Schattenblick → INFOPOOL → BUCH → MEINUNGEN


BUCHBESPRECHUNG/212: Marc Saxer - Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise (Klaus Ludwig Helf)


Marc Saxer

Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2022


Die westliche Welt ist in einem Zustand des Krisenmodus und kommt scheinbar nicht mehr zur Ruhe, so die These des Autors des vorliegenden Bandes: Eurokrise, Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Demokratiekrise, Klimakrise, moralische und kulturelle Krise, Gesundheits- und Coronakrise. Kaum sei ein Feuer ausgetreten, lodere ein anderes auf. Jetzt aber sei der Feuerlöscher leer, und es brenne lichterloh. Die Krisen, so der Autor weiter, hingen zusammen, verstärkten und bedingten sich gegenseitig, seien Symptome einer großen Systemkrise, deren Wurzeln weit bis in die 70er-Jahre zurückreichten, als dem Industriekapitalismus die Puste ausgegangen, die Nachfrage und die Profite eingebrochen seien. Ein Programm der Deregulierung, Privatisierung, Globalisierung und Liberalisierung sei zum Glaubensbekenntnis der kapitalistischen Welt geworden: "Der Neoliberalismus war geboren und trug seine Ideen bis in die entferntesten Winkel des Planeten... Aber der Neoliberalismus war nie dafür geeignet, die Systemkrise zu lösen. Im Gegenteil, das neoliberale Programm hat die Krisen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, hervorgerufen und verschlimmert" (S. 7).

Spätestens mit Beginn der globalen Finanzkrise sind die westlichen Demokratien in einer tiefgreifenden Dauerkrise. Über diesen Befund besteht in den Sozialwissenschaften ein breiter Konsens, aber nicht über deren erfolgversprechende, strategische Überwindung im Sinne eines emanzipatorischen Fortschritts.

Marc Saxer greift mit seinem neuen Buch in die Debatte ein. Die Lösung der vielen Krisen könne nicht durch "kleinere Reparaturen" erfolgen, sondern nur durch die "Transformation der alten, sterbenden Ordnung". Der "überfällige Paradigmenwechsel" scheiterte aber seit Jahrzehnten am Widerstand derjenigen, die vom Status Quo profitierten oder zu profitieren glaubten. Während Aktivisten glaubten, dass sich die Welt verändere, wenn es nur genügend Menschen gebe, die ihr Verhalten anpassen, ohne bei der Neugestaltung auch Verbündete zu suchen, hielten die Technokraten die gesellschaftlichen Verhältnisse für nahezu unveränderlich und wagten nur eine "Politik der kleinen Schritte". Beide Denkschulen seien nicht in der Lage, den notwendigen Wechsel durchzusetzen und verstärkten ungewollt die Krise des Status quo.

Marc Saxer setzt dagegen auf eine integrative, systemüberwindende Strategie: "Alle Politik entsteht aus lokalen Kräfteverhältnissen - und zielt auf die Veränderung dieser Kräfteverhältnisse. Der Transformative Realismus versteht Paradigmenwechsel als Ergebnis gesellschaftlicher Machtkämpfe. Den Status quo kann also nur eine breite gesellschaftliche Allianz überwinden, die genügend Machtmittel mobilisieren kann, um sich gegen den Widerstand der Beharrungskräfte durchzusetzen" (S. 12).

Marc Saxer, Politologe und Jurist, Mitglied der SPD-Grundwertekommission, ist Leiter des Asien-Referats der Friedrich-Ebert-Stiftung, davor FES-Landesvertreter in Indien und Thailand sowie Koordinator des Projekts Economy of Tomorrow in Asia.

Der Band hat eine orientierende Einleitung, vier Hauptkapitel mit sechsundzwanzig Kapiteln, einen Epilog, eine Danksagung und die Anmerkungen zu den einzelnen Texten. Im ersten Teil befasst sich der Autor mit den "vielen Brandherden" der Systemkrise. Der Neoliberalismus habe die Handlungsfähigkeit der Nationalstaaten geschwächt, die Demokratie ausgehöhlt, Gemeinschaften erodiert, soziale Sicherheiten abgebaut und alle Lebensbereiche einer ökonomischen Logik unterworfen. Als Hauptverursacher der Krise sei er nicht in der Lage, diese zu meistern. Der Autor fragt zu Recht: "Wenn der Neoliberalismus aber bankrott ist, warum gelingt es dann dem progressiven Lager nicht, einen Richtungswechsel zu erkämpfen? Warum ist der Neoliberalismus als Wirtschaftsprogramm tot, lebt aber als Ideologie weiter fort? (S. 10).

Im zweiten Kapitel analysiert er scharfsinnig und treffgenau die Schwachpunkte der wichtigsten "progressiven Strömungen" und versucht, die Hebelpunkte und Strategien einer zukunftsfähigen Politik der Transformation herauszuarbeiten. Die SPD habe mit ihrer Agendapolitik die neoliberalen Reformen vorangetrieben, als "Schutzmacht der Arbeitenden" sowie als "Reparaturwerkstatt des Kapitalismus" versagt, die Partei selbst und das linke Lager gespalten: "Enttäuscht und nicht selten verbittert wendete sich eine Wählergruppe nach der anderen ab. Bis heute sucht die Sozialdemokratie nach einem Ausweg aus dieser Glaubwürdigkeitsfalle" (S. 11).

Die SPD - so Marc Saxer - müsse sich "nach links" bewegen, ohne Ängste vor einer Übersteuerung nach links-außen zu schüren, sondern in Arbeitsteilung mit der Linkspartei die "arbeitende Mitte der Gesellschaft" stärken. Es reiche nicht aus, dass die SPD als Reparaturbetrieb des Kapitalismus agiere, sondern diese müsse den Kapitalismus in den "Dienst des Gemeinwesens" stellen, ohne die soziale Marktwirtschaft grundsätzlich in Frage zu stellen. Die 'progressiven Neoliberalen' hätten mit ihrer moral- und kultural-basierten Politik und durch die Verleugnung von Verteilungskonflikten, Machtasymmetrien und Klasseninteressen als "Helfershelfer der Marktradikalen" versagt.

Der 'postmarxistischen Linken' sei es bis heute nicht gelungen, aus den "Trümmern des Marxismus" ein hegemoniefähiges Projekt zu zimmern, in der Analyse der Krise des globalen Kapitalismus zu überwinden. Die Exzesse der 'Cancel Culture' hätten das progressive Lager in konkurrierende, sich lautstark bekriegende Stämme fraktioniert. Die 'Links-Identitären' hätten sich auf kulturelle Anerkennungsthemen statt auf materielle Verteilungs- und Machtkonflikte konzentriert und damit Mitschuld an der Polarisierung der Gesellschaft: "Wer der der Bevölkerungsmehrheit pauschal unterstellt, unheilbar rassistisch zu sein, und selbst Progressiven das Wort verbieten will, muss sich nicht wundern, wenn sich natürliche Verbündete genervt abwenden... die neo-maoistische Kulturrevolution befeuert also die rechts-identitäre Revolte, die sie zu bekämpfen vorgibt" (S. 10/11). In den politischen und sozialwissenschaftlichen Debatten über die richtigen Strategien für den Wandel gäbe es nicht nur unterschiedliche Denkschulen, sondern es werde auch viel aneinander vorbeigeredet, vor allem wegen der Verwendung unscharfer Begriffe wie Klassen, Schichten, Milieus, Lebenswelten, Identitäten, Lagertypen, die im öffentlichen Diskurs oft recht beliebig verwendet würden.

Marc Saxer fordert dagegen einen radikalen Perspektivenwechsel, ein neues Denken, das gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Werten und Weltsichten, Identitäten und Interessen zusammenführt, um die "Klimafinanzeuropamigrationsdemokratiekrise" durch "Transformation der alten, sterbenden Ordnung" (S. 12) zu überwinden. Im dritten Teil des Bandes stellt er die möglichen Strategien des Transformativen Realismus vor, der durch ein neues Narrativ und durch die Bildung breiter gesellschaftlicher Allianzen die "organische Krise des globalen Kapitalismus" (Gramsci) überwinden könne: "Die Plattform der Brücke unterscheidet sich trotz einiger Kontinuitäten von den breiten Zelten der alten Volksparteien....rekrutiert ihre Bündnispartner daher nicht quer durch die Bevölkerung, sondern spricht gezielt verwandte Wertewelten an. Statt mit einem bunten Tableau an maßgeschneiderten Politikangeboten für jede noch so kleine Gruppe, setzt die Plattform der Brücke auf ein überwölbendes Narrativ von einem besseren Morgen. Um zur Plattform einer transformativen Allianz zu werden, muss die Agenda der Brücke disruptiv und pfadbrechend auf den entscheidenden Zukunftsfeldern sein" (S. 156). Auf keinen Fall dürften Verteilungs- und Machtfragen zugunsten kultureller Identitätsfragen suspendiert werden.

Welche Rolle kommt der SPD zu? Als Mitglied ihrer Grundwerte-Kommission aktualisiert Marc Saxer die 'historische Mission der Sozialdemokratie'. Diese habe immer wieder darin bestanden, den Ausgleich zwischen allen sozialen Klassen auszuhandeln und auszubalancieren. Die sozialen Nachkriegsdemokratien Europas und Nordamerikas seien auf einem "sozialdemokratischen Kompromiss" gegründet, der die Grundelemente der kapitalistischen Wirtschaftsordnung akzeptiere. Im Gegenzug habe die Kapitalseite auf einen Teil ihrer Eigentumsrechte zugunsten der Mitfinanzierung eines umfassenden Sozialstaates, steigender Löhne, besserer Sozialbedingungen und Mitbestimmung der Arbeiterschaft verzichtet. Die Sozialdemokratie sollte daher eine Brücke bauen zwischen den sozialen Klassen und den ideologischen Wertewelten, zwischen denen der post- marxistischen Linken und der progressiven Neo-Liberalen einerseits und der weltoffenen Linksliberalen und denen der heimatverbundenen Realisten andererseits - breite gesellschaftliche Allianzen mit unterschiedlichen oder konträren Interessen und Moralvorstellungen, die genügend Machtressourcen mobilisieren könnten, um den Politikwechsel durchzusetzen.

Im vierten Teil des Bandes stellt Marc Saxer fünf Plattformen für transformative Allianzen vor, um die Systemkrise zu überwinden: Green New Deal, der "hegende und pflegende Gärtnerstaat", eine menschengerechte Wirtschaft, die solidarische und souveräne Schutzmacht Europa und die lebenswerten Heimaten. Die Zeit für eine Neuordnung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse sei günstig, da das neoliberale Entwicklungsmodell krisenanfällig sei und keine Antworten finde auf zentrale Herausforderungen wie Klimawandel, Ungleichheit oder Migration.

Marc Saxer hat mit diesem Band nicht nur eine scharfsinnige und weitsichtige Analyse vorgelegt, sondern auch einen zukunftsfähigen und tragfähigen Ansatz einer transformativen Strategie entwickelt, der eine breite gesellschaftliche Basis finden kann, fraglich ist dabei, ob die SPD die ihr zugedachte Rolle als Promoter übernehmen kann und will. Dazu müssten innerhalb der Partei von Grund auf nicht nur organisatorisch, programmatisch und mental, sondern auch personell einige Veränderungen stattfinden und auch die Bereitschaft steigen, Analysen und Vorschläge ihrer wohlgesinnten Vordenker in ihrer Grundwertekommission zur Kenntnis zu nehmen und zu diskutieren.


Marc Saxer: Transformativer Realismus. Zur Überwindung der Systemkrise. Verlag J. H. W. Dietz Nachf. Bonn 2021, 240 Seiten, Broschur, 22 EURO.

*

Quelle:
© 2022 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 12. Februar 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang