Patrik Baab
Auf beiden Seiten der Front: Meine Reisen in die Ukraine
Von Klaus Ludwig Helf, Oktober 2023
Im Jahr 1919 veröffentlichte Upton Sinclair, weltbekannter Autor des Enthüllungsromans The Jungle (1906), eine kritische Reportage über den Mainstream-Journalismus in den USA. Sie steht in der Tradition der investigativen Journalisten, die der damalige US-Präsident Theodore Roosevelt respektvoll und zugleich abwertend als muckraker (Mistkratzer) bezeichnete. In The Brass Check - A Study of American Journalism untersuchte Sinclair die Analogie zwischen Journalismus und Prostitution. Er enthüllte mit vielen Beispielen bewusste Medienvertuschungen und Verbiegungen von Wahrheiten zur Unterstützung herrschender politischer und wirtschaftlicher Interessen und Institutionen und wurde deshalb einerseits wegen seiner scharfsinnigen und frappierenden Analysen geschätzt, andrerseits von Politik und Medien der Lüge bezichtigt, trotz seines literarischen Renommees ausgegrenzt und rief auch das FBI auf den Plan. Es sei "das wichtigste und gefährlichste Buch, das ich je geschrieben habe", so Sinclair, der auch heute noch für viele Journalistinnen und Journalisten auch in Deutschland Vorbild und Ansporn ist, Staatsorgane und Wirtschaftskonzerne in Demokratien zu kontrollieren. Beispielhaft seien Klaus Bednarz, Günter Wallraff, Hans Leyendecker und Ulrike Holler erwähnt. Der mediale Umgang mit dem Krieg in der Ukraine zeigt - wie auch schon zuvor bei der Corona-Pandemie -, dass der 'klassische Journalismus' der selbsternannten Leitmedien an kritischem Format und Glaubwürdigkeit stark eingebüßt hat und seiner Rolle als Wächter der Demokratie, als Aufklärer von Vernunft und Kritiker der vorherrschenden Meinungen kaum gerecht wird. Das hat Patrik Baab bereits in seinem Band über journalistisches Recherchieren deutlich herausgearbeitet und belegt und in einem 'Werkzeugkasten' bewährte praktische Handlungsweisen zusammengestellt (Link zur Rezension: http://www.schattenblick.de/infopool/buch/meinung/bumbe213.html).
Nun liegt der Reisebericht über seine Recherche-Ergebnisse und Erlebnisse auf beiden Seiten der Kriegsfront in der Ukraine vor. Er ist die beispielhafte und meisterhaft gelungene praktische Umsetzung seiner ambitiösen Anforderungen an einen investigativen Journalismus im Dienste der kritischen Aufklärung - mit streitbarer Interventionslust gegen 'herrschende Meinungen' und elaborierter Sensibilität gegenüber dem 'Sprachlosen, Nichtgesagten' und dem Dazwischenliegenden. Patrik Baab schildert plastisch und drastisch die mannigfachen Herausforderungen und Probleme eines Journalisten vor Ort und mittendrin, sei es in Moskau, Kiew, Lemberg, in den Grenzregionen oder in den unmittelbaren Kriegsgebieten. Zeitgleich wurde er aus seiner Heimat massiv angefeindet und diskreditiert u.a. auch von der Staatsschutzabteilung und musste sich gegen die massiven und diffamierenden medialen Attacken als unabhängiger Rechercheur wehren, der bemüht ist, sich ein differenziertes, abgewogenes und multiperspektivisches Gesamtbild der Kriegssituation zu erarbeiten. Wie der vorliegende Band zeigt, führte Patrik Baab viele Gespräche und Interviews mit den unterschiedlichsten Personen auf beiden Seiten der Front, machte sich ein eigenständiges Gesamtbild von der Situation vor Ort und glich seine Ergebnisse mit anderen Berichten, Quellen und Analysen ab: "Dieses Buch zeigt die verborgene, die dreckige Seite dieses Krieges, wie sie auf den rotgoldenen Feldern der Ukraine sichtbar wird. Die Felder, auf denen Blut billig ist, wie Michail Bulgakow schrieb, und auf denen seit Generationen niemand dafür bezahlt" (S. 11).
Patrik Baab ist Politikwissenschaftler, Journalist und Publizist, hat u.a. mitgewirkt an den ARD-Filmen über den Tod von Uwe Barschel, veröffentlichte zusammen mit Robert E. Harkavy den Band: "Im Spinnennetz der Geheimdienste - Warum wurden Olof Palme, Uwe Barschel und William Colby ermordet?" (2017) und "Recherchieren. Ein Werkzeugkasten zur Kritik der herrschenden Meinung" (2022). Er berichtete u.a. aus Russland, Großbritannien, Polen, Afghanistan, dem Balkan und dem Baltikum und hatte bei seinen Recherchen mehrfach Probleme mit dem russischen Geheimdienst und der Staatsschutzabteilung des Bundesinnenministeriums. Er bereiste den Westen der Ukraine vor Beginn des Krieges, den Osten nach dem Einmarsch russischer Truppen.
Am Anfang des Bandes stehen Egon Erwin Kischs Überlegungen zur wissenschaftlichen und überprüfbaren Wahrheit als Maxime für die Arbeit eines Reporters. Es folgen Vorwort, sechs Reise-Kapitel und Dank. Die umfangreichen Anmerkungen und Quellenangaben sind in der Cloud des Westend-Verlags geparkt und abrufbar. Das Buch beginnt mit einer bedrohlichen Situation am Grenzposten Tschonhar, wo der Autor mit seinem begleitenden Fahrer Sergey aufgegriffen und in den 'Käfig' gesperrt wird. Beide werden am 28. September 2022 im Niemandsland zwischen der russisch besetzten Oblast Cherson in der Ukraine und den Sywasch-Sümpfen auf der Krim 'filtriert', wo bereits mehrere Männer aus der Ukraine auf ein Weiterkommen hoffen: "Der 'Käfig', das ist ein acht mal zehn Meter großer Verschlag aus Eisengittern. Beim Blick in den Himmel über der Krim sehen wir durch die Metallstäbe. Wie die anderen Gefangenen müssen wir stehen, dürfen nicht reden. Es gibt kein Wasser, keine Gelegenheit, die Notruf zu verrichten. Nur stehen und warten. Warten und den Mund halten. Warten auf das Verhör" (S. 9). Sie kommen aber weiter auf ihrer Reise und werden immer wieder mit angenehmen und auch dramatischen Erlebnissen und Begegnungen überrascht, sogar mit einem Granatbeschuss ihres Hotels. Patrik Baab schildert die Schicksale und Einschätzungen von Arbeitern, Bauern, Taxifahrerinnen, Soldaten und Zivilpersonen, befragt hochrangige Militärs und Politikberater auf beiden Seiten der Front, denn für ihn bedeutet journalistisches Recherchieren "konkrete Erfahrungswissenschaft". Einfühlsam und präzise beobachtet Patrik Baab das Dramaturgietheater auf einem belebten Spielplatz nach einem Feuersturm: "Es liegt ein Schleier über diesem Ort: kein Kind lacht. Sie alle schweigen. Ihre Augen schauen beim Spiel ins Leere. In der Dunkelkammer ihrer Seele wütet der Krieg weiter. Ein Leben lang schauen diese Kinder in ihren Träumen dem Tod zu, wie er seine Arbeit macht. Wenn der Krieg die Fortsetzung des Freihandels mit anderen Mitteln ist, was ist dann noch ein Menschenleben wert?" (S. 200). Dieser Krieg ist eine Tragödie, bei der die Menschen in der Ukraine die ersten Opfer sind - als Gefallene, Verstümmelte, Vertriebene, Gefolterte, Flüchtlinge: "Mariupol ist ein Menetekel des Krieges im digitalen Zeitalter. Auf beiden Seiten nehmen die Militärs Tausende Opfer unter der Zivilbevölkerung bewusst in Kauf. Der Staat überträgt sein Gewaltmonopol in die Hände von Milizen, Söldnern und Banden. Der Krieg wird privatisiert und kommerzialisiert. Begleitet wird das Kampfgeschehen von massiven Propagandaschlachten. Massaker werden zu Propagandazwecken ausgenutzt" (S. 199).
Bei der aufmerksamen Lektüre des Bandes wird klar, dass es sich um einen geostrategisch angelegten 'Stellvertreterkrieg' handelt , der von Russland begonnen, von der NATO provoziert wurde. Das wird in den westlichen Leitmedien und in der veröffentlichten Meinung insgesamt weitgehend verschwiegen, wie Patrik Baab mit Recht und großem Nachdruck betont. Der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, hat dies im September in seiner Rede vor einem gemeinsamen Ausschuss des Europäischen Parlaments sogar ausdrücklich eingeräumt. Doch auch Putin machte fatale Fehler bei seinem Angriff, so Baab: "Ein Autokrat im Kreml glaubte, Kiew im Handstreich nehmen zu können. Doch Putin hat sich beim Einmarsch in die Ukraine verrechnet: er dachte wohl, wir treten ihnen die Tür ein, dann fällt das ganze Haus zusammen" (S. 241). Für die Zukunft der Region sieht Patrick Baab schwarz: In einem langen Bürgerkrieg werde die Rest-Ukraine weiter zerfallen, ihre Ressourcen (schwarze Erde, Gas und Kohle) geraten in die Regie von internationalen Investoren, finanziell ruiniert und politisch und wirtschaftlich abhängig von den USA und der EU. Moskau werde - so Baab - als 'Pyrrhussieger' vom Platz gehen, Verlierer im internationalen Propagandakrieg, abgehängt von den westlichen Industriestaaten und wirtschaftlich auf die Hilfe von China angewiesen sein z. B. in der Digitaltechnik: "Gewinner dieses großen Spiels sind die USA und China. Zwischen ihnen wird sich eine neue Pattsituation ergeben. Sie führen den Kampf des räuberischen Neoliberalismus gegen den autokratischen Kapitalismus fort" (S. 253).
Die geostrategische Situation sei zurzeit höchst dramatisch wegen der Gefahr eines Nuklearkriegs mitten in Europa, da es keine geeigneten Kommunikationskanäle zwischen den atomaren Großmächten gebe. Dies sei zu Zeiten von Richard Nixon und Henry Kissinger anders gewesen. Diese hätten "das Dreieck Washington - Moskau - Peking so geschickt gesteuert, dass über Jahre die Vereinigten Staaten ein engeres Verhältnis sowohl zu China als auch zu Russland hatten als die beiden Länder untereinander. Dies nennt man Diplomatie" (S. 242). Deutschland und vor allem die EU sollten daher schleunigst eine eigenständige und selbstbewusste Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, um nicht im Sog der Großmächte vor allem der USA unterzugehen. Patrik Baab hat ein großartiges Buch geschrieben, das wohltuend differenziert, multiperspektivisch und quellensicher gegen den stromlinienförmigen und einseitigen Mainstream der selbsternannten Leitmedien argumentiert, lebensnah die Krisengebiete schildert und gut und verständlich lesbar ist. Man mag nicht mit allen Einschätzungen auf der Linie des Autors liegen, aber Anregungen zum verschärften Nachdenken gibt es reichlich.
Patrik Baab
Auf beiden Seiten der Front: Meine Reisen in die Ukraine
Verlag fifty-fifty, Frankfurt/Main 2023
256 Seiten
24 Euro
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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 27. Oktober 2023
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