Peter Brandt und Detlef Lehnert
Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
Von Klaus Ludwig Helf, September 2023
Die SPD als älteste und traditionsreichste Partei Deutschlands wurde im 19. Jahrhundert als Milieu- oder Klassenpartei der Arbeiterschaft gegründet, wirkte in mehreren politischen Systemen, war im Widerstand und Exil, drückte Oppositionsbänke und stellte Präsidenten, Kanzler und Ministerinnen und Minister. Sie durchlebte Hochs und Tiefs, Jubel und Erniedrigungen, Verbote und Verfolgung, Abspaltungen und Wiedervereinigungen. Sie war in ihrer Geschichte immer ein Motor und Stabilisator von Demokratie, Rechts- und Sozialstaat. Manchen war sie zuweilen zu moderat, angepasst, wenig visionär und revolutionär, anderen wiederum schien sie der 'Beelzebub' schlechthin zu sein. Der Historiker Peter Brandt und der Politikwissenschaftler Detlef Lehnert haben eine 'kurze Geschichte' dieser Partei von den Anfängen bis zur Bildung der 'Ampelkoalition' im Jahr 2021 veröffentlicht, ein ambitioniertes Unterfangen.
Nach dem Vorwort und einem Kapitel über die Grundlagen der Entstehung der deutschen Arbeiterbewegung folgen fünfzehn chronologisch geordnete Kapitel, Schlussbetrachtung, Kurzbiographien der Autoren und ein Personenregister. Die Autoren verzichten bewusst auf Fuß- oder Endnoten und auf ein Verzeichnis der "kaum noch überschaubaren" Literatur (das alles hätte man aber auch in eine Cloud packen können für die wissenschaftlich interessierte Leserschaft) und schreiben "sprachlich noch um einiges vereinfacht für ein breiteres Lesepublikum". Es ist ihnen vortrefflich gelungen, das Wechselbad der langen Geschichte der Partei, die großen Linien, Rahmenbedingungen, innerparteilichen Strömungen und Konflikte und Führungspersönlichkeiten kritisch-konstruktiv auf wissenschaftlicher Grundlage anschaulich, knapp, kurzweilig, gut lesbar und verständlich darzustellen.
Im Gegensatz zu dem verdienstvollen und weit verbreiteten und mehrfach erweiterten und aktualisierten Vorgängerband von Susanne Miller und Heinrich Potthoff ('Kleine Geschichte der SPD 1848 - 2002', 8. Auflage 2002!) analysieren die beiden Autoren Werden und Wirken der Partei weitaus kritischer und ernüchternder. Im Gegensatz zu manchen Pauschalurteilen habe sich nicht die Programmatik der SPD von den gesellschaftlichen Problemen abgekoppelt, sondern das Regierungshandeln häufig von den beschlossenen Grundsätzen entfernt - so die Autoren. Als besonders gravierende und nachwirkende Maßnahmen im ausgehenden 20. Jahrhundert nennen sie vor allem die sozialpolitischen Einschnitte durch 'Hartz IV', die Mehrwertsteuererhöhung und die 'Rente mit 67', ebenso die Schuldenbremse und die allgemeine Steuerpolitik. Spätestens seit Sommer 1999 sei die SPD politisch daran beteiligt gewesen, die Weichen in Wirtschaft und Gesellschaft in Richtung 'Neoliberalismus' zu stellen. Auch ein Politikstil, der sich auf die verstärkte Einflussnahme von externen Beratern und Medienexperten stützte und die politische Meinungsbildungsbildung in die Medienöffentlichkeit verlagerte statt in die Parteidiskussion hätten zu einer zunehmenden Entfremdung der SPD-Basis von ihrer Führung geführt.
Aktuell fehle der SPD ein "konzeptionelles Profil für die Zukunft der Partei". Wenn sie den fragilen Zuwachs bei der letzten Bundestagswahl von 2021 (25,7%) halten oder gar ausbauen wolle, müsse sie eine für die unteren und mittleren Sozialgruppen überzeugende Regierungspolitik betreiben sowie einen "deutlich erkennbaren politischen Markenkern prägen": "Dieser hieß in früheren erfolgreichen Regierungsjahren: Streben nach Frieden und sozialer Gerechtigkeit, Bildungsreformen und Demokratisierung auch von Wirtschaft und Gesellschaft" (S. 237/238). In den erfolgreichen 1970er Jahren sei es "selbstverständlich" gewesen, die praktische Regierungspolitik mit Geschichtsbewusstsein und programmatischen Debatten zu flankieren, was aber bei der Anpassung an den neoliberalen Zeitgeist verloren gegangen sei. Die selbstkritische Fehleranalyse nach der Bundestagswahl 2017 habe auch ergeben "wie dramatisch die SPD den Kontakt ins intellektuelle Milieu hat abreißen lassen" (S. 236).
Diesem nüchternen und zutreffenden Befund über den Zustand der SPD kann man kaum etwas entgegensetzen. Die zunehmende soziale Spaltung der Gesellschaft seit der Corona-Krise, ebenso das empirisch valide ermittelte Anwachsen der Politik- und Demokratieverdrossenheit und der 'gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit', die dramatische Wahlabstinenz gerade in sozialen Brennpunkten und das gleichzeitige Überspringen der 20%-Marke für die AfD machen deutlich, wie überlebenswichtig für die SPD selbst und auch für die demokratisch verfasste Gesellschaft eine deutliche Schärfung ihres sozialen Profils ist. Peter Brandt und Detlef Lehnert haben ein für die Gestaltung der weiteren Zukunft unserer Demokratie bedeutendes, anregendes und mahnendes Buch geschrieben, das sehr nachdenklich macht über die SPD, für die es im Rückblick auf ihre Geschichte und Tradition nur heißen kann: 'Back to the roots'!
Peter Brandt, Detlef Lehnert
Eine kurze Geschichte der deutschen Sozialdemokratie
Verlag J.H.W., Dietz Nachf.
260 Seiten
20,- Euro
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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 26. September 2023
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