Michael Lüders
Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten vertragen
Von Klaus Ludwig Helf, November 2023
Zeit seines Lebens war der Schweizer Schriftsteller Max Frisch (1911-1991) ein Suchender und galt als kritische Instanz in Fragen moralischer und ethischer Verantwortung. In seinen literarischen Tagebüchern stellte Max Frisch moralische Grundsatzfragen zu relevanten Themen, die die Menschen bewegen. Dazu hatte er auch einen "Fragebogen" entwickelt und kam zu dem Fazit: "Es sind immer die Moralisten, die das meiste Unheil anrichten." Für den Soziologen Luhmann liegt das daran, dass Moral ein binärer Code sei, der nur zwischen gut und schlecht unterscheide und alles, was im Operationsbereich dieses Codes thematisiert werde, sich entweder auf den positiven oder den negativen Wert beziehe und es kein Dazwischen oder Grautöne gebe. Die Soziologin Julia Mourão Permoser stellte in ihren Forschungen über Migration fest, dass Politikerinnen und Politiker in Deutschland (nicht nur im "rechten" Spektrum) seit einigen Jahren strategisch bewusst und gezielt gesellschaftliche Streitfragen moralisch und damit auch emotional aufladen, um Erfolge und Zulauf zu erzielen. Die Wahl zwischen nur zwei Optionen - richtig oder falsch - führe aber zu Polarisierungen statt zu Kompromissen und konsensualen Entscheidungen und gefährde die Stabilität und Legitimität einer demokratisch verfassten, liberalen Gesellschaft.
Michael Lüders zitiert in seinem aktuellen Band über Werte und Moral in der Politik u.a. auch Egon Bahr, den Vordenker der Ostpolitik von Willy Brandt: "Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen." Der Krieg in der Ukraine ist zwar nicht das Hauptthema des vorliegenden Bandes, zieht sich aber wie ein roter Faden durch fast alle Kapitel und bildet sozusagen die Matrix für die argumentative und kritische Auseinandersetzung mit einer als moral- und werteorientiert apostrophierten Politik der aktuellen Bundesregierung.
Michael Lüders ist Politik- und Islamwissenschaftler, arbeitet als Publizist und Politik- und Wirtschaftsberater, war lange Jahre Nahost-Korrespondent der DIE ZEIT und berichtete aus Afghanistan; 2015 bis 2022 war er Präsident der Deutsch-Arabischen Gesellschaft, Beiratsmitglied und stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Orient-Stiftung; er verfasste Hörspiele und produzierte Dokumentarfilme über Afghanistan und Ägypten und veröffentlichte zahlreiche Publikationen zuletzt Hybris am Hindukusch. Wie der Westen in Afghanistan scheiterte (2022).
"Der Moralismus ist das Schwert der Unvernunft, das die Welt in Gut und Böse teilt" (S. 11). So beginnt das Vorwort des vorliegenden Bandes, dem weitere sieben Kapitel, ein Ausblick und die Anmerkungen folgen. Der Autor analysiert mit quellensicherem Sachverstand und kritischem Blick anhand vieler Beispiele aus der Weltpolitik, warum sich Werte/Moral und nationale Interessen "selten vertragen". Um was geht es in diesem Buch: "Woher aber kommt diese merkwürdige Ideologie eines deutschen Gutmenschentums? Was sind ihre weltanschaulichen Wurzeln? Wie konnte die Moral Einzug halten in die Politik? Wie ist zu erklären, dass insbesondere die Grünen Bellizismus mit Werteorientierung verwechseln? Welche Rolle spielt in dem Zusammenhang 'Identitätspolitik'?" (S. 13). Der Autor spannt bei seiner Analyse einen weiten Bogen vom Drama um die PCK-Raffinerie in Schwedt über die seltsam widersprüchlich-ambivalente "moralische" Politik gegenüber Katar und den Scheichs, über Moralismus in der Politik als Legitimation staatlichen Handelns, über Identitätspolitik als "Schwert der Moral" bis zum völkerrechtswidrigen NATO-Einsatz im Kosovo, über die systematisch betriebene NATO-Osterweiterung bis zum Konflikt um Taiwan. Ausgewertet werden Denker und Analysten wie Machiavelli (Trennung von Politik und Moral), Ibn Khaldun (arabischer Universalgelehrter), Max Weber (Verantwortungs- und Gesinnungsethik), Norbert Bolz (Keine Macht der Moral. Politik jenseits von Gut und Böse), Timothy Snyder, Zbigniew Brzezinski (Dominanz der USA auf dem großen Schachbrett Eurasiens), Paul Wolfowitz, Robert Gates, George F. Kennan, George Friedman, Henry Kissinger und Egon Bahr.
Michael Lüder vertritt die durchaus nachvollziehbare These, dass die Rückkehr der Moral in die Politik einerseits Halt und Leitplanke in unsicheren Zeiten anbiete. Gleichzeitig habe Moralismus wegen seiner Absolutheitsansprüche und Ausgrenzung totalitäre Politik zur Folge. Moralisierung in Staat und Gesellschaft sei gleichbedeutend mit "betreutem Denken": "Das Ergebnis ist Anpassung, ein nivellierender Mainstream, der Gesinnung über Sachkenntnis oder Inhalte stellt und Abweichung ahndet. Bevorzugt mit Status- und Karriereverlust. Im Vordergrund steht der emotionale Reflex, das verinnerlichte Wissen um Gut und Böse. Nicht Fakten oder Analyse sind gefragt, sondern Gefühlskino" (S. 100/101). Moral werde zur Keule, die Meinungsfreiheit zur Bejahung des Status quo. Sachlich fundierter Austausch von Argumenten, differenzierte Beurteilungen, kritisch abwägende Analysen und Kontroversen und ethische Diskurse verkümmerten. Verstärkt würden diese Tendenzen insbesondere durch die Sozialen Medien mit ihrer "Instagramisierung" der öffentlichen Meinung (Meinungs- und Urteilsfindungen im Minutentakt statt diskursivem Austausch) und durch das einseitige Informations- und Meinungsmanagement der selbsternannten Leitmedien.
Ursachen und Auswirkungen dieser strategischen Moralisierung von Politik schildert Michael Lüders anschaulich und differenziert am Beispiel der Ukraine-Politik. Die Aufkündigung der jahrzehntelangen, zuverlässigen und für die deutsche Wirtschaft kostengünstigen Energie- und Rohstoffpartnerschaft mit Russland sei "fatal" - so die zentrale These von Michael Lüders - : "Das eigene Land in nicht geringen Teilen auf dem Altar des Moralismus zu opfern, weit über die gebotene Solidarität mit der Ukraine hinaus, ist keine Politik, sondern ein Offenbarungseid. Die Entschlossenheit, mit der Brüssel wie auch Berlin den Cut mit Russland zu vollziehen suchen, führt zu neuen Abhängigkeiten, namentlich von den USA" (S. 13). Bezahlbarer Ersatz für die Energie und Rohstoffe sei auf absehbare Zeit nicht in Sicht, teures Fracking-Gas werde jetzt u.a. aus den USA importiert. Wirtschaftsminister Robert Habeck nehme eine vorsätzliche und bewusste Zerstörung des eigenen Wohlstandes durch die Folgen der Sanktionen für Wirtschaft, Verbraucher und Konsumenten billigend in Kauf (u.a. höhere Energiepreise, Inflation, Abwandern der Industrie, Abbau des Sozialstaates zugunsten von militärischer Aufrüstung). Statt nationale Interessen zu priorisieren "... gefielen sich Politik wie auch Medien in einem alles überragenden Moralismus, einem entfesselten Gutmenschentum, das sich anschickte, dem Bösen in der Welt den entscheidenden Dolchstoß zu versetzen. Ohne Rücksicht auf die Folgen für Deutschland" (S. 12). Die Welt sortiere sich neu und werde multipolar sein - so Michael Lüders - aber weder Berlin noch Brüssel hätten die Zeichen der Zeit erkannt, dass sie nur noch eine untergeordnete Rolle als "geostrategische Verfügungsmasse" und als "nützliche Idioten" spielen werden.
Die große Tragik der Deutschen bestünde darin, dass sie in ihrer großen Mehrheit subjektiv davon überzeugt seien, dass es tatsächlich eine Wertegemeinschaft mit den USA gebe. Diese fürchteten aber nach George Kennan einen Schulterschluss Deutschlands mit Russland. Sie strebten - so Lüders - ohne Rücksichtnahme auf Verbündete eine hegemoniale Weltmachtstellung an und verfolgten dabei geostrategisch-politische, wirtschaftliche und militärische Ziele: 1. Dauerhafte Schwächung Russlands 2. Etablierung eines US-konformen Regimes in Kiew 3. Enge Anbindung der EU und der Nato an die USA und 4. Verhinderung einer Dominanz Deutschlands in Europa. Der politische und wirtschaftliche Bedeutungsverlust Deutschlands sei wesentlich selbstverschuldet durch unreflektierte USA-Hörigkeit. Zu Recht weist Michael Lüders daraufhin, dass es ein schwerwiegendes Versäumnis europäischer wie deutscher Politik gewesen sei, auf die Schaffung einer eigenständigen Sicherheitsarchitektur in Europa unter Einbeziehung Russlands zu verzichten: "Die Tragik der Deutschen erweitert sich ... zu einer Tragödie. Sie möchten im Ukraine-Krieg unbedingt auf der richtigen Seite stehen, jener der Guten, begreifen aber nicht, dass diese Seite nicht die der USA sein kann. 'Das Gute' kann nur darin bestehen, den Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Dafür braucht es Verhandlungen und Friedensgespräche" (S. 187).
Michael Lüders schlägt eine "Rückbesinnung auf nationale Interessen" in Kooperation mit Frankreich vor, da die Sanktionspolitik gegenüber Russland die deutsche Wirtschaft und das Sozialgefüge erheblich beeinträchtigen könnte. Im Namen falsch verstandener und instrumentalisierter Moral würde diese als ein ideologisches Instrument missbraucht, um in diesem Falle geopolitische hegemoniale Interessen der USA zu exekutieren: "Moralpolitik ist eine gefährliche Ideologie, die das Unglück auf Kosten der Schwächeren und Schwächsten verwaltet. Sie riskiert die wirtschaftliche Selbstzerstörung, macht sich außen- und sicherheitspolitisch abhängig von den USA und karikiert sich selbst" (S. 117).
Michael Lüders gelingt mit seinem Buch eine überaus scharfsinnige, kluge und sachlich-fundierte Kritik an der aktuell in Deutschland vorherrschenden Moralisierung politischer Entscheidungen, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Gerade hier sei es vernünftig und ratsam, das mühsame Geschäft des Austarierens von unterschiedlichen und auch konträren Interessen aller Beteiligten zu betreiben, ohne über Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen und Wirtschaftsinteressen absolut zu setzen. Es bedarf auch der Kompetenz und Empathie, andere Länder im Rahmen ihrer eigenen spezifischen historischen und gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Interessen einzuschätzen und zu verstehen.
Michael Lüders
Moral über alles? Warum sich Werte und nationale Interessen selten
vertragen
Wilhelm Goldmann Verlag, München 2023
256 Seiten
18,00 EURO
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Quelle:
© 2023 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 7. November 2023
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