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BUCHBESPRECHUNG/216: Der Briefwechsel zwischen Heinrich und Thomas Mann in einer Neuausgabe (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2022

"Mehr als befreundet, weniger als Freund"
Der Briefwechsel zwischen Heinrich und Thomas Mann in einer Neuausgabe

Von Hanjo Kesting


Sie waren ein schwieriges Brüderpaar. Beide aus bürgerlichem Haus, beide große Schriftsteller und doch im Kern so unterschiedlich, dass sie die Anschauungen des anderen nicht unkommentiert ertrugen. Was anfangs lediglich Rivalität war, schlug im Laufe der Jahre in intellektuelle Gegnerschaft um, die ihren Gipfel während des Ersten Weltkriegs erreichte und sich erst in der Konfrontation mit dem Nationalsozialismus zugunsten eines gemeinsamen Engagements gegen die Barbarei entschärfte. Thomas Mann hat die Beziehung zu seinem Bruder Heinrich in die Hamlet-Formel gefasst: "A little more than kin and less than kind" - "Mehr als befreundet, weniger als Freund".

Es ging nicht nur um persönliche Dinge, nicht bloß um einen Familienstreit oder um Eifersucht zwischen zwei Schriftstellern. Der Zwist war zugleich ein exemplarischer, überpersönlicher, wenn man so will: "zeitloser" Konflikt - über Deutschlands Weg und Stellung in Europa, über "Zivilisation" und "Kultur", Demokratie und Untertanenstaat, über die Rolle des Schriftstellers in Politik und Gesellschaft, über künstlerisches "Engagement" auf der einen Seite, "reines" Künstlertum auf der anderen, über den "politischen" Schriftsteller hier, den sogenannten "unpolitischen" dort. In den konträren Haltungen der Brüder sind aus heutiger Sicht also zwei Möglichkeiten einer deutschen politischen Identität zu erkennen.

Die Korrespondenz der Brüder, über 50 Jahre hinweg geführt, ist das wichtigste Zeugnis ihres Verhältnisses. Sie ist erst spät und sukzessive ans Licht gekommen, von Ausgabe zu Ausgabe erweitert, und noch immer gibt es Gelegenheitsfunde, die unsere Kenntnis erweitern. Die jetzt bei S. Fischer erschienene Neuausgabe des Briefwechsels, herausgegeben von Katrin Bedenig und Hans Wißkirchen, umfasst 377 Dokumente und ist gegenüber der letzten Ausgabe um über 100 Stücke, hauptsächlich Postkarten von Thomas Mann, erweitert. Gleichwohl haben wir es mit einem Fragment zu tun. Denn aus der Zeit zwischen 1900 und 1920, der Zeit des eigentlichen Bruderzwistes, sind nur die Briefe Thomas Manns erhalten, während die Briefe Heinrichs, von einigen Entwürfen abgesehen, verloren sind. Und auch später gibt es immer wieder Lücken.

Dadurch wirkt die Korrespondenz merkwürdig windschief: Thomas Mann redet unablässig, Heinrich Mann aber schweigt. Ohnehin sieht es so aus, als hätten die Brüder, seit den Jugendjahren eng miteinander vertraut, sich im Laufe der Zeit der ersten Erfolge und Misserfolge, einander entfremdet. Höhepunkt der Entfremdung sei dann die öffentliche Polemik der Weltkriegsjahre gewesen. Danach sei eine Versöhnung erfolgt, und die Brüder hätten fortan gemeinsam gewirkt. Diese Betrachtungsweise ist zwar nicht völlig falsch, aber die Wirklichkeit war vielschichtiger und komplizierter.

Es gab nicht das beredte Schweigen des älteren Bruders zu all den Briefen des jüngeren. Heinrich Mann hat geantwortet und Thomas nicht selten mit Polemik herausgefordert oder durch Hochmut verletzt. Vor allem darf man sich durch den wachsenden Weltruhm Thomas Manns und durch sein postumes Übergewicht nicht dazu verleiten lassen, in ihm den überlegenen Kontrahenten zu sehen. Hans Wißkirchen, der Mitherausgeber der Neuausgabe, legt in seinem langen und tiefdringenden Einleitungsessay überzeugend dar, dass Heinrich Mann stets der "Vorausgehende" und "Vorwegnehmende" war, von prägender Kraft gegenüber dem jüngeren Bruder, zudem ein Korrektiv, das den Jüngeren zeitlebens daran erinnerte, wie man auch leben und schreiben konnte.

Thomas Mann hat den Einfluss des Bruders viel tiefer erlebt und erlitten als umgekehrt. "Du störst mich nicht", schrieb Heinrich auf dem Höhepunkt des Bruderzwistes an Thomas, als dieser ihr "brüderliches Weltverhältnis" beschwor: "Was mich betrifft, ich empfinde mich als durchaus selbständige Erscheinung, u. mein Welterlebnis ist kein brüderliches, sondern eben das meine."


Die Genese des Bruderzwistes

Ganz am Anfang steht eine Blitzlichtaufnahme aus dem Sommer 1897, den die Brüder gemeinsam in Italien verbrachten - Heinrich Mann hat Thomas auf dem Höhepunkt des Bruderzwistes daran erinnert: "'In inimicos' sagtest Du, 22-jährig am Klavier sitzend (...) nach rückwärts gewandt gegen mich." Das war eine frühe Kampfansage des Jüngeren, der sich gegen den älteren, schon halbwegs etablierten Schriftsteller-Bruder zu behaupten suchte. Heinrich, jäh überfallen von seinem Talent, entwarf damals den Roman Im Schlaraffenland, während Thomas Mann an dem Familienroman Buddenbrooks zu schreiben begann. Drei Jahre später erschien dieses große Buch, und verhalf ihm zu jähem literarischen Ruhm.

Der Konkurrenzkampf zwischen den Brüdern war damit ein für alle Mal entschieden, aber die Rivalität mit Heinrich blieb für Thomas Mann dennoch ein schmerzhafter Stachel. An die Schriftstellerin Ida Boy-Ed schrieb er: "Haben Sie geglaubt, daß ich ein Verhältnis zu seinen Sachen habe? Wegen seines letzten Buches haben wir uns beinahe überworfen. Dennoch ist die Empfindung, die seine künstlerische Persönlichkeit mir erweckt, von Geringschätzung am weitesten entfernt. Sie ist eher Haß. Seine Bücher sind schlecht, aber sie sind es in so außerordentlicher Weise, daß sie zu leidenschaftlichem Widerstande herausfordern."

Thomas Mann ließ den Bruder, als dieser den Roman Die Jagd nach Liebe ausbrachte, seinen Widerstand spüren: "Daß ich mit Deiner litterarischen Entwicklung nicht einverstanden bin, - muß einmal ausgesprochen werden", schrieb er in einem Brief vom Dezember 1903. Und dann folgte eine Attacke gegen Buch und Autor, wie sie an Härte und Hochmut kaum zu überbieten ist: "(...) diese verrenkten Scherze, diese wüsten, grellen, hektischen, krampfigen Lästerungen der Wahrheit und Menschlichkeit, diese unwürdigen Grimassen und Purzelbäume, diese verzweifelten Attacken auf des Lesers Interesse!" So geht es über drei, vier Seiten. Thomas Manns Brief war ein Totalverriss von Heinrichs Roman, eine erbarmungslose Vivisektion seiner Fehler und Schwächen, psychologisch aufschlussreich vor allem durch den Umstand, dass der Briefschreiber sich im Laufe der Niederschrift zunehmend entfesselt und enthemmt.

Kein Zweifel, dass sich Thomas Manns Affekt weniger gegen das Werk des Bruders als gegen dessen Person richtete. Hans Wysling, der vormalige Herausgeber des Briefwechsels, hat die Auffassung vertreten, dass Heinrich im psychischen Haushalt von Thomas nach dem frühen Tod des Vaters an dessen Stelle getreten sei und eine Art "Haßneid" erzeugt habe. Marcel Reich-Ranicki suchte die Ursache dieses Hassneides in der unterschiedlichen sexuellen Veranlagung der Brüder: in Thomas Manns schwieriger, vor der Welt verborgener Neigung zum eigenen Geschlecht und in Heinrich Manns bis zu offener Libertinage gesteigertem Verhältnis zu Frauen.

Auch dafür ist Thomas Manns Brief vom Dezember 1903 ein eindrucksvolles Zeugnis. Am Ende seiner Generalabrechnung kommt er auf Heinrichs "Sexualismus" zu sprechen: "Sexualismus ist das Nackte, das Unvergeistigte, das einfach bei Namen Genannte", heißt es da. "Es wird ein wenig oft bei Namen genannt in der 'Jagd nach Liebe'. Wedekind, wohl der frechste Sexualist der modernen deutschen Literatur, wirkt sympathisch im Vergleich mit diesem Buch."

Heinrich Manns Antwort auf diese kritisch-zügellose Abrechnung galt lange als verschollen, bis 1998 fast zufällig ein Antwortentwurf entdeckt wurde: ein Text von vielen Bogen Länge, der trotz aller selbstkritischer Zugeständnisse als Versuch der Selbstbehauptung imponiert. Erstmals vollständig in den Briefwechsel aufgenommen, bildet er dessen eigentliche pièce de résistance, indem er die kommenden Entwicklungen vorwegnimmt.

Hellsichtig sind bereits die an die Adresse des Bruders gerichteten Sätze: "Du (...) fühlst hinter Dir das beruhigende, stärkende Stimmengewirr eines Volkes (...) Die Gefahr besteht für Dich höchstens darin, daß Du allzu wohlig in die nationale Empfindungsweise untertauchst, daß das Leben (...) bei Dir gar zu heiter-formlos wird (...) und die Frauen bei Dir nur noch castrirt vorkommen." Zum Schluss heißt es fast prophetisch: "Was Dich lenkt, Dich stärkt, Dich beherrscht (...) ist, wie wir wissen, das heutige Deutschland, das chauvinistische und darum reaktionäre Deutschland Wilhelms II."


Der "deutsche Bruderkrieg"

Kein Zufall, dass der Bruderzwist im Hause Mann, der bereits zehn Jahre zuvor begonnen hatte, mit Beginn des Weltkriegs aus der Latenz trat, eskalierte und zuletzt polemisch sich entlud. Die Brüder nahmen ^jetzt keine Rücksicht mehr auf die Empfindungen des anderen, sie bekannten sich öffentlich zu ihrem Zerwürfnis und zogen, jeder für sich, Parteigänger an: Thomas Mann als Apologet des Krieges, Heinrich Mann als dessen entschiedener Kritiker. Thomas Mann bekannte sich zum kaiserlichen Deutschland und verteidigte dessen kulturellen und politischen Sonderweg einer - wie er es nannte - "machtgeschützten Innerlichkeit". Heinrich Mann hingegen, der gerade seinen Roman Der Untertan abgeschlossen hatte, entwickelte sich immer mehr zum Fürsprecher eines künftigen Europas, eines Europas aus dem Geist der westlichen Demokratie. Die Niederlage Deutschlands, die er als unvermeidlich ansah, betrachtete er als die notwendige Voraussetzung dafür.

Das war der zentrale Gedanke seines großen Essays über Zola, den er 1915 publizierte und der bereits durch sein Thema eine politische Provokation war: Zolas Werk wurde hier gedeutet als Frucht der Kriegsniederlage von 1870/71. Provoziert fühlte sich vor allem Thomas Mann, der mehrere Jahre aufwendete, seine Antwort auszuarbeiten: die Betrachtungen eines Unpolitischen, ein Buch von 600 Seiten, politisch tief reaktionär, aber von großem gedanklichen Reichtum und sprachlichem Glanz.

Im Kern waren die Betrachtungen aber ein "Anti-Heinrich", angelegt als imaginäres Gespräch mit dem hassgeliebten Bruder, der darin als "Zivilisationsliterat" attackiert wird. Egon Friedell, der Wiener Essayist, schrieb nach Erscheinen des Buches: "Dieses Werk ist von seiner ersten bis zu seiner letzten Zeile ein einziger großer 'deutscher Bruderkrieg'. Es herrscht in diesem Werke, das ein vulkanischer Ausdruck und Auswurf aller Empfindungen unserer Zeit ist wie vielleicht kein zweites, eine Atmosphäre geheimer feindlicher Verwandtschaft und intimsten Mißverständnisses, wie sie nur zwischen zwei großen Bluts- und Geistesbrüdern möglich ist..."


Annäherung und Versöhnung

Dann kam der große historische Umbruch: die deutsche Niederlage, Revolution und Gegenrevolution, die Ausrufung einer deutschen Republik. Für einen kurzen historischen Augenblick war Heinrich Mann, Verfasser des "Untertans", der verehrte literarische Repräsentant der neuen Ära. Thomas Mann, der sich von einem Tag auf den anderen in die Rolle des Unzeitgemäßen, scheinbar Abgelebten versetzt sah, verstand die Niederlage Deutschlands als Sieg Heinrichs, des "Zivilisationsliteraten". Sein Hass auf den Bruder blieb die Konstante der folgenden Jahre, vielleicht die einzige, die für ihn selber Identität verbürgte. Sie schloss jede Versöhnung vorerst aus.

Als aber ein schwedischer Besucher die Möglichkeit des Nobelpreises für ihn andeutete, notierte er im Tagebuch: "Ich wollte, diesen Preis gäbe es nicht, denn wenn ich ihn erhalte, wird es heißen, daß er H. zugekommen wäre, und wenn dieser ihn erhält, werde ich darunter leiden. Das Wohltuendste wäre, wenn man ihn zwischen uns teilte." Dann aber, im Januar 1922, erkrankte Heinrich schwer, und es kam zu einer wenigstens äußerlichen Versöhnung. "Ein modus vivendi menschlich-anständiger Art wird alles sein, worauf es hinauslaufen kann", schrieb Thomas Mann an seinen Freund Ernst Bertram. "Eigentliche Freundschaft ist kaum denkbar."

Von nun an und fast 30 Jahre lang liest sich der Briefwechsel wie ein Krebsgang zum ersten Teil der Korrespondenz. Jetzt sind die meisten Briefe beider Partner erhalten, und man gewinnt den Eindruck, dass es Heinrich ist, der unablässig an den Bruder schreibt und sich anvertraut. War der Bruderzwist damit endgültig beigelegt? Thomas Mann hat seinen "Haßneid", allem Weltruhm zum Trotz, nie gänzlich überwunden. Alle Versuche, den älteren Bruder gegen ihn auszuspielen, bewirkten, wie sein Tagebuch bezeugt, nur die "Auferstehung alter Qual". So ist der Briefwechsel zwischen Heinrich und Thomas Mann eine ebenso bewegende wie erregende Lektüre. Sie bringt uns die beiden großen Schriftsteller im Doppelbild vor Augen, noch in ihren Gegensätzen und Konvergenzen unauflöslich miteinander verflochten. Gemeinsam repräsentieren sie die unverzichtbare Erbschaft der bürgerlichen Zeit.

Heinrich Mann/Thomas Mann: Briefwechsel (Hg. von Katrin Bedenig und Hans Wißkirchen in Erweiterung der Edition von Hans Wysling). S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, 816 S., 32 EUR.


Hanjo Kesting
ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Bei Wallstein erschienen 2019 seine dreibändige Studie Große Erzählungen der Weltliteratur sowie der Essay Theodor Fontane. Bürgerlichkeit und Lebensmusik .

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2022, S. 58 - 62
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E-Mail: ng-fh@fes.de
Internet: www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick zum 9. April 2022

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