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BUCHBESPRECHUNG/238: Boris Cyrulnik - Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können (Klaus Ludwig Helf)


Boris Cyrulnik

Die mit den Wölfen heulen
Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können

Von Klaus Ludwig Helf, September 2023


Die Eltern des Autors waren von Polen nach Frankreich eingewanderte Juden, die während des Zweiten Weltkriegs in nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet worden. Er selbst entging nur knapp dem Tod. Mit sieben Jahren wurde er wegen eines Verbrechens zum Tode verurteilt, von dem er nichts wusste. Es sei ihm unmöglich gewesen, über dieses Ereignis mit Erwachsenen zu sprechen, die es nicht glauben wollten. Er habe bereits im Alter von acht Jahren begriffen, dass er ganz allein damit zurechtkommen müsse, herauszufinden, was seine Eltern getötet und seine Kindheit zerstört hatte. Er habe Ordnung in diese Bilder bringen müssen, die seine Seele bedrückten: "Ich hatte das Gefühl, dass ich den Schrecken begreifen musste, um den Aggressor besser beherrschen zu können. Ich musste Wissenschaftler werden, um den Nazismus zu bekämpfen" (S. 21). Boris Cyrulnik geht der Frage nach, warum sich Menschen schwer tun mit dem Abwehren totalitärer Versuchungen. Dabei geht es ihm darum, seine eigenen Erfahrungen mit dem Faschismus mit neuropsychologischen Forschungsergebnissen zu verknüpfen und aktuelle gesellschaftliche Bezüge zu neoliberal und populistisch generierten ethischen und psychischen Deformationen und autoritären Verfasstheiten herzustellen.

Boris Cyrulnik (*1937 in Bordeaux) ist ein international anerkannter, französischer Neurologe, Psychiater und Ethologe, war Studiendirektor der Fakultät der Humanwissenschaften der Université du Sud-Toulon-Var, Inhaber des Lehrstuhls für Ethologie sowie Leiter einer Forschungsgruppe für klinische Ethologie am Krankenhaus von Toulon, Verfasser zahlreicher erfolgreicher Sachbücher.

In dem vorliegenden Band fasst Boris Cyrulnik seine über Jahrzehnte gereiften wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammen und analysiert anhand vieler Beispiele, wie ideologische Verblendungen und schwarz/weiß-Denken entstehen und was Menschen zu Mitläufern und Tätern macht, andere dagegen widerständig und selbstbewusst bleiben. Boris Cyrulnik sucht seine Erklärungen nicht mit der "Theorie des Monströsen", sondern in Anlehnung an Hannah Arendt und Viktor Frankl in der "Drift des Banalen". Er findet Ursachen bereits in der frühkindlichen Entwicklung, da Kinder auf binäre Kategorien wie "gut oder schlecht" und "richtig oder falsch" angewiesen seien, um sich ein Weltbild zu formen. Wenn sich dieses Denken im Laufe der Entwicklung nicht auflöse oder differenziere, reife es mit zunehmendem Alter zur Grundlage einer rigiden Weltanschauung.

Um einen reifen Grad an "innerer Freiheit" zu erreichen, müsse bereits in der Kindheit unser Wahrnehmungs - und Denkapparat "gut aufgestellt" werden. Dies gelinge besser ohne Gewalterfahrung und durch eine "Befreiung von Armut", da sensorische und sprachliche Armut oft mit sozialer Armut gekoppelt sei. Am Beispiel der Biografien von Nazi-Tätern wie Rudolf Höß, Josef Mengele und Adolf Eichmann kann Boris Cyrulnik belegen, wie durch fehlende Empathie oder Dominanz von Respektperson bereits in der Kindheit das Verlangen nach leitenden Autoritäten und unreflektiertem Konformismus entstehen kann: "Die emotionale Konnotation der Realitätswahrnehmung erwerben wir in der frühen Kindheit, wenn die sensorische Nische der ersten tausend Tage unsere Psyche mit einem Gefühl der Lebensfreude erfüllt, vorausgesetzt, die Nische ist stabil und strukturiert ... Wenn familiäres oder soziales Unglück die sensorische Nische ... haben verarmen lassen, nimmt das verunsicherte Kind alles, was aus der Außenwelt kommt, als Bedrohung wahr" (S. 77).

Man kann den Befunden von Boris Cyrulnik nur zustimmen: "Wenn man nicht selbstständig urteilen und entscheiden kann, empfindet man es als Erleichterung, sich jemandem zu unterwerfen, der für einen denkt. Wenn man sich auf der Schattenseite des Lebens wähnt, sucht man nach Gründen für das eigene Leid und findet einen Sündenbock, was das Unglück noch verschlimmert" (S. 103). Eigenständiges Denken, kritisches Hinterfragen und selbstbewusstes Handeln seien elementar für die Entwicklung von Resilienz gegen populistische und extreme Ideologien, gegen autoritäre Strukturen und totalitäre Versuchungen. Der Ursprung des Übels liege nicht im Subjekt, sondern sei bedingt durch die Affektivität des Umfeldes und der gesellschaftlichen Erzählungen. Zur Gestaltung der Umwelteinflüsse stünden verschiedene geeignete Instrumente zur Verfügung. Die Schaffung eines sicheren Umfeldes für das Aufwachsen der Kinder sei eine elementare Voraussetzung für diesen Prozess - ein wichtiger Hinweis für die aktuellen Diskussionen um eine Kindergrundsicherung und um die Schaffung einer sozialeren Durchlässigkeit des Bildungssystems.

Boris Cyrulnik bietet mit seinem Band nachdenkenswerte Analysen zu Ursachen, Wirkungen und Aspekten der Anfälligkeit von Menschen für populistische, autoritäre oder extremistische Gedankengänge und bietet viele Anregungen zur Selbstreflexion von scheinbar sicheren und unhinterfragten Gewissheiten und Meinungen (Doxa) und warnt vor Manipulationen. Der Band ist gut zu lesen und ist auch für interessierte "Laien" eine anregende und spannende Lektüre wegen der praxisnahen Darstellung.


Boris Cyrulnik
Die mit den Wölfen heulen
Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können
Droemer Verlag, März 2023
240 Seiten
24,00 EURO

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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 22. September 2023

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