Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/196: Christoph Butterwegge - Die zerrissene Republik (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Christoph Butterwegge

Die zerrissene Republik.
Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland.

Von Klaus Ludwig Helf, Oktober 2020


Das Armutsrisiko in Deutschland hat einen neuen Höchststand erreicht. Laut Statistischem Bundesamt lebte 2019 in Deutschland jeder sechste Bürger und 2020 ein Fünftel aller Kinder und Jugendlichen (ca. 2,8 Millionen) an der Armutsgrenze; die Corona-Krise habe die Probleme noch verschärft, wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung herausfand. Das ungelöste Problem der Kinderarmut habe erhebliche Folgen für deren Aufwachsen, Wohlbefinden, Bildung und Zukunftschancen. Der Politologe und Armutsforscher Christoph Butterwegge hat jetzt einen dickleibigen Band zum Thema wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland veröffentlicht und das Thema Armut als ein Teilaspekt von Ungleichheit mehrdimensional aufgegriffen und analysiert. Seine Hauptthese lautet: "Seit geraumer Zeit ist die wachsende sozioökonomische Ungleichheit das Kardinalproblem unserer Gesellschaft, wenn nicht der gesamten Menschheit" (S. 9) Auch in Deutschland breite sie sich verstärkt aus, beginne bereits im Kindergarten, präge das Erwerbsleben der Gesellschaftsmitglieder genauso wie ihre Bildung und Ausbildung und mache nicht einmal mehr vor dem Grab halt. Die zunehmende Ungleichheit beschränke sich auch nicht auf die asymmetrische Verteilung von Einkommen und Vermögen, sondern erstrecke sich vielmehr auf unterschiedliche Lebensbereiche wie Bildung, Gesundheit, Wohnung, Freizeit und Mobilität. Die Hauptdeterminante von Ungleichheit überall auf der Welt sei die Position des Einzelnen im gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess beziehungsweise die hieraus resultierende (Fehl-) Ausstattung mit materiellen/monetären Ressourcen. Armut und Reichtum - so Butterwegge - bilden eine strukturelle Einheit und stehen zueinander in einem dialektischen Wechselverhältnis in einer kapitalistischen Marktwirtschaft; sie sind die "zentrale Achse der sozioökonomischen Ungleichheit", die sich in fast allen Lebensbereichen mit ähnlicher Wucht niederschlage: "Die Lohnkürzung des einen ist die Dividende des anderen" (S. 19). Der vorliegende Band analysiert sowohl die Herausbildung und Entwicklung von Ungleichheit in Deutschland seit 1945 aus unterschiedlichen Perspektiven als auch die Gründe, warum Staat, Wirtschaft und Gesellschaft darauf bislang nur halbherzig reagiert und die Spaltung sogar noch forciert hätten. Herausgekommen ist ein umfassendes und quellengesättigtes Standardwerk der Sozialstrukturforschung und der Ungleichheitsforschung in Deutschland, das auch im letzten Kapitel praktikable Lösungsansätze anbietet.

Christoph Butterwegge ist Politikwissenschaftler und Armutsforscher, war von 1998 bis 2016 Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln, Mitglied der Forschungsstelle für interkulturelle Studien, Mitglied der SPD (1970-1975 und 1987-2005), von der LINKE 2017 für die Wahl des Bundespräsidenten nominiert; zahlreiche wissenschaftliche und tagesaktuelle Veröffentlichungen.

Nach einer knappen Einleitung folgen sechs Kapitel und eine umfangreiche, nach inhaltlichen Kriterien gegliederte Literaturauswahl, die eine vertiefende Beschäftigung mit einzelnen Aspekten vereinfacht. Zunächst werden Definitionen, Dimensionen und Diskussionen der Grundlagen der gesellschaftlichen Ungleichheit dargestellt, die Schlüsselbegriffe Ungleichheit, Armut und Reichtum definiert und anschließend die wichtigsten Theorien und Theoretiker der sozioökonomischen Ungleichheit im deutschsprachigen Raum vorgestellt (Marx, Engels, Weber, Geiger). Das zweite Kapitel analysiert Aussagen und Untersuchungen zur Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft, die zwischen seriöser Empirie und Ideologie verortet sind. Das dritte Kapitel rekonstruiert und untersucht die wichtigsten Diskurse über Ungleichheit und Aussagen über Armut und Reichtum nach dem 2. Weltkrieg. Kapitel vier analysiert die Erscheinungsformen wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit (Einkommen, Vermögen, Bildungs- und Gesundheitssysteme), Kapitel fünf die Entstehungsursachen der sozioökonomischen Ungleichheit: Prekarisierung, Pauperisierung und Polarisierung (v.a. Globalisierung, Neoliberalisierung). Im letzten Kapitel geht es um die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft, um die Prekarisierung der Lohnarbeit und die Pauperisierung eines anwachsenden Teils der Bevölkerung und auch um die politische Spaltung als Resultat der sozioökonomischen Spaltung; außerdem werden am Schluss des Bandes die Zukunftsaussichten der 'zerrissenen Republik' bewertet, Alternativen zur wachsenden Ungleichheit und potenzielle Gegenstrategien und Lösungsmöglichkeiten vorgestellt. Butterwegge entwirft präzise und quellenmäßig solide belegt die Konturen einer 'zerrissenen Republik', die Anleihen aus den USA genommen habe: Deregulierung der Leiharbeit und Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen, Rückbau des sozialen Wohlfahrtsstaates (workfare state statt welfare) und Umbau des Steuersystems durch Entlastung der 'Reichen' und stärkere indirekte Besteuerung der 'Armen'; dadurch sei es zu Polarisierungen, Fragmentierungen und Aufspaltungen gekommen v.a. bei der Sozialstruktur (Ausweitung der Schere arm-reich), bei der Stadtentwicklung (u.a. Zerfall der Großstädte in Luxus- und Elendsquartiere), beim sozialen Klima und bei der politischen Kultur (Entsolidarisierung, Entpolitisierung, Rechtspopulismus, Post-Demokratie): "Die neoliberale Spielart der Globalisierung hat als 'soziales Scheidewasser' gewirkt, das die Bevölkerung der Bundesrepublik in Gewinner und Verlierer/innen ... spaltete ... Einerseits reicht das Armutsrisiko bis in die Mittelschicht hinein ... Andererseits führt die finanzmarktgetriebene Form der Kapitalakkumulation zu einer Vermögenskonzentration bei wenigen Hyperreichen, die an feudale Zustände erinnert." (S. 325). Man müsse kein Marxist sein - so Butterwegge -, um zu erkennen, dass die Bundesrepublik eine "kapitalistische Gesellschaft mit wachsender sozioökonomischer Ungleichheit" sei. Er zitiert Jakob Augstein, der das Ende der Sozialen Marktwirtschaft und des eingehegten sozialen Kapitalismus konstatiert; von der sozialen Symmetrie eines 'Rheinischen Kapitalismus' sei wenig übriggeblieben. Deutschland stehe vor einer sozialen Zerreisprobe und in fast allen Gesellschaftsbereichen wachse die Unruhe, ohne dass in der Öffentlichkeit die Gründe dafür erkannt und von den politisch Verantwortlichen die nötigen Gegenmaßnahmen ergriffen würden. Die sozioökonomische Polarisierung bilde dabei bis in die von Prekariat bedrohten Mittelschichten hinein einen idealen Nährboden für rechtspopulistische und rechtsextreme Ideologien und Parteien; der Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft sei gefährdet.

Wenn man das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes ernst nähme, dann wäre die Bekämpfung von Armut eine der zentralen Aufgaben des Staates, aber alle bisherigen Bundesregierungen hätten sich stattdessen auf Vermehrung des Reichtums durch eine unsoziale Steuerpolitik konzentriert. Als alternative Perspektive fordert Butterwegge den Aufbau eines 'inklusiven Wohlfahrtsstaates', der eine gleichberechtigte Partizipation aller Wohnbürger/innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben garantiere. Instrumente und Bausteine für die Umsetzung dieses Ziels seien eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung (anstatt eines bedingungslosen Grundeinkommens) ohne Versicherungspflichtgrenze und ohne Beitragsbemessungsgrenzen für alle Wohnbürger/-innen, unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht, also auch Selbständige, Freiberufler, Beamte, Abgeordnete, Minister, Ausländer und Leute mit Daueraufenthalt. Dazu müsse eine bedarfsorientierte Mindestsicherung für Alle kommen, die deutlich über dem Niveau der heutigen Grundsicherung liege, vor Existenzangst und Ausgrenzung schütze und die Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben möglich mache. Weitere Elemente seien unabdingbar: Steuerpolitische Entscheidungen im Sinne einer größeren Steuergerechtigkeit und einer Umverteilung von oben nach unten (u.a. Vermögensteuer, Erbschaftssteuer, progressive Einkommensteuer, höherer Spitzensteuersatz, Anpassung der Kapitalertragssteuer), verstärkter kommunaler Wohnungsbau nach dem Vorbild von Wien. Die Auflistung von Vorschlägen zur Eindämmung sozialer Ungleichheit in den Bereichen Besteuerung, Bildung und Arbeitsmarkt ließe sich noch weiterführen, würde den Rahmen der Besprechung sicher sprengen. Christoph Butterwegge gelingt es in beeindruckender Weise, die Konturen der 'zerrissenen Republik' analytisch scharf zu zeichnen, die damit verbundenen vielschichtigen und mehrdimensionalen Probleme nachvollziehbar und klar zu benennen und bietet auch vernünftige Lösungen an.

Christoph Butterwegge
Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland
Verlag Beltz Juventa, Weinheim und Basel 2020
414 Seiten,14.95 EURO.

*

Quelle:
© 2020 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2020

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang