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BUCHBESPRECHUNG/227: Yvonne Frenzel Ganz, Andrea Kager (Hg.) - Cinépassion - Coming of Age. Eine psychoanalytische Filmrevue (Klaus Ludwig Helf)


Yvonne Frenzel Ganz, Andrea Kager (Hg.)

Cinépassion - Coming of Age: Eine psychoanalytische Filmrevue

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2023


Psychoanalytische Filmreihen haben in den Kinos größerer Städte im deutschsprachigen Raum eine über zwanzigjährige Tradition. Zürich hat jedoch in Sachen Kinofilm in Europa eine Pole-Position. Die Filme werden hier mehrheitlich in Originalfassung mit Untertiteln gezeigt, die Kinodichte ist im Verhältnis zur Einwohnerzahl sehr hoch, das Züricher Kinopublikum gilt als anspruchsvoll und leidenschaftlich cinéphil und Zürich ist Europas Teststadt für Studiofilme. Eine weitere Besonderheit und Erfolgsgeschichte ist das 2006 gegründete Projekt Cinépassion, eine private Initiative u. a. von Mitgliedern des Freud-Instituts Zürich, die sich mit dem Medium Film aus der psychoanalytischen Perspektive beschäftigt. In Zusammenarbeit mit der Zürcher Arthouse Commercio Movie AG werden regelmäßig ausgewählte Spielfilme gezeigt, die anschließend von PsychoanalytikerInnen kommentiert und mit dem Publikum diskutiert werden.

Jetzt liegt der bereits vierte Sammelband des Projektes vor, der sich dieses Mal mit dem Thema Coming of Age beschäftigt. Aus psychoanalytischer Perspektive untersuchen die Autorinnen und Autoren Prozesse und Krisen, Gelingen und Scheitern dieser für Jugendliche essenziellen Umbruchsphase anhand von zwanzig exemplarisch ausgewählten Kino-Filmen. Thematisch behandeln die Filme u.a. den Migrationshintergrund beim Heranwachsen (Die Fremde, Persepolis), die gesellschaftlichen Faktoren (Das weiße Band, Fish Tank), die erwachende Sexualität der Jugendlichen (The Dreamers, Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern), Konflikte um Ablösung von Eltern-Figuren (Mommy, Home, The Return), die Suche nach der eigenen Identität (Star, Billy Elliott) und die unbändige Aggression und Gewalt (A Clockwork Orange, We need to talk about Kevin).

Die Autorinnen und Autoren des Bandes haben ihre Einführungen und Kommentare, die sie im Kino-Saal gesprochen hatten, verschriftlicht und um weiterführende Literatur und biografische Angaben ergänzt. Die Herausgeberinnen des Bandes, die auch Autorinnen sind, machen deutlich, dass eine psychoanalytisch fokussierte Interpretation der "Komplexität der Kunstgattung Film" filmwissenschaftlichen Prämissen nicht genügen könne, dennoch aber eine Möglichkeit sei, einen "faszinierenden Blick" in die Welt des Unbewussten zu geben und die Zuschauenden zum weiteren Nachdenken anzuregen: "Mehr wollen psychoanalytische Filmkommentare für das breite Publikum in der Regel nicht erreichen" (S. 9). Diesen bescheiden formulierten Anspruch erfüllt der Band in hervorragender Weise. Auch wer nicht alle Filme gesehen hat, wird bei der Lektüre in die schillernden, bunten und turbulenten, unterbewussten und unbewussten Facetten des Erwachsenenwerdens eintauchen können und zum reflektierenden Genuss angeregt werden.

Die einzelnen Interpretationen und Kommentare zu den Filmen sind den jeweiligen persönlichen Ansätzen und theoretischen Präferenzen der Autoren verpflichtet, nähern sich dem Sujet assoziativ, ohne Anspruch auf Vollständigkeit: "Sie richten sich vielmehr an das Vorbewusste der Zuschauenden, wollen antippen und öffnen, nicht abschließen. Filme gleichen Träumen; wie das klinische Material in der psychoanalytischen Situation sind sie stets mehrdeutig" (S. 11). Zwei Beispiele aus dem Band sollen die produktiven und anregenden psychoanalytischen Tiefenbohrungen demonstrieren.

In seinem Kommentar zu dem bitterbösen und gewaltvollen Film A Clockwork Orange von Stanley Kubrick (1971) merkt Markus Fäh an, dass die Filmmusik die Gewaltakte rhythmisch und melodisch begleite und dem Zuschauenden dadurch das Gefühl vermittle, dass man im Kino oder im Theater sitze. Sie breche seine Identifikationsneigung, seinen Wunsch, mit dem Protagonisten zu verschmelzen, sich kathartisch abzureagieren und das Kino entspannt zu verlassen. Die Musik (v.a. Beethoven) sage uns: "Du siehst nicht bloß nackte Gewalt, du siehst Gewalt als Ballett, als schöne Kunst, als ironische Darstellung. Dadurch zwingt Kubrick den Zuschauer in eine reflexive Position. Wie in einer Brecht'schen Oper werden wir daran gehindert, ins Gefühlige abzugleiten, und zum Nachdenken angehalten... Kubrick verdoppelt den Distanzierungs- und Verfremdungseffekt und seziert wie ein Pathologe die Anatomie der Gewalt mit kühlem Blick durchs Mikroskop" (S. 155). Markus Fäh interpretiert den Film nicht nur als Gesellschaftskritik, sondern auch als "böse Satire auf die biologische Psychiatrie und Verhaltenstherapie". Wie in seinem letzten Film Eyes Wide Shut (1999) zwinge uns Kubrick dazu, unserer eigenen "aktiven und passiven Aggressionslust ins Auge zu sehen" (S. 158).

Der Film The Dreamers von Bernardo Bertolucci (2003) illustriere in kunstvoller und abschreckender Weise die Gratwanderung des jugendlichen Tagtraums zwischen Progression und Regression, die die Zeit der Adoleszenz präge, so der Kommentar von Yvonne Frenzel Ganz. Für die beiden quasi inzestuös lebenden Jugendlichen gebe es am Ende keine Perspektive von Wachstum: "Die Zwillinge leben im großbürgerlichen Milieu und sind mehrheitlich sich selbst überlassen. Beide können die Zahl Zwei kaum denken, geschweige denn die Zahl Drei. Im narzisstischen Universum von Theo und Isabelle wird der Andere als Teil des eigenen Selbst erlebt; es gibt noch kein Getrenntsein, keine geschlechtliche Differenz" (S. 205). Ihr amerikanischer Freund Matthew, der sich von den beiden trennt, gehe dagegen aus dieser stürmischen, chaotischen, sexuell und politisch aufgeladenen juvenilen Reifungskrise "letztlich unbeschadet und gefestigt" hervor. Der verantwortungslose elterliche Hintergrund der Zwillinge werde im Film deutlich hinterfragt: "Dem Chaos in der Wohnung und im inneren Chaos ihrer Kinder konfrontiert, lassen die Eltern erneut einen blank Bankscheck liegen und schleichen sich einmal mehr aus der Verantwortung... Ein Zuviel oder Zuwenig an Grenzziehung und / oder Zuwendung hinterlässt bleibende psychische Spuren" (S. 208).


Yvonne Frenzel Ganz, Andrea Kager (Hg.): Cinépassion - Coming of Age: Eine psychoanalytische Filmrevue. Psychosozial-Verlag 2021 Gießen, 221 S., Taschenbuch

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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 7. Februar 2023

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