Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer
Eine Biographie zur Rolle und Neubewertung des PCI-Generalsekretärs
von Gerhard Feldbauer, 17. Oktober 2023
Die bekannte linke Journalistin Chiara Valentini bringt sich mit ihrer Biographie über den "eigenartigen Genossen Enrico Berlinguer", die zu seinem 100. Geburtstag am 25. Mai 2022 in Deutsch erschien, in die Versuche von Kommunisten und Linken ein, seine Rolle - auch neu - zu bewerten. Die italienische Originalfassung erschien bereits 2014 bei Feltrinelli. Auf 480 Seiten legt die Autorin in 22 Kapiteln ihre Sicht auf seinen Lebensweg und seine Politik dar, die ihn 1972 zum Generalsekretär der stärksten Kommunistischen Partei der kapitalistischen Länder werden ließ. Ebenso auf sein Scheitern bei der von ihm schon im November 1971 auf einer ZK-Tagung verkündeten Suche nach einem Ausweg "aus der endemischen Krise der Regierungen des Linken Zentrums", um eine "Regierung der demokratischen Wende" zu bilden und die "Überwindung der Klassenschranken anzustreben". Das war zwei Jahre vor dem faschistischen Putsch in Chile, mit dem er dann seine dem Vorsitzenden der Democrazia Cristiana (DC) Aldo Moro in Form eines Compromesso storico vorgeschlagene Regierungszusammenarbeit begründete.
Die Autorin verhehlt nicht ihre Sympathie für Berlinguer und verteidigt ihn gegen Angriffe linker "Extremisten" wie auch "von rechts". Dabei trägt sie in ausgewogener Weise viel Wissenswertes zu der eingangs erwähnten Neubewertung bei, berichtet über bisher nicht oder kaum bekannte menschliche und politische Dimensionen und beschreibt Ideen, Leidenschaften, Fehler und Erfolge des großen europäischen Politikers vom Format eines Staatsmannes. Dazu gehört auch, dass es eine so für gewöhnlich dargestellte scharfe Konfrontation zwischen "Rechten" und "Linken" im PCI nicht gegeben habe und zum Beispiel das Verhältnis zwischen Berlinguer, Luigi Longo, Pietro Ingrao oder Giovanni Amendola vordergründig vom Streben nach der Einheit der Partei geprägt war. U. a. erfährt der Leser auch, dass Berlinguer bereits 1971 mit dem DC-Vorsitzenden Aldo Moro Gedanken über eine Annäherung beider Parteien austauschte.
Dass der so genannte Eurokommunismus, der grundlegende kommunistische Positionen in Frage stellte, wie sie schreibt, in Italien entstand, stimmt allerdings so nicht, denn seine Wurzeln liegen ebenso in den KPs Spaniens, Frankreichs und der Linkspartei Schwedens. Während Spaniens PCE unter dem späteren Sozialdemokraten Santiago Carillo kaum über Deklarationen hinauskam und der PCF unter George Marchais wieder auf Distanz ging, wurde Berlinguer allerdings, wie sie schreibt, zu seinem führenden Protagonisten.
Nachdem durch das Mordkomplott der CIA und italienischer Komplizen diese entscheidend von der reformistischen Fraktion im PCI bestimmte Regierungszusammenarbeit mit der DC zum Scheitern gebracht worden war, kündigte Berlinguer auf dem Parteitag im März 1979 die parlamentarische Regierungskoalition auf. Im Juni darauf waren die Wahlergebnisse des PCI zum ersten Mal nach Kriegsende rückläufig. Sie verlor gegenüber 1976 vier und bis 1987 acht Prozent ihrer Wähler, was bei Valentini unterbelichtet bleibt. Das betrifft auch den Enthauptungsschlag der Rechten gegen die Linke, bei dem Tausende, viele von ihnen, ohne sich eines Vergehens strafbar gemacht zu haben, in die Gefängnisse geworfen wurden. 100.000 Personen wurden von den polizeilichen Ermittlungen erfasst, 40.000 angeklagt und 15.000 verurteilt.
Dagegen hebt sie seine kritische Hinterfragung dieser in der Partei von Anfang an umstrittenen Periode hervor. Wie Giorgio Galli in seiner Storia del PCI (Mailand 1993) ist auch sie der Ansicht, dass Berlinguer den Weg der Revisionisten, die 1989/90 die IKP mehrheitlich in eine sozialdemokratische Linkspartei PDS umwandelten, nicht gegangen wäre. Davon zeugt, wie sie darlegt, dass er sich den sozialen Bewegungen zuwandte, vor allem dem Feminismus und der Friedensbewegung. Hatte er während der Regierungszusammenarbeit mit der DC Italiens NATO-Mitgliedschaft gebilligt, war er nun für ein blockfreies Italien. Entgegen dem Kurs der Revisionisten von der Abkehr zum Kommunismus trat er dafür ein, dass die Partei ihre Vergangenheit nicht verleugnen dürfe und vertrat eine "Verschiedenartigkeit" der Linken.
Gut bringt die Autorin die Atmosphäre nach dem Tod Berlinguers rüber, der am 7. Juni 1984, während er auf einer Wahlkundgebung seiner Partei in Padua sprach, einen Herzinfarkt erlitt und vier Tage später starb. An der Trauerfeier auf der Piazza San Giovanni in Rom, auf der er so oft gesprochen hatte, nahmen am 13. Juni über zwei Millionen Menschen teil, darunter Staatspräsident Pertini, alle weiteren höchsten Persönlichkeiten des Staates, der italienischen, internationalen Arbeiter- und nationalen Befreiungsbewegungen, die sein hohes Ansehen nicht nur in Italien, sondern weltweit bezeugten. Die tiefe Ergriffenheit, die sein Tod hervorrief, begünstigte den ersten Platz der IKP bei den EU-Wahlen vier Tage später. Entgegen dem Rückwärtstrend bei Parlamentswahlen erreichte sie mit 33,3 % noch einmal ihre Spitzenergebnisse von 1975/76, diesmal knapp vor der DC liegend, die mit 33 % den zweiten Rang belegte.
Der an sich schon hohe Informationsgehalt des Buches wird vertieft durch eine Chronologie der Ereignisse, in denen Berlinguers Wirken stand, ein Verzeichnis von 58 Personen mit Kurzbiographien, die in seinem politischen Leben eine Rolle spielten, sowie ein Personenregister mit annähernd 400 Namen. Ein wünschenswertes Literaturverzeichnis fehlt, so dass der Leser auf die in den 22 Kapiteln aufgeteilten rund 500 Fußnoten zurückgreifen muss.
Chiara Valentini: Der eigenartige Genosse Enrico Berlinguer. Kommunist
und Demokrat im Nachkriegseuropa. Dietz Verlag Bonn 2022, 408 S.,
32 Euro, ISBN 978-38012-0628-4.
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Quelle:
© 2023 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 20. Oktober 2023
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