Thomas Piketty
Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen
von Klaus Ludwig Helf, Juli 2023
Thomas Piketty ist ein französischer Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, lehrt an der École d'Économie und an der École des Hautes Études en Sciences Sociales de Paris und forscht zu den Themen Einkommensverteilung, Vermögensverteilung und soziale Ungleichheit. Sein Band Das Kapital im 21. Jahrhundert (2014) wurde in Fachkreisen, in den Medien als auch weit darüber hinaus in Europa und in den USA intensiv und kontrovers diskutiert. Seine letzte, sehr umfangreiche Studie erschien 2020: Kapital und Ideologie. Während des Wahlkampfes zur Präsidentschaft in Frankreich 2007 war Thomas Piketty wirtschaftspolitischer Berater der sozialistischen Kandidatin Ségolène Royal. Jetzt hat er den vorliegenden Band herausgegeben, der im Beck-Verlag bereits in der vierten Auflage erschienen ist - sehr ungewöhnlich für ein Sachbuch über Gesellschaft und Ökonomie. Das hängt zum einen mit dem Bekanntheitsgrad des streitbaren und inspirierenden Autors zusammen, aber wohl auch mit der visionären Thematik und mit dem Verlangen kritischer Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nach alternativen, zukunftsfähigen Wegen aus den anhaltenden Krisen jenseits der üblichen politischen Trampelpfade.
Um es gleich vorwegzunehmen: Der Band ist eine "Volksausgabe", eine auch für Laien verständlich und lesbar geschriebene, überzeugende und anregende Kurz-Version der beiden oben erwähnten, dickleibigen (über 1000 Seiten Umfang) wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Vielleicht regt er auch dazu an, sich mit diesen Studien intensiver zu beschäftigen und sie als Handbücher für die fundierte Argumentation zu benutzen.
Nach dem Vorwort folgen in dem vorliegenden Band drei Hauptkapitel: Für eine andere Globalisierung (2026-2017) / Reagan hoch zehn (2017-2018) / Wer Europa liebt, muss es verändern (2018-2021). Abgedruckt wurden die monatlichen Kolumnen für die Tageszeitung Le Monde vom September 2016 bis Juli 2020, nicht verändert oder aktuell umgeschrieben, sondern nur um Grafiken, Tabellen, Referenzen und weitere Texte aus Pikettys Blog ergänzt. Seine langjährigen Forschungen zur Geschichte der Ungleichheit, zur Einkommens- und Vermögensverteilung, zum Zusammenhang von wirtschaftlicher Entwicklung, Vermögensverteilung und politischen Konflikten und auch seine Erfahrungen als "beobachtender Staatsbürger" des Zeitraums 1990-2020 hätten ihn in der Überzeugung bestärkt, seine ehemals eher liberalen Grundüberzeugungen über Bord zu werfen, berichtet Thomas Piketty im Vorwort:
"Ich bin der Überzeugung, dass wir ... wieder über die Überwindung des Kapitalismus nachdenken müssen und einen neuen, partizipativen und dezentralen, föderal und demokratischen, ökologischen, diversen und feministischen Sozialismus brauchen" (S.10).
Man könne nicht nur "gegen" Kapitalismus oder Neoliberalismus sein, sondern müsse auch genau das ideale Gesellschafts- und Wirtschaftssystem definieren, das uns vorschwebe, denn ohne klar formulierte Alternative werde uns das aktuelle kapitalistische System noch lange begleiten. Die Geschichte werde zeigen, ob das Wort Sozialismus endgültig tot und zu verwerfen sei.
Im vorliegenden Band möchte Piketty zentrale Elemente eines "partizipativen Sozialismus" plausibel und allgemeinverständlich vermitteln, die er bereits in seiner umfangreichen Studie Kapital und Ideologie ausführlich beschrieben hat (ca. 90 Druckseiten!). Es sei der Versuch, aus "seinem Elfenbeinturm und seinen tausendseitigen Büchern hinabzusteigen, um sich im politischen Tagegeschehen einzubringen, was auch einige Risiken birgt" (S. 12). Er hoffe, "einige nützliche Anregungen" für die kritische Leserschaft beisteuern zu können.
Ungleichheit - so Piketty in einem optimistischen Resümee seiner historisch-empirischen Forschungen - sei ideologischer und politischer, keineswegs ökonomischer oder technischer Natur, sondern langfristig gesehen Ergebnis der Sozial- und Steuerpolitik des 20. Jahrhunderts. Daher könne man auch politisch umsteuern. Eine gerechte Gesellschaft basiere nach Piketty auf folgenden Grundannahmen: Zuerst allgemeiner Zugang zu Gütern der Grundversorgung (Bildung, Gesundheit, Rente, Wohnen, Umwelt etc.), die eine Teilhabe am sozialen und wirtschaftlichen Leben erst ermöglichen, dazu ein Grundeinkommen und eine Mindesterbschaft für alle (ca. 120.000 Euro ab dem Alter von 25 Jahren), primär finanziert durch ein radikales System progressiver Vermögens- und Erbschaftsteuer (Spitzensteuersätze von 80-90 %).
In einer nach Piketty idealen Gesellschaft besitze jeder Mensch einige hunderttausend Euro, einige Wenige ein paar Millionen. Darüber hinausgehendes Eigentum wäre jedoch nur von kurzer Dauer und durch das Steuersystem rasch reduziert: "Durch eine Umverteilung des Eigentums kann man also alle Machtverhältnisse und gesellschaftlichen Herrschaftsbeziehungen neu definieren" (S. 23). Aber wie kann man das alles finanzieren bei der hohen Staatsverschuldung? Piketty erinnert daran, dass nach dem zweiten Weltkrieg viele Staaten zum Abbau ihrer Staatsverschuldung Sondersteuern auf die größten Privatvermögen eingeführt hätten, so z.B. auch Deutschland mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952: "Mit der Währungsreform von 1948 und der Annullierung der Auslandsschulden 1953 konnte sich Deutschland mit Hilfe des Lastenausgleichs seiner Staatsverschuldung entledigen" (S. 232).
Das von Piketty entworfene Modell eines "partizipativen Sozialismus" hat mehrere Säulen: Bildungsgleichheit und Sozialstaat, permanente Zirkulation von Macht und Eigentum, Sozialföderalismus, Stärkung von Mitbestimmungsrechten in Gesellschaft und in Unternehmen und nicht zuletzt eine nachhaltige, gerechte Globalisierung. Auch die Themen Ökologie, Patriarchat, Feminismus und Postkolonialismus sollten bearbeitet werden. Der Weg dahin könne nur auf demokratischem Wege, nicht top-down oder gewaltvoll, sondern rechtsstaatlich und durch kollektive Entscheidungsfindungen gestaltet werden. Die Demokratisierung der EU-Strukturen und die Aufhebung der Klassenspaltung sei absolut bedeutend:
"Unser heutiges Europa muss nicht zwangsläufig von Hayeks Vision geprägt sein. Europa dient gewissen Akteuren gegenwärtig als Flagge, unter der sie ihre Klassenpolitik durchsetzen. Doch wir müssen uns daran erinnern, dass Europa auch anders organisiert sein könnte" (S. 170).
Die in dem Band zusammengestellten Artikel behandeln eine große, vielschichtige Bandbreite gesellschaftlich und ökonomisch relevanter Themen, die von Thomas Piketty tagesaktuell und auch für Nichtökonomen verständlich aufbereitet werden auf der Grundlage seiner langjährigen Forschungsarbeiten. Seine "Interventionen" haben eine visionäre Wucht, regen zum Nach- und Weiterdenken an und sicher auch zur Kritik in einzelnen Fällen.
Thomas Piketty: Der Sozialismus der Zukunft. Interventionen. C. H.
Beck Verlag München 2021, 4. Auflage 2022, aus dem Französischen von Andre
Hansen, 232 Seiten, 16,95 Euro
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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 4. Juli 2023
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