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BUCHBESPRECHUNG/208: Dagmar Herzog - Die Politisierung der Lust (Klaus Ludwig Helf)


Dagmar Herzog

Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts

von Klaus Ludwig Helf, November 2021


Die deutsche Ausgabe des vorliegenden Bandes erschien bereits im Jahr 2005 und wurde jetzt im Psychosozial-Verlag in unveränderter Neuauflage publiziert. Im Vorwort macht die Autorin Dagmar Herzog deutlich, dass sich seit dem Erscheinen ihres Bandes die Bestrebungen verstärkt hätten, mit Sex und den damit verbundenen 'Themen drumherum' wie Leidenschaft, Beziehungen, Verlangen, Erfüllung und Glücksversprechen Menschen zu manipulieren und damit auch politische Strategien durchzusetzen. Diese Prozesse seien nicht immer widerspruchs- und konfliktfrei, aber insgesamt wirkungsvoll.

Als Stichworte nennt sie die Trump-Ära, die #metoo-Bewegung, die Nachwehen des europäischen Kolonialismus, die Schmäh- und Hass-Tiraden in den Netzwerken und die durch wegen der Corona-Virus-Pandemie verordneten Berührungs- und Kontaktverbote. Zudem habe sich das gesellschaftliche Umfeld in Richtung Autoritarismus verschoben: "Wir leben, global wie lokal nicht mehr 'after fascism' sondern - auf einmal - wieder mittendrin" (S. I). Dazu zählt sie den Aufstieg längst überwunden geglaubter rechtsextremer Bewegungen und Parteien, den aufflammenden Rassismus und Antisemitismus, die Verspottung von Minderheiten auch aus sexuellen Gründen, die zunehmende Undurchsichtigkeit des globalen Finanzmarkt-Kapitalismus und die polarisierende Wirkung der Social-Media-Filterblasen.

Das alles habe sie dazu bewogen, ihren Band neu aufzulegen: "Es bleibt eine deutliche Herausforderung für uns alle, gemeinsam weiter darüber nachzudenken, wie ideologische Konflikte überhaupt funktionieren - wie Vergangenheiten und Gegenwarten wiederholt miteinander verwoben sind und einander ständig gegenseitig beeinflussen, aber auch wie die in allen gesellschaftlichen Gesellschaften ständigen Kämpfe um das, was als Wahrheit gilt, besser zu verstehen wären" (S. V).

Dagmar Herzog ist Professorin für Geschichte am Graduate Center der City University of New York, veröffentlichte zahlreiche Bücher zur Geschichte der Religion, zur Sexual- und Geschlechtergeschichte in der Moderne, zu Gender-Fragen sowie zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und erhielt für ihre Forschung 2014 den Distinguished Achievement Award der Holocaust Educational Foundation.

Nach dem Vorwort zur Neuauflage und einer Einführung zur Thematik folgen in dem Band sechs Kapitel, Anmerkungen, Bibliografie, Personen- und Sachregister und ein Bildnachweis. Dagmar Herzog analysiert die Ideen- und Kulturgeschichte der 'Politisierung der Lust' in Deutschland von der Zeit des Nationalsozialismus über die Adenauer Ära, den Aufbruch der 1968er und die DDR bis zur Vereinigung 1989. Sie interpretiert ideologiekritisch, wie Sexualität, Moral und Erinnerung miteinander verschränkt sind. Warum spielt das Feld der Sexualpolitik eine so bedeutende Rolle? Michel Foucault habe bereits in den 70er Jahren darauf hingewiesen, dass Sexualität 'ein besonders dichter Durchgangspunkt' für die Machtbeziehungen' sei.

Diese Hypothese untersucht die Autorin beim gesellschaftlichen Umgang mit Sexualität in Deutschland. Im Zentrum ihrer Analysen stehen die NS-Zeit sowie '1968' in West-Deutschland. Wer die Auseinandersetzungen über Sexualität nicht berücksichtige, unterschätze den tiefgehenden emotionalen Nachhall der militärischen und ideologischen Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und dessen Auswirkungen insbesondere auf die deutschen Männer: "Wer sexuelle Fragen als nebensächlich abtut, übersieht, wie die Nachkriegs-Bundesrepublik im Zuge des Kalten Krieges die Erinnerung an den Nationalsozialismus erfolgreich manipulierte und die moralische Debatte vom Problem der Komplizenschaft an Massenmord auf Fragen der Sexualität umlenkt" (S. 9/10).

Aufgrund ihrer quellengesättigten Analysen kommt Dagmar Herzog zu dem Ergebnis, dass die Sexualpolitik im NS-Staat nicht insgesamt brutal, repressiv, lust- und sexualfeindlich war, wie sie von Teilen der späteren Studentenbewegung und ihrer Theoretiker dargestellt worden sei. Vielmehr sei die Mehrheit der Deutschen (exklusive der 'nichtarischen, 'ungesunden' und homosexuellen Menschen) damals geradezu angespornt und ermuntert worden zu vor- und außerehelichen sexuellen Vergnügungen, während Abtreibung, Homosexualität und Sex mit Juden kriminalisiert worden seien. Sexualität sei eines der "Hauptanliegen" gewesen im Rahmen der rassepolitischen Steuerung der Fortpflanzung der 'gesunden und reinrassigen Arier'.

Die gezielte Stimulation von Affekten und Gefühlen sollte die Menschen an die NS-Volksgemeinschaft binden und rassistische, antisemitische und eugenische Stimmungen transportieren und mobilisieren im Sinne neuer moralischer Codes: "Der Nationalsozialismus verwarf christliche Werte - und bemächtigte sich ihrer, indem er unablässig von der 'Heiligkeit' der rassischen Reinheit sprach, von der 'Erlösung' Deutschlands, und 'Schuld' und von 'Sühne' gegen Rasse oder Volk. Darüber hinaus machte er sich tiefsitzende (von der Kirche propagierte) Assoziationen zu Nutze, die Sexualität mit dem Bösen - und den Juden - in Verbindung brachten, um die Entrechtung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas moralisch zu legitimieren" (S. 15/16).

Die Uneinheitlichkeit, die Ambivalenz und die politische Ausrichtung der NS-Sexualpolitik hätten eine sukzessive und gegensätzliche Interpretation der NS-Sexualmoral in den nachfolgenden Jahrzehnten geprägt, einerseits die offizielle Förderung von außerehelichem Sex von 'Arieren', andererseits die Abtreibung von "unwertem" Leben und die Verfolgung von Homosexuellen.

Nach den ersten "bemerkenswert freizügig-debattierfreudigen" Nachkriegsjahren habe sich seit Mitte der 50er Jahre in West-Deutschland im Rahmen der allgemeinen gesellschaftlichen Phase der Restauration und des Kalten Krieges auch ein "abrupter Schwenk" vollzogen. Konservative, illiberale Auffassungen von Sexualität, gespeist von körper- und sexualfeindlichen Werten, Ablehnung von Nacktheit und Freizügigkeit im Namen christlicher Werte seien dominierend geworden. Im Gegensatz zu den 68ern, die die NS-Sexualpolitik für sexualrepressiv hielten, war man in den 50er Jahren davon überzeugt, dass die Nazis Promiskuität und sexuelle Frevelhaftigkeit schamlos propagiert hätten.

Die offiziell betriebene Re-Christianisierung Westdeutschlands - so Dagmar Herzog - sei politisch mit Hilfe der christlichen Kirchen als Gegenbewegung zur Säkularisierungspolitik der Nazis gefördert worden und sollte auch das konkrete Ausmaß der Gräueltaten des NS-Regimes und die konkrete Mitschuld der Bevölkerung verwischen. Die Liberalisierung der Sexualpolitik in der Bundesrepublik war ein gesamtgesellschaftlicher Entwicklungsprozess," ... die komplizierte Mischung aus Kontinuitäten und Brüchen, Rekonstruktion und Neuanfang sowie die subtile Dynamik der Neudefinition und Neuinterpretation ... Es wurde ein vollkommen neues Bild des Dritten Reiches entworfen, und zwar eines, auf das sich ... Eltern und Kinder, Linke, Liberale und Konservative einigen konnten, wenn auch aus jeweils ganz unterschiedlichen Motiven" (S. 134).

Herzog analysiert in ihrer einzigartigen Monografie, wie Sexualität in der Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert in unterschiedlichen Staatsformen und Politikkonzepten nicht nur zu einem "Hauptschauplatz für soziale und kulturelle Konflikte" wurde, sondern auch zu einem Motor der Wirtschaftsentwicklung: "Sexualität wurde in ständig wachsendem Maße öffentlich ... Die dynamischen Veränderungen in den volkswirtschaftlichen Funktionsweisen und Prozesse von Anpassung und Entgegenkommen zwischen Staat und Bürgern brachten offenbar sowohl eine immer wieder neue Kombination von Anreizen für als auch eine Regulierung von Sexualitäten mit sich - Phänomene, die sich im ostdeutschen Staatssozialismus ebenso beobachten lassen, die unter dem Nationalsozialismus und im demokratischen Kapitalismus des Westens" (S. 313).

Herzog analysiert in ihrer Monografie die zentrale Bedeutung von Sexualität für das Verständnis von historischen und politischen Entwicklungen und sensibilisiert für die ideologischen Zusammenhänge. Es war eine gute Entscheidung, den Band von Dagmar Herzog neu aufzulegen und wir warten gespannt auf dessen Fortschreibung bis in die heutige Zeit.


Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Psychosozial-Verlag Gießen 2021, Buchreihe: Beiträge zur Sexualforschung. 432 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, kartoniert, Paperback EUR 39.90; unveränderte Neuauflage der deutschen Ausgabe von 2005 (Siedler).

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Quelle:
© 2021 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 7. Dezember 2021

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