geschrieben ist; ein Interview von Elke Wagner mit der Autorin am Ende des Bandes aus dem Jahre 2007 soll zum besseren Verständnis ihres Gedankengebäudes beitragen. Jedes Kapitel widmet sich einem anderen Thema, das für das "linke Projekt" bedeutsam ist. Im Bundestagswahlkampf 2013 hatte die SPD als zentrales Motto "Das Wir entscheidet" während die CDU/CSU mit dem Slogan "Gemeinsam erfolgreich" um die Wählergunst warb. Dieser zeitgenössische Trend zur Minimierung und Abflachung politischer Unterschiede zumindest bei den großen Volksparteien fördere - so eine der Hauptthesen von Chantal Mouffe - Gefahrenpotenziale für eine gut funktionierende Demokratie, die vom Widerstreit demokratischer politischer Positionen lebe:

Eine zu große Konsensorientierung führt in Verbindung mit einer Abneigung gegen Konflikte zu Apathie und Entfremdung von der politischen Partizipation. Eine liberale, demokratische Gesellschaft braucht daher die Debatte über mögliche Alternativen. Sie muss Formen der politischen Identifikation anbieten, die auf klar unterscheidbaren demokratischen Positionen beruhen. Konsens ist zweifellos notwendig, er muss jedoch von Dissens begleitet sein. [S.29]

Konsens müsse herrschen über die konstituierenden Institutionen der liberalen Demokratie und über die ethisch-politischen Werte der politischen Arbeit: "Es wird aber immer unterschiedliche Auffassungen darüber geben, was diese Werte bedeuten und wie sie praktisch umzusetzen sind. Der Konsens wird demnach stets ein 'konflikthafter Konsens' sein" (S.30). Meinungsverschiedenheiten über die Interpretationen der gemeinsamen ethisch-politischen Grundlagen seien nicht nur legitim, sondern absolut notwendig, da sie für die Bürgerinnen und Bürger vielfältige und unterschiedliche Identifikationschancen böten und die Basis und der Stoff seien, aus dem demokratische Politik gemacht werde. Entscheidend sei aber, dass Konflikte nicht die Form eines "Antagonismus" annehmen (eines Kampfes zwischen Feinden), sondern die eines "Agonismus" (einer Auseinandersetzung zwischen Kontrahenten). Kontrahenten bekämpfen einander, stellen aber das legitime Recht ihrer Kontrahenten, für ihre Position zu streiten, nicht infrage. Agonismus leitet sich ab vom griechischen Wort ágon (Wettstreit) und steht für eine Auseinandersetzung, bei der Kontrahenten mit Leidenschaft gegeneinander kämpfen; dieses Konkurrenzverhältnis hält Chantal Mouffe für basal in einer liberalen Demokratie. Im Gegensatz zu Theoretikern des Liberalismus versteht Mouffe das Feld der Politik nicht als neutrales Terrain, bei dem es um die Besetzung und den Austausch von Machtpositionen unterschiedlicher Gruppierungen (Wettbewerb der Eliten) gehe, ohne die "vorherrschende Hegemonie" infrage zu stellen oder die Machtverhältnisse grundlegend zu verändern.

Nach dem Verständnis von Mouffe gehe es beim agonistischen Verständnis von Politik um "nichts Geringeres als den Kampf zwischen gegensätzlichen, nach Hegemonie strebenden Projekten", die niemals rational miteinander in Einklang gebracht werden könnten, da immer eines von ihnen unterliegen werde: "Es ist eine echte Konfrontation, die jedoch auf der Grundlage von beiden Seiten akzeptierter demokratischer Verfahren ausgetragen wird" (S.31). Denn wenn diese agonistischen, pluralistischen Identifikationsformen nicht möglich seien, gebe es für Leidenschaften kein demokratisches Ventil:

Damit wird Spielarten der Politik, in deren Mittelpunkt essentialistische Identitäten nationalistischer, religiöser oder ethnischer Ausprägung stehen, ebenso der Boden bereitet wie einer Vervielfachung der Auseinandersetzungen über nicht verhandelbare moralische Werte - einschließlich aller Erscheinungsformen von Gewalt, die mit solchen Auseinandersetzungen einhergehen" (S.30).

In dem vorliegenden Band stellt Mouffe den agonistischen Ansatz in unterschiedlichen Kontexten vor: Demokratie in einer multipolaren, agonistischen Welt / die Zukunft Europas in der agonistischen Perspektive/radikale Politik heute / agonistische Politik und künstlerische Praktiken. Mouffes Gesellschaftsbild ist keine harmonische, sondern eine konflikthafte Ordnung; sie ist hegemonialer Natur, das heißt, sie ist Ausdruck von Machtverhältnissen: "Für den Bereich der Politik bedeutet das, dass wir die Suche nach einem Konsens ohne jede Exklusion einstellen und die Hoffnung auf eine ganz mit sich versöhnte und harmonische Gesellschaft fahrenlassen müssen. Folglich kann das emanzipatorische Ideal nicht im Sinne einer Verwirklichung irgendeiner Form von 'Kommunismus' formuliert werden (S.11).

Radikale Politik vollziehe sich - so Mouffe - in einer Vielzahl von Schritten auf einer Vielfalt von institutionellen Ebenen, die der Konstruktion einer neuen Hegemonie dienen: "Es ist ein 'Stellungskrieg', dessen Ziel nicht der Aufbau einer Gesellschaft jenseits von Hegemonie, sondern der Prozess der Radikalisierung der Demokratie ist - der Aufbau demokratischerer, egalitärerer Institutionen." (S.14)

Was bedeutet das für die politische Praxis? Mouffe empfiehlt als politische Strategie keine isolierte nur außerparlamentarisch agierende Fundamentalopposition, sondern breit aufgestellte gesellschaftliche Bündnisse und argumentiert gegen die antiinstitutionalistischen Strategien mancher Occupy-Aktivisten, denn "für eine tatsächliche Veränderung der Machtverhältnisse bedarf es institutioneller Bahnen. Will man den Neoliberalismus infrage stellen, so muss man sich ... mit seinen Schlüsselinstitutionen auseinandersetzen" (S.171/172).

Auch die anklagende, moralisierende Empörung über das Finanzsystem genüge nicht, sondern man müsse die herrschenden, komplexen ideologischen, wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse ins Visier nehmen und daran rütteln, um eine gerechtere und demokratischere Gesellschaft aufzubauen. Mit der Dämonisierung des Staates gingen diese Protestbewegungen außerdem dem Kernelement der Neoliberalen auf den Leim: "Durch den Einsatz einer binären Rhetorik, die dem repressiven Staat die Vorteile der freien Marktwirtschaft gegenüberstellt, ist es ihnen gelungen, den Primat des Marktes und die Kommodifizierung aller Gesellschaftsbereiche zu rechtfertigen und so das Fundament für die neoliberale Hegemonie zu legen" (S.174/175). Fazit: Der agonistische Wettstreit der Ideen in einem radikalen Pluralismus sei - so Mouffe - ein fundamentaler Bestandteil des Politischen; daher müssen wir dafür sorgen, dass unterschiedliche politische Denk- und Handlungs-Modelle präsentiert und diskutiert werden auf der nationalen, der europäischen und auf der globalen Ebene.

Chantal Mouffe
Agonistik - Die Welt politisch denken
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
edition suhrkamp 2677
Broschur
214 Seiten
16,00 Euro
auch als E-Book erhältlich

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Quelle:
© 2014 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. September 2015

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